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Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Erstes Vierteljahr.

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Offensive von vornherein beeinflussen müßte. Diese Landesteile sind sehr
fruchtbar und wohl angebaut. Westlich vom Bug und bis zum Dujepr aber
werden die mittlern Gouvernements durch das unwirtliche und für militärische
Operationen völlig ungeeignete Gebiet des Pripet mit seinen Flußarmen,
Morästen und Wäldern eingenommen. Im Süden der Nvkitnosümpfe bis zur
galizischen Grenze und östlich bis zum Dujepr liegt wieder stark bevölkertes
und gut angebautes Land, das die Kriegführung erleichtert, im Norden da¬
gegen und bis zur preußischen Grenze erschweren abermals Wasserlünfe mit
Moorland zu beiden Seiten und ausgedehnten Waldungen jede Bewegung
größerer Truppenmassen. Diesen Verhältnissen ist das russische Befestignugs-
system im Westen angepaßt, zu dem wir uns nun wenden wollen. Zuvor
jedoch einige allgemeine Bemerkungen, die wir den Äußerungen höherer preußischer
Offiziere entnehmen.

Oberst Blume sagt in seiner "Strategie," wo er die Festungen in zwei
Kategorien einteilt, in solche, die lediglich den Gegner von einer Örtlichkeit
und deren nächster Umgebung fernhalten sollen, und in solche, die gleichzeitig
oder ausschließlich bestimmt sind, Streitkräften Schutz und Zuflucht zu gewähren,
deren Aufgaben außerhalb des Bereichs der Festungsgeschütze liegen: "Die stra¬
tegischen Zwecke, denen Festungen dienen sollen, können folgende sein: Schutz
bedeutender Städte, Schutz von Depots und Etappen, Vertheidigung von Eisen¬
bahnen, Gebirgsstraßen und Flußübergäugen, Rückhalt für die Vertheidigung
eines Nebcnkriegsschauplatzes, Schutz gegen Verfolgung, Herstellung eines An¬
lehnungspunktes für die Truppen im Felde und Wirksamkeit im Rücken des
angriffsweise vorgegangenen Feindes . . . Wir müssen indes davor warnen,
für die Sicherheit des Vaterlandes zu viel von der Befestigungskunst zu er¬
warten, dem Schilde mehr wie dem Schwerte zu vertrauen." Ein andrer
Militärschriftsteller, Major Scheibert, urteilt in seinem Buche "Die Befestigungs-
kunst und die Lehre vom Kampfe": "Nur Eisenbahnsperren sind des Angriffes
wert, da Eisenbahnen die Lebensadern der heutigen Armeen sind. Festungen
halten den feindlichen Angriff nur da zeitlich auf, wo deren Umgehung dnrch
Dampfkraft mehr Zeit beansprucht, als die Existenzsicherheit der vvrbei-
marschirenden Armeen dies erfordert. Festungen in ihrer heutigen, ihren Wert
meist überragender räumlichen Ausdehnung, die hier und da eine übergroße
Zahl vou Vertheidigern verlangt, thun der feindlichen Wehrkraft keinen, aber
der eignen großen Abbruch. Sie haben die Bedeutung, die sie einst als
Depvtplütze besaßen, jetzt nicht mehr. Die Organisation des Bahndienstcs hat
diese Funktion übernommen. Ist die eigne Armee offensiv, so sind Depotplätze
überflüssig, ist sie unglücklich, so zernirt der Feind die Depvtplütze, und sie
werden wertlos. Festungen erfüllen ihre frühere Aufgabe heutzutage uur noch
unvollkommen. Sie schützen nicht mehr die Grenze, nicht mehr gegen das
Vordringen des Feindes im Innern des Landes, nicht mehr die großen Armee-


Offensive von vornherein beeinflussen müßte. Diese Landesteile sind sehr
fruchtbar und wohl angebaut. Westlich vom Bug und bis zum Dujepr aber
werden die mittlern Gouvernements durch das unwirtliche und für militärische
Operationen völlig ungeeignete Gebiet des Pripet mit seinen Flußarmen,
Morästen und Wäldern eingenommen. Im Süden der Nvkitnosümpfe bis zur
galizischen Grenze und östlich bis zum Dujepr liegt wieder stark bevölkertes
und gut angebautes Land, das die Kriegführung erleichtert, im Norden da¬
gegen und bis zur preußischen Grenze erschweren abermals Wasserlünfe mit
Moorland zu beiden Seiten und ausgedehnten Waldungen jede Bewegung
größerer Truppenmassen. Diesen Verhältnissen ist das russische Befestignugs-
system im Westen angepaßt, zu dem wir uns nun wenden wollen. Zuvor
jedoch einige allgemeine Bemerkungen, die wir den Äußerungen höherer preußischer
Offiziere entnehmen.

Oberst Blume sagt in seiner „Strategie," wo er die Festungen in zwei
Kategorien einteilt, in solche, die lediglich den Gegner von einer Örtlichkeit
und deren nächster Umgebung fernhalten sollen, und in solche, die gleichzeitig
oder ausschließlich bestimmt sind, Streitkräften Schutz und Zuflucht zu gewähren,
deren Aufgaben außerhalb des Bereichs der Festungsgeschütze liegen: „Die stra¬
tegischen Zwecke, denen Festungen dienen sollen, können folgende sein: Schutz
bedeutender Städte, Schutz von Depots und Etappen, Vertheidigung von Eisen¬
bahnen, Gebirgsstraßen und Flußübergäugen, Rückhalt für die Vertheidigung
eines Nebcnkriegsschauplatzes, Schutz gegen Verfolgung, Herstellung eines An¬
lehnungspunktes für die Truppen im Felde und Wirksamkeit im Rücken des
angriffsweise vorgegangenen Feindes . . . Wir müssen indes davor warnen,
für die Sicherheit des Vaterlandes zu viel von der Befestigungskunst zu er¬
warten, dem Schilde mehr wie dem Schwerte zu vertrauen." Ein andrer
Militärschriftsteller, Major Scheibert, urteilt in seinem Buche „Die Befestigungs-
kunst und die Lehre vom Kampfe": „Nur Eisenbahnsperren sind des Angriffes
wert, da Eisenbahnen die Lebensadern der heutigen Armeen sind. Festungen
halten den feindlichen Angriff nur da zeitlich auf, wo deren Umgehung dnrch
Dampfkraft mehr Zeit beansprucht, als die Existenzsicherheit der vvrbei-
marschirenden Armeen dies erfordert. Festungen in ihrer heutigen, ihren Wert
meist überragender räumlichen Ausdehnung, die hier und da eine übergroße
Zahl vou Vertheidigern verlangt, thun der feindlichen Wehrkraft keinen, aber
der eignen großen Abbruch. Sie haben die Bedeutung, die sie einst als
Depvtplütze besaßen, jetzt nicht mehr. Die Organisation des Bahndienstcs hat
diese Funktion übernommen. Ist die eigne Armee offensiv, so sind Depotplätze
überflüssig, ist sie unglücklich, so zernirt der Feind die Depvtplütze, und sie
werden wertlos. Festungen erfüllen ihre frühere Aufgabe heutzutage uur noch
unvollkommen. Sie schützen nicht mehr die Grenze, nicht mehr gegen das
Vordringen des Feindes im Innern des Landes, nicht mehr die großen Armee-


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[0501] Offensive von vornherein beeinflussen müßte. Diese Landesteile sind sehr fruchtbar und wohl angebaut. Westlich vom Bug und bis zum Dujepr aber werden die mittlern Gouvernements durch das unwirtliche und für militärische Operationen völlig ungeeignete Gebiet des Pripet mit seinen Flußarmen, Morästen und Wäldern eingenommen. Im Süden der Nvkitnosümpfe bis zur galizischen Grenze und östlich bis zum Dujepr liegt wieder stark bevölkertes und gut angebautes Land, das die Kriegführung erleichtert, im Norden da¬ gegen und bis zur preußischen Grenze erschweren abermals Wasserlünfe mit Moorland zu beiden Seiten und ausgedehnten Waldungen jede Bewegung größerer Truppenmassen. Diesen Verhältnissen ist das russische Befestignugs- system im Westen angepaßt, zu dem wir uns nun wenden wollen. Zuvor jedoch einige allgemeine Bemerkungen, die wir den Äußerungen höherer preußischer Offiziere entnehmen. Oberst Blume sagt in seiner „Strategie," wo er die Festungen in zwei Kategorien einteilt, in solche, die lediglich den Gegner von einer Örtlichkeit und deren nächster Umgebung fernhalten sollen, und in solche, die gleichzeitig oder ausschließlich bestimmt sind, Streitkräften Schutz und Zuflucht zu gewähren, deren Aufgaben außerhalb des Bereichs der Festungsgeschütze liegen: „Die stra¬ tegischen Zwecke, denen Festungen dienen sollen, können folgende sein: Schutz bedeutender Städte, Schutz von Depots und Etappen, Vertheidigung von Eisen¬ bahnen, Gebirgsstraßen und Flußübergäugen, Rückhalt für die Vertheidigung eines Nebcnkriegsschauplatzes, Schutz gegen Verfolgung, Herstellung eines An¬ lehnungspunktes für die Truppen im Felde und Wirksamkeit im Rücken des angriffsweise vorgegangenen Feindes . . . Wir müssen indes davor warnen, für die Sicherheit des Vaterlandes zu viel von der Befestigungskunst zu er¬ warten, dem Schilde mehr wie dem Schwerte zu vertrauen." Ein andrer Militärschriftsteller, Major Scheibert, urteilt in seinem Buche „Die Befestigungs- kunst und die Lehre vom Kampfe": „Nur Eisenbahnsperren sind des Angriffes wert, da Eisenbahnen die Lebensadern der heutigen Armeen sind. Festungen halten den feindlichen Angriff nur da zeitlich auf, wo deren Umgehung dnrch Dampfkraft mehr Zeit beansprucht, als die Existenzsicherheit der vvrbei- marschirenden Armeen dies erfordert. Festungen in ihrer heutigen, ihren Wert meist überragender räumlichen Ausdehnung, die hier und da eine übergroße Zahl vou Vertheidigern verlangt, thun der feindlichen Wehrkraft keinen, aber der eignen großen Abbruch. Sie haben die Bedeutung, die sie einst als Depvtplütze besaßen, jetzt nicht mehr. Die Organisation des Bahndienstcs hat diese Funktion übernommen. Ist die eigne Armee offensiv, so sind Depotplätze überflüssig, ist sie unglücklich, so zernirt der Feind die Depvtplütze, und sie werden wertlos. Festungen erfüllen ihre frühere Aufgabe heutzutage uur noch unvollkommen. Sie schützen nicht mehr die Grenze, nicht mehr gegen das Vordringen des Feindes im Innern des Landes, nicht mehr die großen Armee-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341849_204088/501>, abgerufen am 29.06.2024.