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Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Erstes Vierteljahr.

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noch nicht eingestellt sind, während in Deutschland nichts derart zu bemerken
ist, erlauben, ja gebieten uns doch, den Russen zu empfehlen, mit seiner
Beachtung den Anfang zu macheu.

Das Verhältnis Österreichs zu Rußland ist notwendig ein andres, als
das von Deutschland. Die österreichische Politik verfolgt auf der Balkan-
Halbinsel andre Ziele als die russische. Die russische ist hier revolutionär, sie
will erobern, mindestens machtgebenden Einfluß auf Bulgarien und andre
Kleinstaaten dieser Gegend Europas gewinnen, die österreichische dagegen ist
konservativ, sie will die Türkei und jene Kleinstaaten in dem Zustande erhalten
wissen, in den sie der Berliner Kongreß versetzt hat. Der freie Verkehr auf
der untern Donau und die Verbindung mit dem Schwarzen Meere, Lebens¬
fragen für Österreich, werden schwer gefährdet, wenn Rußlands Bestreben, hier
mittelbar oder unmittelbar Herrschaft zu gewinnen, Erfolge erzielt. Sein
Einfluß hat seit dem Berliner Kongreß durch die Trennung Bulgariens,
Serbiens und Rumäniens von ihm wesentlich abgenommen, und in den beiden
letzten Staaten hat der österreichische sich gesteigert. Es ist nur natürlich,
wenn Nußland seinen Verlust wieder einzubringen versucht, und gewiß
scheint, daß es, wenn dies ans diplomatischem Wege nicht gelingt, zur
Anwendung von Waffengewalt schreiten wird. Dazu drängt, daß es den
gegenwärtigen Stand seiner Rüstungen für diesen Zweck aus finanziellen
Gründen nicht lange mehr aufrecht erhalten kaun; anderseits warnt davor
das deutsch-österreichische Bündnis, das sofort in Kraft treten soll, wenn einer
der Verbündeten von Rußland angegriffen oder einem andern Angreifer eines
derselben durch militärische Maßregeln von ihm Hilfe geleistet wird. Der
Vertrag schließt eine Offensive beider Bundesgenossen gegen Nußland ganz
aus und macht eine solche von selten eines derselben unwahrscheinlich. Aber
auch Rußland wird nicht allein zum Angriff schreiten, da es in diesem Falle
keine Aussicht auf Erfolg haben würde, weil es dann beide Bundesgenossen
sich gegenüber sähe. Es wird mit andern Worten nur mit einem gesicherten
Bündnis den Krieg mit seinen beiden westlichen Nachbarn wagen, und sein
Verbündeter könnte nur Frankreich sein.

Sehen wir uns nun die Grenze zwischen Rußland und Deutschland eines¬
teils sowie zwischen Nußland und Österreich-Ungarn andernteils an. Sie trägt
im allgemeinen den Charakter einer politischen Grenze. Zwar bilden vielfach
Flußläufe, Seelinien und Sumpfstrecken eine natürliche Grenze, aber nirgends
militärisch wichtige Abschnitte, die den anliegenden Gebieten diesseits und jen¬
seits Sicherheit böten. Die Grenze ist also an sich eine offene. Zwischen
dein 50. und 54. Breitengrade schieben sich die westlichen Gouvernements
Rußlands zwischen die östlichen Provinzen Preußens und Österreichs wie ein
Keil hinein, und die russische Grenze ist von Berlin nur 300 Kilometer ent¬
fernt -- eine natürliche Offensivposition, welche die Maßregeln einer deutschen


noch nicht eingestellt sind, während in Deutschland nichts derart zu bemerken
ist, erlauben, ja gebieten uns doch, den Russen zu empfehlen, mit seiner
Beachtung den Anfang zu macheu.

Das Verhältnis Österreichs zu Rußland ist notwendig ein andres, als
das von Deutschland. Die österreichische Politik verfolgt auf der Balkan-
Halbinsel andre Ziele als die russische. Die russische ist hier revolutionär, sie
will erobern, mindestens machtgebenden Einfluß auf Bulgarien und andre
Kleinstaaten dieser Gegend Europas gewinnen, die österreichische dagegen ist
konservativ, sie will die Türkei und jene Kleinstaaten in dem Zustande erhalten
wissen, in den sie der Berliner Kongreß versetzt hat. Der freie Verkehr auf
der untern Donau und die Verbindung mit dem Schwarzen Meere, Lebens¬
fragen für Österreich, werden schwer gefährdet, wenn Rußlands Bestreben, hier
mittelbar oder unmittelbar Herrschaft zu gewinnen, Erfolge erzielt. Sein
Einfluß hat seit dem Berliner Kongreß durch die Trennung Bulgariens,
Serbiens und Rumäniens von ihm wesentlich abgenommen, und in den beiden
letzten Staaten hat der österreichische sich gesteigert. Es ist nur natürlich,
wenn Nußland seinen Verlust wieder einzubringen versucht, und gewiß
scheint, daß es, wenn dies ans diplomatischem Wege nicht gelingt, zur
Anwendung von Waffengewalt schreiten wird. Dazu drängt, daß es den
gegenwärtigen Stand seiner Rüstungen für diesen Zweck aus finanziellen
Gründen nicht lange mehr aufrecht erhalten kaun; anderseits warnt davor
das deutsch-österreichische Bündnis, das sofort in Kraft treten soll, wenn einer
der Verbündeten von Rußland angegriffen oder einem andern Angreifer eines
derselben durch militärische Maßregeln von ihm Hilfe geleistet wird. Der
Vertrag schließt eine Offensive beider Bundesgenossen gegen Nußland ganz
aus und macht eine solche von selten eines derselben unwahrscheinlich. Aber
auch Rußland wird nicht allein zum Angriff schreiten, da es in diesem Falle
keine Aussicht auf Erfolg haben würde, weil es dann beide Bundesgenossen
sich gegenüber sähe. Es wird mit andern Worten nur mit einem gesicherten
Bündnis den Krieg mit seinen beiden westlichen Nachbarn wagen, und sein
Verbündeter könnte nur Frankreich sein.

Sehen wir uns nun die Grenze zwischen Rußland und Deutschland eines¬
teils sowie zwischen Nußland und Österreich-Ungarn andernteils an. Sie trägt
im allgemeinen den Charakter einer politischen Grenze. Zwar bilden vielfach
Flußläufe, Seelinien und Sumpfstrecken eine natürliche Grenze, aber nirgends
militärisch wichtige Abschnitte, die den anliegenden Gebieten diesseits und jen¬
seits Sicherheit böten. Die Grenze ist also an sich eine offene. Zwischen
dein 50. und 54. Breitengrade schieben sich die westlichen Gouvernements
Rußlands zwischen die östlichen Provinzen Preußens und Österreichs wie ein
Keil hinein, und die russische Grenze ist von Berlin nur 300 Kilometer ent¬
fernt — eine natürliche Offensivposition, welche die Maßregeln einer deutschen


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341849_204088/500>, abgerufen am 29.06.2024.