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Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Erstes Vierteljahr.

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Berliner Romane

Geschichte für ein und dieselbe Person zuhalten, denn sie wird in der Ichform
erzählt und Jozif von Kvzierowski ist gleichfalls Pole von Geburt und deutscher
Schriftsteller von Beruf. Eben wegen dieses Zusammenhanges mag die Dar¬
stellung so überzeugend und wahrhaftig wirken. Wie dem aber anch sei,
jedenfalls hat Szczepanski eine vielversprechende Probe seines Talents ab¬
gegeben. Er erzählt ganz vorzüglich, in einem die maßvolle Spannung nie¬
mals unterbrechenden Tone, er verfolgt keine Nebenabsichten, er sucht (scheinbar)
gar nicht Stimmung zu machen oder Sittenbilder zu zeichnen oder zu rühren,
und diese memoirenhafte Natürlichkeit und Schlichtheit seines Vortrciges berührt
sehr wohlthuend. Alle Gestalten sieht der Erzähler klar und lebhaft vor sich,
er belästigt uns uicht mit langen Ergüssen oder Betrachtungen, er ist stets in
Bewegung, seine Art zu charakterisiren ist präzis und kurz und zutreffend.
Das Kolorit Berlins kommt in seiue Darstellung nicht so hinein, als ob er frei
über den Dingen schwebte und nun für seinen Zweck die Farben oder That¬
sachen wählerisch zusammenstellte, sondern der Erzähler selbst ist durch und
durch moderner Berliner, die Handlung und die Charaktere sind nur in der
Großstadt denkbar, wir atmen Berliner Luft, ohne es zu bemerken. Wir
werden in die Berliner Theater- und Zeitungswelt zweiten Ranges eingeführt.
Der Erzähler ist Redakteur mit Scheere und Kleister bei einem jungen Zeitungs¬
unternehmen, ein ehrlicher litterarischer Handwerker und ein guter Mensch.
Von Geburt Pole und aus besserm, wenn anch verarmten Hause, hat er in
Berlin doch nicht die ferne polnische Heimat vergessen können, und er schließt
sich nicht ungern Landsleuten an. Ein zufällig gefundener Spielkamerad aus
der Jugendzeit, namens Taschewski wird von ihm trotz des Unterschiedes der
gesellschaftlichen Stellung zwischen Redakteur und Setzer doch auch jetzt uoch
der Freundschaft gewürdigt, und Taschewskis Roman ist es nun, den er erzählt.
Taschewski hat ein ausfallend schönes polnisches Dienstmädchen kennen gelernt
und will sie heiraten. Damit sie zunächst versorgt werde, wird sie in derselben
Zeitungsdruckerei als Falzerin untergebracht. Bei einem Ausflug aufs Land
in Gesellschaft andrer Polen entdeckt ein reicher musikalischer Dilettant, der
gerade eine Operette mit polnischem Stoff schreibt, die schöne Stimme Irmas
und setzt es durch, daß das Mädchen sich trotz aller Abmahnungen entschließt,
sich für die Bühne ausbilden zu lassen. Die Aussicht aus den großen Geld¬
verdienst verlockt sie; sie hofft um so früher, ihren geliebten Taschewski heiraten
M können. Und in der That: ohne dramatisches Talent, ohne eigentliche
musikalische Bildung spielt Irma die Heldin in der Operette jenes reichen
Dilettanten. Ihre offenbare Unfähigkeit, auf der Bühne auch nur gut zu
stehen, findet das blasirte Publikum reizend. Die Stimme Irmas reicht gerade
aus, um das einzige Volksliedchen zu singen, das ihre Rolle fordert, mehr
hat sie nicht zu thun, aber die Menschen jubeln, so oft sie erscheint, denn sie
ist eine schöne Person, und das aNein in Wahrheit genügt, um zu reizen.


Berliner Romane

Geschichte für ein und dieselbe Person zuhalten, denn sie wird in der Ichform
erzählt und Jozif von Kvzierowski ist gleichfalls Pole von Geburt und deutscher
Schriftsteller von Beruf. Eben wegen dieses Zusammenhanges mag die Dar¬
stellung so überzeugend und wahrhaftig wirken. Wie dem aber anch sei,
jedenfalls hat Szczepanski eine vielversprechende Probe seines Talents ab¬
gegeben. Er erzählt ganz vorzüglich, in einem die maßvolle Spannung nie¬
mals unterbrechenden Tone, er verfolgt keine Nebenabsichten, er sucht (scheinbar)
gar nicht Stimmung zu machen oder Sittenbilder zu zeichnen oder zu rühren,
und diese memoirenhafte Natürlichkeit und Schlichtheit seines Vortrciges berührt
sehr wohlthuend. Alle Gestalten sieht der Erzähler klar und lebhaft vor sich,
er belästigt uns uicht mit langen Ergüssen oder Betrachtungen, er ist stets in
Bewegung, seine Art zu charakterisiren ist präzis und kurz und zutreffend.
Das Kolorit Berlins kommt in seiue Darstellung nicht so hinein, als ob er frei
über den Dingen schwebte und nun für seinen Zweck die Farben oder That¬
sachen wählerisch zusammenstellte, sondern der Erzähler selbst ist durch und
durch moderner Berliner, die Handlung und die Charaktere sind nur in der
Großstadt denkbar, wir atmen Berliner Luft, ohne es zu bemerken. Wir
werden in die Berliner Theater- und Zeitungswelt zweiten Ranges eingeführt.
Der Erzähler ist Redakteur mit Scheere und Kleister bei einem jungen Zeitungs¬
unternehmen, ein ehrlicher litterarischer Handwerker und ein guter Mensch.
Von Geburt Pole und aus besserm, wenn anch verarmten Hause, hat er in
Berlin doch nicht die ferne polnische Heimat vergessen können, und er schließt
sich nicht ungern Landsleuten an. Ein zufällig gefundener Spielkamerad aus
der Jugendzeit, namens Taschewski wird von ihm trotz des Unterschiedes der
gesellschaftlichen Stellung zwischen Redakteur und Setzer doch auch jetzt uoch
der Freundschaft gewürdigt, und Taschewskis Roman ist es nun, den er erzählt.
Taschewski hat ein ausfallend schönes polnisches Dienstmädchen kennen gelernt
und will sie heiraten. Damit sie zunächst versorgt werde, wird sie in derselben
Zeitungsdruckerei als Falzerin untergebracht. Bei einem Ausflug aufs Land
in Gesellschaft andrer Polen entdeckt ein reicher musikalischer Dilettant, der
gerade eine Operette mit polnischem Stoff schreibt, die schöne Stimme Irmas
und setzt es durch, daß das Mädchen sich trotz aller Abmahnungen entschließt,
sich für die Bühne ausbilden zu lassen. Die Aussicht aus den großen Geld¬
verdienst verlockt sie; sie hofft um so früher, ihren geliebten Taschewski heiraten
M können. Und in der That: ohne dramatisches Talent, ohne eigentliche
musikalische Bildung spielt Irma die Heldin in der Operette jenes reichen
Dilettanten. Ihre offenbare Unfähigkeit, auf der Bühne auch nur gut zu
stehen, findet das blasirte Publikum reizend. Die Stimme Irmas reicht gerade
aus, um das einzige Volksliedchen zu singen, das ihre Rolle fordert, mehr
hat sie nicht zu thun, aber die Menschen jubeln, so oft sie erscheint, denn sie
ist eine schöne Person, und das aNein in Wahrheit genügt, um zu reizen.


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[0475] Berliner Romane Geschichte für ein und dieselbe Person zuhalten, denn sie wird in der Ichform erzählt und Jozif von Kvzierowski ist gleichfalls Pole von Geburt und deutscher Schriftsteller von Beruf. Eben wegen dieses Zusammenhanges mag die Dar¬ stellung so überzeugend und wahrhaftig wirken. Wie dem aber anch sei, jedenfalls hat Szczepanski eine vielversprechende Probe seines Talents ab¬ gegeben. Er erzählt ganz vorzüglich, in einem die maßvolle Spannung nie¬ mals unterbrechenden Tone, er verfolgt keine Nebenabsichten, er sucht (scheinbar) gar nicht Stimmung zu machen oder Sittenbilder zu zeichnen oder zu rühren, und diese memoirenhafte Natürlichkeit und Schlichtheit seines Vortrciges berührt sehr wohlthuend. Alle Gestalten sieht der Erzähler klar und lebhaft vor sich, er belästigt uns uicht mit langen Ergüssen oder Betrachtungen, er ist stets in Bewegung, seine Art zu charakterisiren ist präzis und kurz und zutreffend. Das Kolorit Berlins kommt in seiue Darstellung nicht so hinein, als ob er frei über den Dingen schwebte und nun für seinen Zweck die Farben oder That¬ sachen wählerisch zusammenstellte, sondern der Erzähler selbst ist durch und durch moderner Berliner, die Handlung und die Charaktere sind nur in der Großstadt denkbar, wir atmen Berliner Luft, ohne es zu bemerken. Wir werden in die Berliner Theater- und Zeitungswelt zweiten Ranges eingeführt. Der Erzähler ist Redakteur mit Scheere und Kleister bei einem jungen Zeitungs¬ unternehmen, ein ehrlicher litterarischer Handwerker und ein guter Mensch. Von Geburt Pole und aus besserm, wenn anch verarmten Hause, hat er in Berlin doch nicht die ferne polnische Heimat vergessen können, und er schließt sich nicht ungern Landsleuten an. Ein zufällig gefundener Spielkamerad aus der Jugendzeit, namens Taschewski wird von ihm trotz des Unterschiedes der gesellschaftlichen Stellung zwischen Redakteur und Setzer doch auch jetzt uoch der Freundschaft gewürdigt, und Taschewskis Roman ist es nun, den er erzählt. Taschewski hat ein ausfallend schönes polnisches Dienstmädchen kennen gelernt und will sie heiraten. Damit sie zunächst versorgt werde, wird sie in derselben Zeitungsdruckerei als Falzerin untergebracht. Bei einem Ausflug aufs Land in Gesellschaft andrer Polen entdeckt ein reicher musikalischer Dilettant, der gerade eine Operette mit polnischem Stoff schreibt, die schöne Stimme Irmas und setzt es durch, daß das Mädchen sich trotz aller Abmahnungen entschließt, sich für die Bühne ausbilden zu lassen. Die Aussicht aus den großen Geld¬ verdienst verlockt sie; sie hofft um so früher, ihren geliebten Taschewski heiraten M können. Und in der That: ohne dramatisches Talent, ohne eigentliche musikalische Bildung spielt Irma die Heldin in der Operette jenes reichen Dilettanten. Ihre offenbare Unfähigkeit, auf der Bühne auch nur gut zu stehen, findet das blasirte Publikum reizend. Die Stimme Irmas reicht gerade aus, um das einzige Volksliedchen zu singen, das ihre Rolle fordert, mehr hat sie nicht zu thun, aber die Menschen jubeln, so oft sie erscheint, denn sie ist eine schöne Person, und das aNein in Wahrheit genügt, um zu reizen.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341849_204088/475>, abgerufen am 29.06.2024.