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Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Erstes Vierteljahr.

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Berliner Romane

Entwicklung ein wertvolles Zeugnis abzugeben vermag, wenn sie auch von den
bisherigen Romnnproblemen ablenkt. Zwei junge Menschen werden einander
gegenübergestellt: Atom Sommerlnnd und Robert Gatter. Atom ist der
Sohn und Erbe eines großen Fabrikshauses, Robert das Kind einer armen
Frau. Atom ist von Robert einmal in einer Knabenschlacht geschützt und heraus¬
gehauen worden; Robert hat sich in die Spree gestürzt, um deu Quälereien
seines Stiefvaters zu entfliehen, ist aber gerettet und von der zufällig vorüber-
fcchrenden Mutter Atoms ins Haus aufgenommen worden. Die Knaben ver¬
kehren brüderlich, aber mit dem zunehmenden Alter zeigen sich die ursprünglichen
Charakterunterschiede, und diese Entwicklung ist das Thema des Romans.
Atom ist ein Mensch mit reichen Geistesgaben, glänzend, temperamentvoll,
ehrgeizig, aber mit einem schwachen Willen, darum den Affekten hingegeben,
geneigt zum Mißtrauen, zur Eifersucht, zum Neide. Robert dagegen ist der
starke Mensch ohne eine glänzende Außenseite, aber zäh in der Vehauptuug
seines Willens bis zur Selbstaufopferung. Diese geht aus Dankbarkeit für
die ihm im Sommerlandschen Hause erwiesenen Wohlthaten so weit, daß
Robert auf dasjenige Mädchen verzichten will, das er liebt, weil Atom
darnach begehrt, und schließlich sogar den Verdacht einer fahrlässigen Tötung,
die sich Atom hat zu schulden kommen lassen, so lange Passiv auf sich ruhen
läßt, bis dieser, von Gewissensqualen gefoltert, seine That offen bekennt und
dann wahnsinnig wird. So ist der Verlauf der Handlung. Der Wert des
Buches liegt in der lebenswahren Gestaltung der Charaktere; seine Berliner
Lokalfarbe erhält es durch die schönen Schilderungen des Stadteils im Süden
Berlins, und durch die teilweise im Dialekt redenden köstlichen Nebenfiguren.
Neben den zwei Knaben stehen die humoristischen Gestalten des Doktor Hahne-
busch, des "Kcllergelehrten" Quisselhopp, der alten schwatzhaften Jungfer
Adele; eine prächtige Zeichnung ist der echt berlinisch gutmütige Lehrjunge
Ete Flimmer u. s. w. Zuweilen vernimmt man den diesen Ton Ranbischen
Humors. Kretzer ist hier so lebenstreu wie möglich, und doch hat seine Kunst
nichts mit der gemein, welche die jüngsten Deutschen als die alleinseligmachende
preisen. Kretzer ist hier ebenso Idealist als Realist, das erstere in der Ge¬
sinnung, das letztere in der Form, wie es alle rechten Künstler waren-
Hoffentlich treffen wir ihn auch künftig auf diesem Wege wieder.

Den vollen Eindruck der Lebenswahrheit und den ganzen Reiz der damit
verbundenen schönen Täuschung haben wir aber von keinem andern Romane
so erhalten wie von dem neuen Berliner Roman: Die Falzgräfin von Paul
von Szczepanski (Leipzig, Meißner, 1889). Der Name dieses Schriftstellers
steht vielleicht zum erstenmale auf dein Titelblatte eines Nomanbandes, und
man ist sehr geneigt, anzunehmen, daß sein Werk mehr von persönlichen Er¬
lebnissen mitteilt, als mau in Romanen zu suchen Pflegt. Man kommt beim
Lesen nicht über die Neigung hinweg, den Verfasser und den Helden der


Berliner Romane

Entwicklung ein wertvolles Zeugnis abzugeben vermag, wenn sie auch von den
bisherigen Romnnproblemen ablenkt. Zwei junge Menschen werden einander
gegenübergestellt: Atom Sommerlnnd und Robert Gatter. Atom ist der
Sohn und Erbe eines großen Fabrikshauses, Robert das Kind einer armen
Frau. Atom ist von Robert einmal in einer Knabenschlacht geschützt und heraus¬
gehauen worden; Robert hat sich in die Spree gestürzt, um deu Quälereien
seines Stiefvaters zu entfliehen, ist aber gerettet und von der zufällig vorüber-
fcchrenden Mutter Atoms ins Haus aufgenommen worden. Die Knaben ver¬
kehren brüderlich, aber mit dem zunehmenden Alter zeigen sich die ursprünglichen
Charakterunterschiede, und diese Entwicklung ist das Thema des Romans.
Atom ist ein Mensch mit reichen Geistesgaben, glänzend, temperamentvoll,
ehrgeizig, aber mit einem schwachen Willen, darum den Affekten hingegeben,
geneigt zum Mißtrauen, zur Eifersucht, zum Neide. Robert dagegen ist der
starke Mensch ohne eine glänzende Außenseite, aber zäh in der Vehauptuug
seines Willens bis zur Selbstaufopferung. Diese geht aus Dankbarkeit für
die ihm im Sommerlandschen Hause erwiesenen Wohlthaten so weit, daß
Robert auf dasjenige Mädchen verzichten will, das er liebt, weil Atom
darnach begehrt, und schließlich sogar den Verdacht einer fahrlässigen Tötung,
die sich Atom hat zu schulden kommen lassen, so lange Passiv auf sich ruhen
läßt, bis dieser, von Gewissensqualen gefoltert, seine That offen bekennt und
dann wahnsinnig wird. So ist der Verlauf der Handlung. Der Wert des
Buches liegt in der lebenswahren Gestaltung der Charaktere; seine Berliner
Lokalfarbe erhält es durch die schönen Schilderungen des Stadteils im Süden
Berlins, und durch die teilweise im Dialekt redenden köstlichen Nebenfiguren.
Neben den zwei Knaben stehen die humoristischen Gestalten des Doktor Hahne-
busch, des „Kcllergelehrten" Quisselhopp, der alten schwatzhaften Jungfer
Adele; eine prächtige Zeichnung ist der echt berlinisch gutmütige Lehrjunge
Ete Flimmer u. s. w. Zuweilen vernimmt man den diesen Ton Ranbischen
Humors. Kretzer ist hier so lebenstreu wie möglich, und doch hat seine Kunst
nichts mit der gemein, welche die jüngsten Deutschen als die alleinseligmachende
preisen. Kretzer ist hier ebenso Idealist als Realist, das erstere in der Ge¬
sinnung, das letztere in der Form, wie es alle rechten Künstler waren-
Hoffentlich treffen wir ihn auch künftig auf diesem Wege wieder.

Den vollen Eindruck der Lebenswahrheit und den ganzen Reiz der damit
verbundenen schönen Täuschung haben wir aber von keinem andern Romane
so erhalten wie von dem neuen Berliner Roman: Die Falzgräfin von Paul
von Szczepanski (Leipzig, Meißner, 1889). Der Name dieses Schriftstellers
steht vielleicht zum erstenmale auf dein Titelblatte eines Nomanbandes, und
man ist sehr geneigt, anzunehmen, daß sein Werk mehr von persönlichen Er¬
lebnissen mitteilt, als mau in Romanen zu suchen Pflegt. Man kommt beim
Lesen nicht über die Neigung hinweg, den Verfasser und den Helden der


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[0474] Berliner Romane Entwicklung ein wertvolles Zeugnis abzugeben vermag, wenn sie auch von den bisherigen Romnnproblemen ablenkt. Zwei junge Menschen werden einander gegenübergestellt: Atom Sommerlnnd und Robert Gatter. Atom ist der Sohn und Erbe eines großen Fabrikshauses, Robert das Kind einer armen Frau. Atom ist von Robert einmal in einer Knabenschlacht geschützt und heraus¬ gehauen worden; Robert hat sich in die Spree gestürzt, um deu Quälereien seines Stiefvaters zu entfliehen, ist aber gerettet und von der zufällig vorüber- fcchrenden Mutter Atoms ins Haus aufgenommen worden. Die Knaben ver¬ kehren brüderlich, aber mit dem zunehmenden Alter zeigen sich die ursprünglichen Charakterunterschiede, und diese Entwicklung ist das Thema des Romans. Atom ist ein Mensch mit reichen Geistesgaben, glänzend, temperamentvoll, ehrgeizig, aber mit einem schwachen Willen, darum den Affekten hingegeben, geneigt zum Mißtrauen, zur Eifersucht, zum Neide. Robert dagegen ist der starke Mensch ohne eine glänzende Außenseite, aber zäh in der Vehauptuug seines Willens bis zur Selbstaufopferung. Diese geht aus Dankbarkeit für die ihm im Sommerlandschen Hause erwiesenen Wohlthaten so weit, daß Robert auf dasjenige Mädchen verzichten will, das er liebt, weil Atom darnach begehrt, und schließlich sogar den Verdacht einer fahrlässigen Tötung, die sich Atom hat zu schulden kommen lassen, so lange Passiv auf sich ruhen läßt, bis dieser, von Gewissensqualen gefoltert, seine That offen bekennt und dann wahnsinnig wird. So ist der Verlauf der Handlung. Der Wert des Buches liegt in der lebenswahren Gestaltung der Charaktere; seine Berliner Lokalfarbe erhält es durch die schönen Schilderungen des Stadteils im Süden Berlins, und durch die teilweise im Dialekt redenden köstlichen Nebenfiguren. Neben den zwei Knaben stehen die humoristischen Gestalten des Doktor Hahne- busch, des „Kcllergelehrten" Quisselhopp, der alten schwatzhaften Jungfer Adele; eine prächtige Zeichnung ist der echt berlinisch gutmütige Lehrjunge Ete Flimmer u. s. w. Zuweilen vernimmt man den diesen Ton Ranbischen Humors. Kretzer ist hier so lebenstreu wie möglich, und doch hat seine Kunst nichts mit der gemein, welche die jüngsten Deutschen als die alleinseligmachende preisen. Kretzer ist hier ebenso Idealist als Realist, das erstere in der Ge¬ sinnung, das letztere in der Form, wie es alle rechten Künstler waren- Hoffentlich treffen wir ihn auch künftig auf diesem Wege wieder. Den vollen Eindruck der Lebenswahrheit und den ganzen Reiz der damit verbundenen schönen Täuschung haben wir aber von keinem andern Romane so erhalten wie von dem neuen Berliner Roman: Die Falzgräfin von Paul von Szczepanski (Leipzig, Meißner, 1889). Der Name dieses Schriftstellers steht vielleicht zum erstenmale auf dein Titelblatte eines Nomanbandes, und man ist sehr geneigt, anzunehmen, daß sein Werk mehr von persönlichen Er¬ lebnissen mitteilt, als mau in Romanen zu suchen Pflegt. Man kommt beim Lesen nicht über die Neigung hinweg, den Verfasser und den Helden der

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341849_204088/474>, abgerufen am 28.09.2024.