Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Erstes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Berliner Romane

Ganz so hat Zola das Operettenpublikum in seiner Nana geschildert, nnr
ist er weiter gegangen und hat Nana zum Idol der Sinnlichkeit gemacht.
Szczepcmskis Irma ist eine ganz nüchterne Person, sie will viel Geld verdienen,
um das Theater desto schneller verlassen zu können und dann Taschewski zu
heiraten. Die Verhältnisse sind aber stärker, als sie geglaubt hat. Eine
Operettendiva kann den hart arbeitenden Setzer nicht mehr zum Gatten haben,
und mit diesen: Bruche erst betritt sie die Bahn, die sie zur -- Gräfin macht.
Sie heiratet uach allerlei im Dunkel gelassenen Abenteuern einen abgetakelten
gräflichen Rvus, um sich zu versorgen. Diesem heutzutage sehr beliebten
naturalistischen Motiv hat Szezepcmski ein andres, recht poetisch anmutendes
beigesellt. Der Erzähler nämlich bekommt plötzlich Heimweh nach Polen und
fährt mit seinen Freunden Taschewski, Irma und jenem musikalischen Narren
auf sein heimatliches Gut in Czernowice. Die polnische Wirtschaft ist je¬
doch während seiner Abwesenheit durch ihre eigue Unfähigkeit zusammen¬
gebrochen; das Gut kam in deutschen Besitz und blühte neu auf. Von dieser
Veränderung ist zunächst der elegisch gestimmte Erzähler verstimmt: seine
poesievollen Jugenderinnerungen, die er auffrischen wollte, sind verschwunden;
die Poesie des Verfalls vermißt er. Bald aber siegt in ihm die Erkenntnis
des höhern Wertes der deutschen Arbeit, er fühlt ihr Glück, er erkennt ihr
Verdienst um seine verfallende Heimat und freut sich des Wechsels auf Kosten
seiner frühern egoistisch-ästhetischen Neigungen. Er stimmt rückhaltlos dem
neuen deutschen Herrn in dem lebensunfähigen Polen bei. Diesen Gegensatz der
alten polnischen Wirtschaft und der neuen deutschen Herrschaft hat Szezepanski
recht hübsch dargestellt, und er läßt seinen Erzähler die Tochter des neuen
deutschen Gutsherren seines einstigen Familiengntes heiraten, also symbolisch
die Versöhnung der Nationen herstellen. Mit diesem angenehmen Gefühle legt
man das Buch aus der Hand, von dein man auch sagen könnte, daß es
wenigstens den Versuch macht, den Naturalismus familienfähig zu macheu.




Berliner Romane

Ganz so hat Zola das Operettenpublikum in seiner Nana geschildert, nnr
ist er weiter gegangen und hat Nana zum Idol der Sinnlichkeit gemacht.
Szczepcmskis Irma ist eine ganz nüchterne Person, sie will viel Geld verdienen,
um das Theater desto schneller verlassen zu können und dann Taschewski zu
heiraten. Die Verhältnisse sind aber stärker, als sie geglaubt hat. Eine
Operettendiva kann den hart arbeitenden Setzer nicht mehr zum Gatten haben,
und mit diesen: Bruche erst betritt sie die Bahn, die sie zur — Gräfin macht.
Sie heiratet uach allerlei im Dunkel gelassenen Abenteuern einen abgetakelten
gräflichen Rvus, um sich zu versorgen. Diesem heutzutage sehr beliebten
naturalistischen Motiv hat Szezepcmski ein andres, recht poetisch anmutendes
beigesellt. Der Erzähler nämlich bekommt plötzlich Heimweh nach Polen und
fährt mit seinen Freunden Taschewski, Irma und jenem musikalischen Narren
auf sein heimatliches Gut in Czernowice. Die polnische Wirtschaft ist je¬
doch während seiner Abwesenheit durch ihre eigue Unfähigkeit zusammen¬
gebrochen; das Gut kam in deutschen Besitz und blühte neu auf. Von dieser
Veränderung ist zunächst der elegisch gestimmte Erzähler verstimmt: seine
poesievollen Jugenderinnerungen, die er auffrischen wollte, sind verschwunden;
die Poesie des Verfalls vermißt er. Bald aber siegt in ihm die Erkenntnis
des höhern Wertes der deutschen Arbeit, er fühlt ihr Glück, er erkennt ihr
Verdienst um seine verfallende Heimat und freut sich des Wechsels auf Kosten
seiner frühern egoistisch-ästhetischen Neigungen. Er stimmt rückhaltlos dem
neuen deutschen Herrn in dem lebensunfähigen Polen bei. Diesen Gegensatz der
alten polnischen Wirtschaft und der neuen deutschen Herrschaft hat Szezepanski
recht hübsch dargestellt, und er läßt seinen Erzähler die Tochter des neuen
deutschen Gutsherren seines einstigen Familiengntes heiraten, also symbolisch
die Versöhnung der Nationen herstellen. Mit diesem angenehmen Gefühle legt
man das Buch aus der Hand, von dein man auch sagen könnte, daß es
wenigstens den Versuch macht, den Naturalismus familienfähig zu macheu.




<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0476" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/204565"/>
          <fw type="header" place="top"> Berliner Romane</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1536" prev="#ID_1535"> Ganz so hat Zola das Operettenpublikum in seiner Nana geschildert, nnr<lb/>
ist er weiter gegangen und hat Nana zum Idol der Sinnlichkeit gemacht.<lb/>
Szczepcmskis Irma ist eine ganz nüchterne Person, sie will viel Geld verdienen,<lb/>
um das Theater desto schneller verlassen zu können und dann Taschewski zu<lb/>
heiraten. Die Verhältnisse sind aber stärker, als sie geglaubt hat. Eine<lb/>
Operettendiva kann den hart arbeitenden Setzer nicht mehr zum Gatten haben,<lb/>
und mit diesen: Bruche erst betritt sie die Bahn, die sie zur &#x2014; Gräfin macht.<lb/>
Sie heiratet uach allerlei im Dunkel gelassenen Abenteuern einen abgetakelten<lb/>
gräflichen Rvus, um sich zu versorgen. Diesem heutzutage sehr beliebten<lb/>
naturalistischen Motiv hat Szezepcmski ein andres, recht poetisch anmutendes<lb/>
beigesellt. Der Erzähler nämlich bekommt plötzlich Heimweh nach Polen und<lb/>
fährt mit seinen Freunden Taschewski, Irma und jenem musikalischen Narren<lb/>
auf sein heimatliches Gut in Czernowice. Die polnische Wirtschaft ist je¬<lb/>
doch während seiner Abwesenheit durch ihre eigue Unfähigkeit zusammen¬<lb/>
gebrochen; das Gut kam in deutschen Besitz und blühte neu auf. Von dieser<lb/>
Veränderung ist zunächst der elegisch gestimmte Erzähler verstimmt: seine<lb/>
poesievollen Jugenderinnerungen, die er auffrischen wollte, sind verschwunden;<lb/>
die Poesie des Verfalls vermißt er. Bald aber siegt in ihm die Erkenntnis<lb/>
des höhern Wertes der deutschen Arbeit, er fühlt ihr Glück, er erkennt ihr<lb/>
Verdienst um seine verfallende Heimat und freut sich des Wechsels auf Kosten<lb/>
seiner frühern egoistisch-ästhetischen Neigungen. Er stimmt rückhaltlos dem<lb/>
neuen deutschen Herrn in dem lebensunfähigen Polen bei. Diesen Gegensatz der<lb/>
alten polnischen Wirtschaft und der neuen deutschen Herrschaft hat Szezepanski<lb/>
recht hübsch dargestellt, und er läßt seinen Erzähler die Tochter des neuen<lb/>
deutschen Gutsherren seines einstigen Familiengntes heiraten, also symbolisch<lb/>
die Versöhnung der Nationen herstellen. Mit diesem angenehmen Gefühle legt<lb/>
man das Buch aus der Hand, von dein man auch sagen könnte, daß es<lb/>
wenigstens den Versuch macht, den Naturalismus familienfähig zu macheu.</p><lb/>
          <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0476] Berliner Romane Ganz so hat Zola das Operettenpublikum in seiner Nana geschildert, nnr ist er weiter gegangen und hat Nana zum Idol der Sinnlichkeit gemacht. Szczepcmskis Irma ist eine ganz nüchterne Person, sie will viel Geld verdienen, um das Theater desto schneller verlassen zu können und dann Taschewski zu heiraten. Die Verhältnisse sind aber stärker, als sie geglaubt hat. Eine Operettendiva kann den hart arbeitenden Setzer nicht mehr zum Gatten haben, und mit diesen: Bruche erst betritt sie die Bahn, die sie zur — Gräfin macht. Sie heiratet uach allerlei im Dunkel gelassenen Abenteuern einen abgetakelten gräflichen Rvus, um sich zu versorgen. Diesem heutzutage sehr beliebten naturalistischen Motiv hat Szezepcmski ein andres, recht poetisch anmutendes beigesellt. Der Erzähler nämlich bekommt plötzlich Heimweh nach Polen und fährt mit seinen Freunden Taschewski, Irma und jenem musikalischen Narren auf sein heimatliches Gut in Czernowice. Die polnische Wirtschaft ist je¬ doch während seiner Abwesenheit durch ihre eigue Unfähigkeit zusammen¬ gebrochen; das Gut kam in deutschen Besitz und blühte neu auf. Von dieser Veränderung ist zunächst der elegisch gestimmte Erzähler verstimmt: seine poesievollen Jugenderinnerungen, die er auffrischen wollte, sind verschwunden; die Poesie des Verfalls vermißt er. Bald aber siegt in ihm die Erkenntnis des höhern Wertes der deutschen Arbeit, er fühlt ihr Glück, er erkennt ihr Verdienst um seine verfallende Heimat und freut sich des Wechsels auf Kosten seiner frühern egoistisch-ästhetischen Neigungen. Er stimmt rückhaltlos dem neuen deutschen Herrn in dem lebensunfähigen Polen bei. Diesen Gegensatz der alten polnischen Wirtschaft und der neuen deutschen Herrschaft hat Szezepanski recht hübsch dargestellt, und er läßt seinen Erzähler die Tochter des neuen deutschen Gutsherren seines einstigen Familiengntes heiraten, also symbolisch die Versöhnung der Nationen herstellen. Mit diesem angenehmen Gefühle legt man das Buch aus der Hand, von dein man auch sagen könnte, daß es wenigstens den Versuch macht, den Naturalismus familienfähig zu macheu.

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341849_204088
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341849_204088/476
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341849_204088/476>, abgerufen am 29.06.2024.