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Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Erstes Vierteljahr.

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sondern wie es im Gemüte seiner Figuren keimt, wächst und schließlich aus
dem Plan zur That wird: das ist die unterhaltende, fesselnde, Täuschung und
Selbstvergessenheit des Lesers befördernde Macht seiner Kriminalromaue, und
nur darum sind sie so berühmt geworden. Lindau aber hat ihm nur den
äußerlichen Apparat des Jndicienbeweises, der Gerichtsverhandlung mit den
die That von der anklägerischen und verteidigenden Seite beleuchtenden Reden
abgeguckt, und darum verhält sich Lindaus Roman zu einem Werke Dostojewskis
wie das Skelett zu einem vollen, muskulösen Körper. Finde daran Geschmack
wer will; der unsrige ist es nicht. Lindaus Charakteristik ist kalt, nüchtern,
deutlich, aber nicht lebendig. Häufig spricht er viel zu viel, wenn er uns in
die Innerlichkeit seiner Menschen einführen will, wenn er alle diese künstlerisch
unbedeutenden Reflexionen der Figuren über sich selbst auf das Allernötigste
zusammenstreichen wollte, würde der Roman zwar um ein gutes Drittel magerer
werden, sonst aber nur gewinnen. Doch machen wir aus dieser Breite keinen
Vorwurf. Lindau hat das unbeschränkteste Recht, seine Romnue so breit zu
schreiben, wie es ihm gut dünkt, denn künstlerische Bedenken kommen bei solchen
Werken gar nicht in Betracht, einzig und allein die Rücksicht auf die Geduld
des Publikums, und zwar insbesondere des Zeituugspublikums, das diese
Romane fortsetzungsweise kennen lernt. Da Lindau bei diesem Publikum viele
Anerkennung mit seinen Romanen erntet (in Buchform erleben sie kaum mehr
als eine Auflage), so wäre es wahrhaft unklug von ihm, wenn er nicht das
Eisen schmiedete, so lange als es warm ist, und so viele Fortsetzungen machte,
als überhaupt die Geduld des Zeitungspublikums verträgt. Und auf ein
gutes Quartal darf sich der Zeitungsroman schon erstrecken; darin liegt das
einzige Gesetz, wonach er sich zu richten hat.

Lindaus Berliner Roman ist also eigentlich nur der Roman der Gro߬
stadt; Lindau kennt auch die Berliner nur von außen und sieht nur die Zu¬
stände, die man allein in Großstädten beobachten kann. Max Kretzer ist besser
daran, dieser fühlt mit dein Berliner Volk, als einer seinesgleichen, und
das Bild, das Kretzer von Berlin entwirft, hat mehr Lvkalfarbe, mehr
Seele, mehr Wahrheit, als Lindau je erreichen kann, trotz seiner überlegenen
litterarischen Bildung und Geschicklichkeit. Einem Berliner Gassenjungen, einer
einfachen Bürgersfrau wird Lindau nie so passende Worte leihen können wie
Kretzer; das läßt sich nicht erlernen, das kann nur der dichterische Mensch
machen. Darum werden Kretzers Romane vielleicht noch gelesen werden,
nachdem Lindaus "Spitzen" wie eine alte Mode abgethan sein werden. In
seinem jüngsten Roman: Ein verschlossener Mensch (Leipzig, Meißner, 1838)
hat Kretzer auch jede sozialistische Tendenz vermieden und eine freie, rein
menschliche, unparteiische Haltung zwischen Reichen und Armen eingenommen,
so oft es auf diesen Gegensatz ankam. Der Roman ist eigentlich nur eine
sorgfältige Charakterstudie, die für Kretzers dichterisch aufwärts führende


Gvenzbotcn I 1889 59

sondern wie es im Gemüte seiner Figuren keimt, wächst und schließlich aus
dem Plan zur That wird: das ist die unterhaltende, fesselnde, Täuschung und
Selbstvergessenheit des Lesers befördernde Macht seiner Kriminalromaue, und
nur darum sind sie so berühmt geworden. Lindau aber hat ihm nur den
äußerlichen Apparat des Jndicienbeweises, der Gerichtsverhandlung mit den
die That von der anklägerischen und verteidigenden Seite beleuchtenden Reden
abgeguckt, und darum verhält sich Lindaus Roman zu einem Werke Dostojewskis
wie das Skelett zu einem vollen, muskulösen Körper. Finde daran Geschmack
wer will; der unsrige ist es nicht. Lindaus Charakteristik ist kalt, nüchtern,
deutlich, aber nicht lebendig. Häufig spricht er viel zu viel, wenn er uns in
die Innerlichkeit seiner Menschen einführen will, wenn er alle diese künstlerisch
unbedeutenden Reflexionen der Figuren über sich selbst auf das Allernötigste
zusammenstreichen wollte, würde der Roman zwar um ein gutes Drittel magerer
werden, sonst aber nur gewinnen. Doch machen wir aus dieser Breite keinen
Vorwurf. Lindau hat das unbeschränkteste Recht, seine Romnue so breit zu
schreiben, wie es ihm gut dünkt, denn künstlerische Bedenken kommen bei solchen
Werken gar nicht in Betracht, einzig und allein die Rücksicht auf die Geduld
des Publikums, und zwar insbesondere des Zeituugspublikums, das diese
Romane fortsetzungsweise kennen lernt. Da Lindau bei diesem Publikum viele
Anerkennung mit seinen Romanen erntet (in Buchform erleben sie kaum mehr
als eine Auflage), so wäre es wahrhaft unklug von ihm, wenn er nicht das
Eisen schmiedete, so lange als es warm ist, und so viele Fortsetzungen machte,
als überhaupt die Geduld des Zeitungspublikums verträgt. Und auf ein
gutes Quartal darf sich der Zeitungsroman schon erstrecken; darin liegt das
einzige Gesetz, wonach er sich zu richten hat.

Lindaus Berliner Roman ist also eigentlich nur der Roman der Gro߬
stadt; Lindau kennt auch die Berliner nur von außen und sieht nur die Zu¬
stände, die man allein in Großstädten beobachten kann. Max Kretzer ist besser
daran, dieser fühlt mit dein Berliner Volk, als einer seinesgleichen, und
das Bild, das Kretzer von Berlin entwirft, hat mehr Lvkalfarbe, mehr
Seele, mehr Wahrheit, als Lindau je erreichen kann, trotz seiner überlegenen
litterarischen Bildung und Geschicklichkeit. Einem Berliner Gassenjungen, einer
einfachen Bürgersfrau wird Lindau nie so passende Worte leihen können wie
Kretzer; das läßt sich nicht erlernen, das kann nur der dichterische Mensch
machen. Darum werden Kretzers Romane vielleicht noch gelesen werden,
nachdem Lindaus „Spitzen" wie eine alte Mode abgethan sein werden. In
seinem jüngsten Roman: Ein verschlossener Mensch (Leipzig, Meißner, 1838)
hat Kretzer auch jede sozialistische Tendenz vermieden und eine freie, rein
menschliche, unparteiische Haltung zwischen Reichen und Armen eingenommen,
so oft es auf diesen Gegensatz ankam. Der Roman ist eigentlich nur eine
sorgfältige Charakterstudie, die für Kretzers dichterisch aufwärts führende


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341849_204088/473>, abgerufen am 28.09.2024.