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Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Erstes Vierteljahr.

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Berliner Romane

der säuberlicher Sorgfalt, die er auf sie verwendet hat, entnehmen kann. Als
spannender Erzähler berühmter Gerichtsverhandlungen von Brüssel und Wien
hat sich Lindau übrigens schon gezeigt; außerdem hat er Dostojewskis große
Romane aufmerksam gelesen; nun hat er sich selbst einen Kriminalprozeß nach
Mustern aus der Wirklichkeit erfunden und hat ihn "Roman" genannt.

Bei der Gräfin Juliane, der jugendlichen Frau eines alten hohen Staats¬
beamten wird mit schlauer Berechnung gerade in dem Augenblicke ein Einbruchs¬
diebstahl verübt, wo sie ihren Liebhaber, den schönen und sympathischen Ulrich,
der sich mit einem jungen Mädchen verlobt hat, zum letztenmal^, eine Stunde
nach Mitternacht, bei sich empfängt. Um ihre Ehre nicht bloßzustellen, darf
sie die Diebe nicht früher stören, als bis der Freund entflohen ist; inzwischen
aber ist das Verbrechen geschehen, und nußer kostbaren Juwelen ist die un¬
bezahlbare Lamoralspitze gestohlen worden. Als die Gräfin um Hilfe klingelt, ist
es zu spät, um den Raub zu retten, die Diebe werden jedoch bald erkannt und
verhaftet. Es kommt zur Gerichtsverhandlung, und dabei wird der Besuch
verraten; Ulrich schwört, um Julianens Ehre nicht zu vernichten und auch
sich selbst zu schützen, einen falschen Eid, er leugnet seinen Besuch. Der
Gerichtshof nimmt diese für den Diebsprozeß gleichgiltigen Aussagen gläubig
hin, und die Sache bleibt vertuscht. Allein die Verbrecher kommen nach
einigen Jahren aus dem Kerker wieder heraus; um Geld zu erpressen, graben
sie die vergessene Geschichte wieder aus, und es kommt schließlich so weit, daß
gegen Ulrich die Anklage wegen Meineids erhoben wird. Er wird freigesprochen,
allein in dem unmittelbar darauf folgenden Duell mit dem Gatten Julianens,
dem er den Besuch abzuleugnen nicht den Mut gefunden hat, wird er erschossen.
So wird, ohne die Standesehre vor dem Publikum bloßzustellen, der reinen
Moral Genugthuung geleistet. Graf Ulrich ist das tragische Opfer eines nur
im Herzen eines modernen Aristokraten möglichen Pflichtenkonfliktes.

Wir wollen Lindau keineswegs die Anerkennung versagen, daß er seine
Sache geschickt genug für die Leser der Tagesblätter eingerichtet hat. Uns
aber hat gerade die auffällige Art, mit der er das Verbrechen exponirt, wobei
er von vornherein den Leser ans alle jene Nebenumstände aufmerksam macht,
die bei der spätern polizeilichen Nachforschung von Wichtigkeit werden sollen,
den Spaß am Spiele verdorben. Da hat er uns doch zu sehr in die Karten
gucken lassen, und wenn dann alles klappt, so haben wir nicht die Freude der
Überraschung, die naivere Leser vielleicht dennoch empfunden haben. Uns er¬
scheint diese Manier bei aller Schlauheit doch auch wieder einfältig und unwahr.
In dieser Einfädelung des Verbrechens ist Dostojewski seinem strebsamen Nach¬
ahmer überlegen, und zwar deswegen, weil der Russe eine wichtige Kleinigkeit
nebst all seiner Klugheit auch noch besitzt, nämlich die Kleinigkeit Poesie-
Dostojewski fesselt uns zunächst durch die psychologische Tiefe seiner Charakteristik.
Nicht blos wie das Verbrechen überhaupt geschieht, stellt er uns vor Augen,


Berliner Romane

der säuberlicher Sorgfalt, die er auf sie verwendet hat, entnehmen kann. Als
spannender Erzähler berühmter Gerichtsverhandlungen von Brüssel und Wien
hat sich Lindau übrigens schon gezeigt; außerdem hat er Dostojewskis große
Romane aufmerksam gelesen; nun hat er sich selbst einen Kriminalprozeß nach
Mustern aus der Wirklichkeit erfunden und hat ihn „Roman" genannt.

Bei der Gräfin Juliane, der jugendlichen Frau eines alten hohen Staats¬
beamten wird mit schlauer Berechnung gerade in dem Augenblicke ein Einbruchs¬
diebstahl verübt, wo sie ihren Liebhaber, den schönen und sympathischen Ulrich,
der sich mit einem jungen Mädchen verlobt hat, zum letztenmal^, eine Stunde
nach Mitternacht, bei sich empfängt. Um ihre Ehre nicht bloßzustellen, darf
sie die Diebe nicht früher stören, als bis der Freund entflohen ist; inzwischen
aber ist das Verbrechen geschehen, und nußer kostbaren Juwelen ist die un¬
bezahlbare Lamoralspitze gestohlen worden. Als die Gräfin um Hilfe klingelt, ist
es zu spät, um den Raub zu retten, die Diebe werden jedoch bald erkannt und
verhaftet. Es kommt zur Gerichtsverhandlung, und dabei wird der Besuch
verraten; Ulrich schwört, um Julianens Ehre nicht zu vernichten und auch
sich selbst zu schützen, einen falschen Eid, er leugnet seinen Besuch. Der
Gerichtshof nimmt diese für den Diebsprozeß gleichgiltigen Aussagen gläubig
hin, und die Sache bleibt vertuscht. Allein die Verbrecher kommen nach
einigen Jahren aus dem Kerker wieder heraus; um Geld zu erpressen, graben
sie die vergessene Geschichte wieder aus, und es kommt schließlich so weit, daß
gegen Ulrich die Anklage wegen Meineids erhoben wird. Er wird freigesprochen,
allein in dem unmittelbar darauf folgenden Duell mit dem Gatten Julianens,
dem er den Besuch abzuleugnen nicht den Mut gefunden hat, wird er erschossen.
So wird, ohne die Standesehre vor dem Publikum bloßzustellen, der reinen
Moral Genugthuung geleistet. Graf Ulrich ist das tragische Opfer eines nur
im Herzen eines modernen Aristokraten möglichen Pflichtenkonfliktes.

Wir wollen Lindau keineswegs die Anerkennung versagen, daß er seine
Sache geschickt genug für die Leser der Tagesblätter eingerichtet hat. Uns
aber hat gerade die auffällige Art, mit der er das Verbrechen exponirt, wobei
er von vornherein den Leser ans alle jene Nebenumstände aufmerksam macht,
die bei der spätern polizeilichen Nachforschung von Wichtigkeit werden sollen,
den Spaß am Spiele verdorben. Da hat er uns doch zu sehr in die Karten
gucken lassen, und wenn dann alles klappt, so haben wir nicht die Freude der
Überraschung, die naivere Leser vielleicht dennoch empfunden haben. Uns er¬
scheint diese Manier bei aller Schlauheit doch auch wieder einfältig und unwahr.
In dieser Einfädelung des Verbrechens ist Dostojewski seinem strebsamen Nach¬
ahmer überlegen, und zwar deswegen, weil der Russe eine wichtige Kleinigkeit
nebst all seiner Klugheit auch noch besitzt, nämlich die Kleinigkeit Poesie-
Dostojewski fesselt uns zunächst durch die psychologische Tiefe seiner Charakteristik.
Nicht blos wie das Verbrechen überhaupt geschieht, stellt er uns vor Augen,


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[0472] Berliner Romane der säuberlicher Sorgfalt, die er auf sie verwendet hat, entnehmen kann. Als spannender Erzähler berühmter Gerichtsverhandlungen von Brüssel und Wien hat sich Lindau übrigens schon gezeigt; außerdem hat er Dostojewskis große Romane aufmerksam gelesen; nun hat er sich selbst einen Kriminalprozeß nach Mustern aus der Wirklichkeit erfunden und hat ihn „Roman" genannt. Bei der Gräfin Juliane, der jugendlichen Frau eines alten hohen Staats¬ beamten wird mit schlauer Berechnung gerade in dem Augenblicke ein Einbruchs¬ diebstahl verübt, wo sie ihren Liebhaber, den schönen und sympathischen Ulrich, der sich mit einem jungen Mädchen verlobt hat, zum letztenmal^, eine Stunde nach Mitternacht, bei sich empfängt. Um ihre Ehre nicht bloßzustellen, darf sie die Diebe nicht früher stören, als bis der Freund entflohen ist; inzwischen aber ist das Verbrechen geschehen, und nußer kostbaren Juwelen ist die un¬ bezahlbare Lamoralspitze gestohlen worden. Als die Gräfin um Hilfe klingelt, ist es zu spät, um den Raub zu retten, die Diebe werden jedoch bald erkannt und verhaftet. Es kommt zur Gerichtsverhandlung, und dabei wird der Besuch verraten; Ulrich schwört, um Julianens Ehre nicht zu vernichten und auch sich selbst zu schützen, einen falschen Eid, er leugnet seinen Besuch. Der Gerichtshof nimmt diese für den Diebsprozeß gleichgiltigen Aussagen gläubig hin, und die Sache bleibt vertuscht. Allein die Verbrecher kommen nach einigen Jahren aus dem Kerker wieder heraus; um Geld zu erpressen, graben sie die vergessene Geschichte wieder aus, und es kommt schließlich so weit, daß gegen Ulrich die Anklage wegen Meineids erhoben wird. Er wird freigesprochen, allein in dem unmittelbar darauf folgenden Duell mit dem Gatten Julianens, dem er den Besuch abzuleugnen nicht den Mut gefunden hat, wird er erschossen. So wird, ohne die Standesehre vor dem Publikum bloßzustellen, der reinen Moral Genugthuung geleistet. Graf Ulrich ist das tragische Opfer eines nur im Herzen eines modernen Aristokraten möglichen Pflichtenkonfliktes. Wir wollen Lindau keineswegs die Anerkennung versagen, daß er seine Sache geschickt genug für die Leser der Tagesblätter eingerichtet hat. Uns aber hat gerade die auffällige Art, mit der er das Verbrechen exponirt, wobei er von vornherein den Leser ans alle jene Nebenumstände aufmerksam macht, die bei der spätern polizeilichen Nachforschung von Wichtigkeit werden sollen, den Spaß am Spiele verdorben. Da hat er uns doch zu sehr in die Karten gucken lassen, und wenn dann alles klappt, so haben wir nicht die Freude der Überraschung, die naivere Leser vielleicht dennoch empfunden haben. Uns er¬ scheint diese Manier bei aller Schlauheit doch auch wieder einfältig und unwahr. In dieser Einfädelung des Verbrechens ist Dostojewski seinem strebsamen Nach¬ ahmer überlegen, und zwar deswegen, weil der Russe eine wichtige Kleinigkeit nebst all seiner Klugheit auch noch besitzt, nämlich die Kleinigkeit Poesie- Dostojewski fesselt uns zunächst durch die psychologische Tiefe seiner Charakteristik. Nicht blos wie das Verbrechen überhaupt geschieht, stellt er uns vor Augen,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341849_204088/472>, abgerufen am 29.06.2024.