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Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Erstes Vierteljahr.

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national. Alle Großstädte Europas sind einander bei weitem ähnlicher, als die
Nationen, deren politische Mittelpunkte sie bilden. Das Zusammenleben von
Millionen von Meuscheu erzeugt neue soziale Formen, die international sind.
Je mehr daher der Romanschriftsteller diese neue Form erfassen will, um so
weniger national bleibt er. So ein spezifisch großstädtischer Roman kann nut
geringen Veränderungen aus dem Berlinischen ins Wiener oder Londoner Lokal
übersetzt werden, wird in Berlin so gut wie in Wien verstanden, und es ist
daher nur folgerichtig, wenn Paul Lindaus letzter Roman: Spitzen (Stutt¬
gart, Spemann, 1888) den Leser stellenweise in der That nach Wien, München,
Hamburg, London führt, um dann nach Berlin zurückzukehren. Mit dieser
Logik in der Entwicklung verliert aber der Berliner Roman seinen eigentüm¬
lichen Reiz, den Erdgeruch der heimatlichen Scholle. Die Menschenwelt eines
solchen Romans ist bald erschöpft: es sind ja keine tiefen Naturen. keine
Menschen, die an die Heimat mit allen Fasern ihres Wesens gebunden wären,
es handelt sich bei solchen Menschen doch immer nur darum, wie sie sich durch
die Welt schlagen, und dieser sogenannte Kampf ums Dasein der Menschen ist
doch wahrhaftig poetisch um so weniger ergiebig, je betrübender er für den
Einzelnen in Wirklichkeit ist. Es stellt sich daher bald eine gewisse Eintönigkeit
in solchen großstädtischen Romanen ein; ob sie Lindau schreibt oder ein andrer,
ist ganz gleichgültig. In allen diesen Geschichten ist derselbe weltmännische Stand¬
punkt, dieselbe konventionelle Moral, dieselbe prosaische Virtuosität in den
Mitteln der Spannung und Rührung zu finden. Man liest sie mit mehr oder
weniger Hast durch und behält um Ende nichts andres im Gedächtnis als
das Bewußtsein, einige Stunden in ähnlicher Weise totgeschlagen zu haben wie
beim Kartenspielen oder dergleichen. Vielleicht tritt für manchen Leser noch das
unangenehme Gefühl hinzu, sich sagen zu müssen: nicht einmal in so guter
Gesellschaft wie bei der gewohnten Skatpartie.

In den "Spitzen" tritt die satirische Tendenz des Sittenschildcrers, wie
ste noch in den "Armen Mädchen" merkbar war, ganz hinter der Freude
Lindaus am künstlichen Aufbau seiner Kriminalgeschichte zurück. Diese Ver¬
brecherhöhlen, diese Halbweltdamen, diese unsaubern Geschäftsleute, diese
Revolverjournalisten u° f. f., welche die eine Hälfte seiner Handlung ausfüllen,
und die Gegenpartie der Aristokraten mit ihrer doppelten Lebensführung, die
ihnen gestattet, in den Armen der käuflichen Liebe ihre Jugend zu verloben,
den eignen Frauen aber die strengste Zurückhaltung auferlegt, ihre doppelte
Moral, die gestattet, vor Gericht zu lügen, den Standesgenossen aber die
Wahrheit zu gestehen verpflichtet, wenn sie mit dem Degen ausgefochten werden
soll -- das alles ist schon sehr oft geschildert worden, und Lindau hat es
auch nicht als Neuigkeit vorgetragen. Ganz ebenso findet man diese Menschen
und Sitten in den Pariser Romanen, es ist nichts spezifisch Berlinisches. Aber
auf die Kriminalgeschichte thut sich Lindau in" so mehr zu gute, wie man ans


national. Alle Großstädte Europas sind einander bei weitem ähnlicher, als die
Nationen, deren politische Mittelpunkte sie bilden. Das Zusammenleben von
Millionen von Meuscheu erzeugt neue soziale Formen, die international sind.
Je mehr daher der Romanschriftsteller diese neue Form erfassen will, um so
weniger national bleibt er. So ein spezifisch großstädtischer Roman kann nut
geringen Veränderungen aus dem Berlinischen ins Wiener oder Londoner Lokal
übersetzt werden, wird in Berlin so gut wie in Wien verstanden, und es ist
daher nur folgerichtig, wenn Paul Lindaus letzter Roman: Spitzen (Stutt¬
gart, Spemann, 1888) den Leser stellenweise in der That nach Wien, München,
Hamburg, London führt, um dann nach Berlin zurückzukehren. Mit dieser
Logik in der Entwicklung verliert aber der Berliner Roman seinen eigentüm¬
lichen Reiz, den Erdgeruch der heimatlichen Scholle. Die Menschenwelt eines
solchen Romans ist bald erschöpft: es sind ja keine tiefen Naturen. keine
Menschen, die an die Heimat mit allen Fasern ihres Wesens gebunden wären,
es handelt sich bei solchen Menschen doch immer nur darum, wie sie sich durch
die Welt schlagen, und dieser sogenannte Kampf ums Dasein der Menschen ist
doch wahrhaftig poetisch um so weniger ergiebig, je betrübender er für den
Einzelnen in Wirklichkeit ist. Es stellt sich daher bald eine gewisse Eintönigkeit
in solchen großstädtischen Romanen ein; ob sie Lindau schreibt oder ein andrer,
ist ganz gleichgültig. In allen diesen Geschichten ist derselbe weltmännische Stand¬
punkt, dieselbe konventionelle Moral, dieselbe prosaische Virtuosität in den
Mitteln der Spannung und Rührung zu finden. Man liest sie mit mehr oder
weniger Hast durch und behält um Ende nichts andres im Gedächtnis als
das Bewußtsein, einige Stunden in ähnlicher Weise totgeschlagen zu haben wie
beim Kartenspielen oder dergleichen. Vielleicht tritt für manchen Leser noch das
unangenehme Gefühl hinzu, sich sagen zu müssen: nicht einmal in so guter
Gesellschaft wie bei der gewohnten Skatpartie.

In den „Spitzen" tritt die satirische Tendenz des Sittenschildcrers, wie
ste noch in den „Armen Mädchen" merkbar war, ganz hinter der Freude
Lindaus am künstlichen Aufbau seiner Kriminalgeschichte zurück. Diese Ver¬
brecherhöhlen, diese Halbweltdamen, diese unsaubern Geschäftsleute, diese
Revolverjournalisten u° f. f., welche die eine Hälfte seiner Handlung ausfüllen,
und die Gegenpartie der Aristokraten mit ihrer doppelten Lebensführung, die
ihnen gestattet, in den Armen der käuflichen Liebe ihre Jugend zu verloben,
den eignen Frauen aber die strengste Zurückhaltung auferlegt, ihre doppelte
Moral, die gestattet, vor Gericht zu lügen, den Standesgenossen aber die
Wahrheit zu gestehen verpflichtet, wenn sie mit dem Degen ausgefochten werden
soll — das alles ist schon sehr oft geschildert worden, und Lindau hat es
auch nicht als Neuigkeit vorgetragen. Ganz ebenso findet man diese Menschen
und Sitten in den Pariser Romanen, es ist nichts spezifisch Berlinisches. Aber
auf die Kriminalgeschichte thut sich Lindau in» so mehr zu gute, wie man ans


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341849_204088/471>, abgerufen am 24.08.2024.