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Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Erstes Vierteljahr.

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Das Pariser Aegelschieben

vor hundert Jahren erlebte, und es wird dabei viel Weihrauch verbrannt und
wenig daran gedacht werden, daß das Ereignis auch seine Schatten, ja mehr
Schatten als Licht hatte. Jedenfalls muß die Lage auffallen, in der sich
Frankreich jetzt, ein Jahrhundert nach dem Umsturze, befindet, namentlich wenn
man sie mit den überschwänglichen Lobliedern vergleicht, mit denen man ihn
damals begrüßte, und die seine Helden, die Radikalen, die Demokraten, noch
heilte in die Welt hinaus nachsingen. Wir leugnen die Lichtseite nicht, da
aber so viel davon geredet worden ist, so wollen wir auch einmal die dunkle
betrachten. Renan machte neulich einmal Clairetie, den neuen Akademiker,
darauf aufmerksam, daß alles wirklich gute und große der französischen
Litteratur aus dem achtzehnten Jahrhundert stamme, und das neunzehnte uns,
namentlich zuletzt, nur "Düugerhaufell-Gemälde," Orgien des Naturalismus
und Werke so mangelhaft in der Form gegeben habe, "daß sie nicht fortleben
konnten." Das ist übertrieben, aber im wesentlichen unwiderlegbar. Und ebenso
steht es mit dem staatlichen und dem gesellschaftlichen Leben, mit den Sitten
und Gewohnheiten des Volkes und hundert andern Dingen. Feinheit, Artigkeit,
Maß und Milde des Denkens und Empfindens sind den Franzosen mehr und mehr
abhanden gekommen. Sie vertragen sich nicht mit der revolutionären Methode,
nicht mit dem Neide, nicht mit seiner Tochter, der Gleichheit; es soll wie
nichts Hohes und niedriges, so auch nichts Feines und Grobes mehr geben,
und da Grobheit sich leichter anschaffen läßt als Feinheit, ist man zu ihr oder
doch ans mittelfeines Niveau wie in andern Beziehungen überhaupt zur Mittel¬
mäßigkeit herabgestiegen. Die Revolution übte einen begreiflichen Zauber auf
die benachbarte Welt, aber sie trug in ihrem ganzen Wesen und in allen ihren
Wirkungen den Charakter des Gewaltsamen, des Übertriebelleu, des Brechens,
nicht des Ballens. Unaufhörlich zerstörte sie wieder, was sie für den Augen¬
blick geschaffen hatte. So die konstitutionelle Monarchie, so die Republik in
der einen und der andern Gestalt, dann nach Unterbrechung fortwirkend das
Kaisertum durch die voll ihr geerbte Sucht, zu zerstöre", an sich zu reißen lind
sich aufzudrängen. Und dieses wilde Feiler brach immer voll neuem wieder aus
und ließ es nie zur Stetigkeit, nie zu dauerndem Gedeihen, nie zu einem haltbaren
Staatswesen kommen, wie bei den Nachbarn, wo es in der Schule des Gehorsams
gezähmt wurde und sich nun in eine heilsame Triebkraft verwandelte. Deutschland
hat, während Frankreich ohne Aufhören Revolutionen und Staatsstreiche, d. h-
Revolutionen von oben erlebte und davon immer von neuem durcheinanderge-
schüttelt wurde, sodaß es selten zur Besinnung kam und am Fortschritte arbeiten
konnte, von Geschlecht zu Geschlecht sich weiter und höher entwickeln und sich end¬
lich im Innern zu der materiellen Blüte, die jetzt mehr und mehr von jedermann
draußen erkannt und bewundert wird, nach außenhin und im Verhältnis z"
der ganzen europäischen Völkerfamilie zu der großen friedlichen Weltmacht aus-
bilden können, die nur revvlutivuüreu Staaten, nur den von Ruhm- oder


Das Pariser Aegelschieben

vor hundert Jahren erlebte, und es wird dabei viel Weihrauch verbrannt und
wenig daran gedacht werden, daß das Ereignis auch seine Schatten, ja mehr
Schatten als Licht hatte. Jedenfalls muß die Lage auffallen, in der sich
Frankreich jetzt, ein Jahrhundert nach dem Umsturze, befindet, namentlich wenn
man sie mit den überschwänglichen Lobliedern vergleicht, mit denen man ihn
damals begrüßte, und die seine Helden, die Radikalen, die Demokraten, noch
heilte in die Welt hinaus nachsingen. Wir leugnen die Lichtseite nicht, da
aber so viel davon geredet worden ist, so wollen wir auch einmal die dunkle
betrachten. Renan machte neulich einmal Clairetie, den neuen Akademiker,
darauf aufmerksam, daß alles wirklich gute und große der französischen
Litteratur aus dem achtzehnten Jahrhundert stamme, und das neunzehnte uns,
namentlich zuletzt, nur „Düugerhaufell-Gemälde," Orgien des Naturalismus
und Werke so mangelhaft in der Form gegeben habe, „daß sie nicht fortleben
konnten." Das ist übertrieben, aber im wesentlichen unwiderlegbar. Und ebenso
steht es mit dem staatlichen und dem gesellschaftlichen Leben, mit den Sitten
und Gewohnheiten des Volkes und hundert andern Dingen. Feinheit, Artigkeit,
Maß und Milde des Denkens und Empfindens sind den Franzosen mehr und mehr
abhanden gekommen. Sie vertragen sich nicht mit der revolutionären Methode,
nicht mit dem Neide, nicht mit seiner Tochter, der Gleichheit; es soll wie
nichts Hohes und niedriges, so auch nichts Feines und Grobes mehr geben,
und da Grobheit sich leichter anschaffen läßt als Feinheit, ist man zu ihr oder
doch ans mittelfeines Niveau wie in andern Beziehungen überhaupt zur Mittel¬
mäßigkeit herabgestiegen. Die Revolution übte einen begreiflichen Zauber auf
die benachbarte Welt, aber sie trug in ihrem ganzen Wesen und in allen ihren
Wirkungen den Charakter des Gewaltsamen, des Übertriebelleu, des Brechens,
nicht des Ballens. Unaufhörlich zerstörte sie wieder, was sie für den Augen¬
blick geschaffen hatte. So die konstitutionelle Monarchie, so die Republik in
der einen und der andern Gestalt, dann nach Unterbrechung fortwirkend das
Kaisertum durch die voll ihr geerbte Sucht, zu zerstöre«, an sich zu reißen lind
sich aufzudrängen. Und dieses wilde Feiler brach immer voll neuem wieder aus
und ließ es nie zur Stetigkeit, nie zu dauerndem Gedeihen, nie zu einem haltbaren
Staatswesen kommen, wie bei den Nachbarn, wo es in der Schule des Gehorsams
gezähmt wurde und sich nun in eine heilsame Triebkraft verwandelte. Deutschland
hat, während Frankreich ohne Aufhören Revolutionen und Staatsstreiche, d. h-
Revolutionen von oben erlebte und davon immer von neuem durcheinanderge-
schüttelt wurde, sodaß es selten zur Besinnung kam und am Fortschritte arbeiten
konnte, von Geschlecht zu Geschlecht sich weiter und höher entwickeln und sich end¬
lich im Innern zu der materiellen Blüte, die jetzt mehr und mehr von jedermann
draußen erkannt und bewundert wird, nach außenhin und im Verhältnis z»
der ganzen europäischen Völkerfamilie zu der großen friedlichen Weltmacht aus-
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[0454] Das Pariser Aegelschieben vor hundert Jahren erlebte, und es wird dabei viel Weihrauch verbrannt und wenig daran gedacht werden, daß das Ereignis auch seine Schatten, ja mehr Schatten als Licht hatte. Jedenfalls muß die Lage auffallen, in der sich Frankreich jetzt, ein Jahrhundert nach dem Umsturze, befindet, namentlich wenn man sie mit den überschwänglichen Lobliedern vergleicht, mit denen man ihn damals begrüßte, und die seine Helden, die Radikalen, die Demokraten, noch heilte in die Welt hinaus nachsingen. Wir leugnen die Lichtseite nicht, da aber so viel davon geredet worden ist, so wollen wir auch einmal die dunkle betrachten. Renan machte neulich einmal Clairetie, den neuen Akademiker, darauf aufmerksam, daß alles wirklich gute und große der französischen Litteratur aus dem achtzehnten Jahrhundert stamme, und das neunzehnte uns, namentlich zuletzt, nur „Düugerhaufell-Gemälde," Orgien des Naturalismus und Werke so mangelhaft in der Form gegeben habe, „daß sie nicht fortleben konnten." Das ist übertrieben, aber im wesentlichen unwiderlegbar. Und ebenso steht es mit dem staatlichen und dem gesellschaftlichen Leben, mit den Sitten und Gewohnheiten des Volkes und hundert andern Dingen. Feinheit, Artigkeit, Maß und Milde des Denkens und Empfindens sind den Franzosen mehr und mehr abhanden gekommen. Sie vertragen sich nicht mit der revolutionären Methode, nicht mit dem Neide, nicht mit seiner Tochter, der Gleichheit; es soll wie nichts Hohes und niedriges, so auch nichts Feines und Grobes mehr geben, und da Grobheit sich leichter anschaffen läßt als Feinheit, ist man zu ihr oder doch ans mittelfeines Niveau wie in andern Beziehungen überhaupt zur Mittel¬ mäßigkeit herabgestiegen. Die Revolution übte einen begreiflichen Zauber auf die benachbarte Welt, aber sie trug in ihrem ganzen Wesen und in allen ihren Wirkungen den Charakter des Gewaltsamen, des Übertriebelleu, des Brechens, nicht des Ballens. Unaufhörlich zerstörte sie wieder, was sie für den Augen¬ blick geschaffen hatte. So die konstitutionelle Monarchie, so die Republik in der einen und der andern Gestalt, dann nach Unterbrechung fortwirkend das Kaisertum durch die voll ihr geerbte Sucht, zu zerstöre«, an sich zu reißen lind sich aufzudrängen. Und dieses wilde Feiler brach immer voll neuem wieder aus und ließ es nie zur Stetigkeit, nie zu dauerndem Gedeihen, nie zu einem haltbaren Staatswesen kommen, wie bei den Nachbarn, wo es in der Schule des Gehorsams gezähmt wurde und sich nun in eine heilsame Triebkraft verwandelte. Deutschland hat, während Frankreich ohne Aufhören Revolutionen und Staatsstreiche, d. h- Revolutionen von oben erlebte und davon immer von neuem durcheinanderge- schüttelt wurde, sodaß es selten zur Besinnung kam und am Fortschritte arbeiten konnte, von Geschlecht zu Geschlecht sich weiter und höher entwickeln und sich end¬ lich im Innern zu der materiellen Blüte, die jetzt mehr und mehr von jedermann draußen erkannt und bewundert wird, nach außenhin und im Verhältnis z» der ganzen europäischen Völkerfamilie zu der großen friedlichen Weltmacht aus- bilden können, die nur revvlutivuüreu Staaten, nur den von Ruhm- oder

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341849_204088/454>, abgerufen am 29.06.2024.