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Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Erstes Vierteljahr.

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Das Pariser Aegelschieben

Rachsucht oder von Eroberungslust zum Umsturz der bestehenden Verhältnisse
bewegten Mächte nicht als ein Segen erscheinen kann. Frankreich ist ein stets
glimmender Brand, eine stete Bedrohung, aber durch das revolutionäre Fieber,
das als Parlamentarismus fortwütet, wechselt und immer wechselt, geschwächt,
gesunken, verhältnismäßig einflußlos geworden. Vielfach widerspricht die Republik
ihren eignen Grundsätzen. Oder wäre dort etwa mehr Freiheit als bei uns
oder in England? Wären die "Menschenrechte" dort, wo die Phrase erfunden
wurde, höher geachtet als hier? Im Gegenteil, wir kennen weniger polizeiliche
Einschränkung, und wir dürfen uns in allen Stücken weit uneingeschnürter
bewegen als der Franzose unter seinem Präfekten, obgleich beide bei jeder passen¬
den und unpassenden Gelegenheit "mit hohen Augenbrauen" reden und rühmen,
daß sie in Freiheit schwimmen wie die Fische im Wasser. Welcher Kenner der
Verhältnisse wollte in Abrede stellen, daß ein Deutscher oder ein Engländer
viel gesicherter gegen richterliche Unterdrückung oder administrative Brutalität
dasteht als ein französischer Republikaner, wie wohlgefällig dieser auch seinen
Titel "Bürger" zur Schau stellt? Wie unendlich mehr Duldung herrscht dies¬
seits des Rheins und der Vogesen als drüben, wo man nur die Juden un-
verfolgt läßt, ja sich von ihren Finanziers mittelbar, von ihren Advokaten,
die bei einigem Talente und ihrer immer vorhandenen strebsamen Vordringlichkeit
unfehlbar emporkommen, unmittelbar, in der Eigenschaft von Ministern oder
Diktatoren, beherrschen oder ausbeuten läßt! Wie sich auf politischem Gebiete
"ur der hier vollkommener Freiheit erfreut, der zur gerade herrschenden Partei
gehört, so genießt auf religiösem Gebiete nur der Religionslose Duldung neben
dem Mosaikcr. Jede triumphirende Partei verfolgt abwechselnd die Anhänger
der gegnerischen Gruppe und teilt die Beute, die sie ihnen lasse" müssen, und
barmherzige Schwestern wurden aus ihren Spitälern verjagt, weil sie mit ihren
Kranken gebetet oder zu Sterbenden von Gott und dein Himmel gesprochen
hatten, Mönche bestrafte man mit Landesverweisung, weil sie des Verbrechens
angeklagt und geständig waren, Kindern die Bibel lesen gelehrt zu haben.
Das sind einige von den Früchten der Revolution, zu deren Feier man sich
anschickt. Die Freiheit, die sie brachte, ist noch heute keine Göttin, mild,
wohlwollend, Gedeihen spendend, sondern eine unablässig zerschmelzende, fressende,
Zwecklos umgestaltende Flamme. Die immer von neuem wiederkehrende Revo¬
lution aber vergleichen wir mit einer Überschwemmung, aber nicht mit der
des Nil, die befruchtet und Reichtum erzeugt, sondern mit einem Dammbruch,
durch den das snlzgeschwängerte Meer nach den Wiesen und Feldern des
Strandes strömt und nach seinem Abflusse Salzboden und Unfruchtbarkeit
zurückläßt, schwer oder niemals zu bessernde Unfruchtbarkeit.

Das Programm des neuen Ministeriums, das vorige Woche in der
Kammer vorgetragen wurde, läßt sich recht angenehm lesen und sollte auch
den Deputirten einleuchten. Unzweifelhaft hat es Recht, wenn es auf Erledigung


Das Pariser Aegelschieben

Rachsucht oder von Eroberungslust zum Umsturz der bestehenden Verhältnisse
bewegten Mächte nicht als ein Segen erscheinen kann. Frankreich ist ein stets
glimmender Brand, eine stete Bedrohung, aber durch das revolutionäre Fieber,
das als Parlamentarismus fortwütet, wechselt und immer wechselt, geschwächt,
gesunken, verhältnismäßig einflußlos geworden. Vielfach widerspricht die Republik
ihren eignen Grundsätzen. Oder wäre dort etwa mehr Freiheit als bei uns
oder in England? Wären die „Menschenrechte" dort, wo die Phrase erfunden
wurde, höher geachtet als hier? Im Gegenteil, wir kennen weniger polizeiliche
Einschränkung, und wir dürfen uns in allen Stücken weit uneingeschnürter
bewegen als der Franzose unter seinem Präfekten, obgleich beide bei jeder passen¬
den und unpassenden Gelegenheit „mit hohen Augenbrauen" reden und rühmen,
daß sie in Freiheit schwimmen wie die Fische im Wasser. Welcher Kenner der
Verhältnisse wollte in Abrede stellen, daß ein Deutscher oder ein Engländer
viel gesicherter gegen richterliche Unterdrückung oder administrative Brutalität
dasteht als ein französischer Republikaner, wie wohlgefällig dieser auch seinen
Titel „Bürger" zur Schau stellt? Wie unendlich mehr Duldung herrscht dies¬
seits des Rheins und der Vogesen als drüben, wo man nur die Juden un-
verfolgt läßt, ja sich von ihren Finanziers mittelbar, von ihren Advokaten,
die bei einigem Talente und ihrer immer vorhandenen strebsamen Vordringlichkeit
unfehlbar emporkommen, unmittelbar, in der Eigenschaft von Ministern oder
Diktatoren, beherrschen oder ausbeuten läßt! Wie sich auf politischem Gebiete
"ur der hier vollkommener Freiheit erfreut, der zur gerade herrschenden Partei
gehört, so genießt auf religiösem Gebiete nur der Religionslose Duldung neben
dem Mosaikcr. Jede triumphirende Partei verfolgt abwechselnd die Anhänger
der gegnerischen Gruppe und teilt die Beute, die sie ihnen lasse» müssen, und
barmherzige Schwestern wurden aus ihren Spitälern verjagt, weil sie mit ihren
Kranken gebetet oder zu Sterbenden von Gott und dein Himmel gesprochen
hatten, Mönche bestrafte man mit Landesverweisung, weil sie des Verbrechens
angeklagt und geständig waren, Kindern die Bibel lesen gelehrt zu haben.
Das sind einige von den Früchten der Revolution, zu deren Feier man sich
anschickt. Die Freiheit, die sie brachte, ist noch heute keine Göttin, mild,
wohlwollend, Gedeihen spendend, sondern eine unablässig zerschmelzende, fressende,
Zwecklos umgestaltende Flamme. Die immer von neuem wiederkehrende Revo¬
lution aber vergleichen wir mit einer Überschwemmung, aber nicht mit der
des Nil, die befruchtet und Reichtum erzeugt, sondern mit einem Dammbruch,
durch den das snlzgeschwängerte Meer nach den Wiesen und Feldern des
Strandes strömt und nach seinem Abflusse Salzboden und Unfruchtbarkeit
zurückläßt, schwer oder niemals zu bessernde Unfruchtbarkeit.

Das Programm des neuen Ministeriums, das vorige Woche in der
Kammer vorgetragen wurde, läßt sich recht angenehm lesen und sollte auch
den Deputirten einleuchten. Unzweifelhaft hat es Recht, wenn es auf Erledigung


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[0455] Das Pariser Aegelschieben Rachsucht oder von Eroberungslust zum Umsturz der bestehenden Verhältnisse bewegten Mächte nicht als ein Segen erscheinen kann. Frankreich ist ein stets glimmender Brand, eine stete Bedrohung, aber durch das revolutionäre Fieber, das als Parlamentarismus fortwütet, wechselt und immer wechselt, geschwächt, gesunken, verhältnismäßig einflußlos geworden. Vielfach widerspricht die Republik ihren eignen Grundsätzen. Oder wäre dort etwa mehr Freiheit als bei uns oder in England? Wären die „Menschenrechte" dort, wo die Phrase erfunden wurde, höher geachtet als hier? Im Gegenteil, wir kennen weniger polizeiliche Einschränkung, und wir dürfen uns in allen Stücken weit uneingeschnürter bewegen als der Franzose unter seinem Präfekten, obgleich beide bei jeder passen¬ den und unpassenden Gelegenheit „mit hohen Augenbrauen" reden und rühmen, daß sie in Freiheit schwimmen wie die Fische im Wasser. Welcher Kenner der Verhältnisse wollte in Abrede stellen, daß ein Deutscher oder ein Engländer viel gesicherter gegen richterliche Unterdrückung oder administrative Brutalität dasteht als ein französischer Republikaner, wie wohlgefällig dieser auch seinen Titel „Bürger" zur Schau stellt? Wie unendlich mehr Duldung herrscht dies¬ seits des Rheins und der Vogesen als drüben, wo man nur die Juden un- verfolgt läßt, ja sich von ihren Finanziers mittelbar, von ihren Advokaten, die bei einigem Talente und ihrer immer vorhandenen strebsamen Vordringlichkeit unfehlbar emporkommen, unmittelbar, in der Eigenschaft von Ministern oder Diktatoren, beherrschen oder ausbeuten läßt! Wie sich auf politischem Gebiete "ur der hier vollkommener Freiheit erfreut, der zur gerade herrschenden Partei gehört, so genießt auf religiösem Gebiete nur der Religionslose Duldung neben dem Mosaikcr. Jede triumphirende Partei verfolgt abwechselnd die Anhänger der gegnerischen Gruppe und teilt die Beute, die sie ihnen lasse» müssen, und barmherzige Schwestern wurden aus ihren Spitälern verjagt, weil sie mit ihren Kranken gebetet oder zu Sterbenden von Gott und dein Himmel gesprochen hatten, Mönche bestrafte man mit Landesverweisung, weil sie des Verbrechens angeklagt und geständig waren, Kindern die Bibel lesen gelehrt zu haben. Das sind einige von den Früchten der Revolution, zu deren Feier man sich anschickt. Die Freiheit, die sie brachte, ist noch heute keine Göttin, mild, wohlwollend, Gedeihen spendend, sondern eine unablässig zerschmelzende, fressende, Zwecklos umgestaltende Flamme. Die immer von neuem wiederkehrende Revo¬ lution aber vergleichen wir mit einer Überschwemmung, aber nicht mit der des Nil, die befruchtet und Reichtum erzeugt, sondern mit einem Dammbruch, durch den das snlzgeschwängerte Meer nach den Wiesen und Feldern des Strandes strömt und nach seinem Abflusse Salzboden und Unfruchtbarkeit zurückläßt, schwer oder niemals zu bessernde Unfruchtbarkeit. Das Programm des neuen Ministeriums, das vorige Woche in der Kammer vorgetragen wurde, läßt sich recht angenehm lesen und sollte auch den Deputirten einleuchten. Unzweifelhaft hat es Recht, wenn es auf Erledigung

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341849_204088/455>, abgerufen am 29.06.2024.