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Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Erstes Vierteljahr.

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Wach erhält. Mindestens ein halbes Hundert Staatsmänner und Stcmts-
münnchen opportunistischer Farbe sagen sich jetzt von Tirard, der das neue
Kabinet zusammengelesen und auf die Schnur gereiht hat: Der hatte auch
besser wühlen, d. h. mich nicht übersehen sollen, und ähnlich empfinden sicher
auch viele Radikale diese Blindheit für ihre Fähigkeiten und Verdienste, schmollen
und grollen. So giebt es keinerlei Gewißheit, daß auf Grund des Umstnndes,
daß die Mitglieder des neuen Kabinets in zwei Gruppen, eine opportunistische
und eine radikale, zerfallen, dies Kabinet nun sich auch der Unterstützung beider
Parteien in der Kammer auf die Dauer erfreue:: wird. Fällt es aber, so giebt es
sehr wahrscheinlich eine Krisis, die nicht bei den Ministern stehen bleiben, sondern
auch den Prüsideuteu der Republik in ihren Strudel ziehen wird. Kein Zweifel,
das Land verlangt jetzt nicht eine Gesellschaft mehr oder minder dunkler politischer
Ehrenmänner, die die Ämterbeute unter sich und gute Freunde teilen, sondern einen
Mann, der es mit fester Hand aus dem alten parlamentarischen Sumpf und Nebel
herausführt. Carnot konnte und könnte vielleicht noch etwas der Art sein, er hatte
und Hütte möglicherweise noch Gelegenheit. Er konnte ein Geschäftsministerium aus
Senatoren und achtbaren Fachleuten, die außerhalb der parlamentarischen Kreise
goß geworden waren, bilden und dafür ein Vertrauensvotum bis auf weiteres
verlangen, wogegen er sofortige Auflösung der Kammer zu dein Zwecke dar¬
bieten konnte, daß Frankreich vor dem Mai, d. h. vor Beginn der großen Aus-
stellung durch Neuwahleil seine Entscheidung treffe. Herr Carnot aber betrachtet
wie Gr6op den Parlamentarismus als unantastbares Heiligtum, sich als nichts,
als willenlos und einflußlos von rechtswegen, die Präsidentschaft als eine bloße
Gallion am Staatsschiffe, ein zwar sehr schmuckvolles, aber zugleich sehr nutz¬
loses Zubehör derselben. Die Gefahr solcher Entsagung und Enthaltsamkeit,
solcher Abdankung vor einem Götzenbilde der Doktrin war immer groß, und
sie ist gegenwärtig um so größer und ernster, als die Boulangerei Paris mit
einer demokratischen Diktatur bedroht, und anderseits die Sozialisten uuter der
ehren von der Republik seit anderthalb Jahrzehnten gewährten Duldung soweit
gediehen und dreist geworden sind, daß sie sich vermessen zu können glauben,
"wrgeu schon "ans die Straße herabzusteigen." Gefahren wie diese lassen sich
mit schönen Worten, Formeln aus dem alten Vorrat, schwächlichen Änderungen,
hier und da ein bischen und zur Not dort noch etwas, nicht beschwören, sondern
nur mit energischer Gründlichkeit, wenn es nicht anders geht, mit Blut und
Eisen. Das bringt aber nur eine heroische Natur fertig, nicht die Pygmüen-
schnr, die heute an die Stelle der früheren Phgmnenschar getreten ist, um die
Republik aus der Not zu retten, in die sie der Parlamentarismus verfahren
hat. Auch Boulanger ist, wenn nicht alles trügt, kein Heiland, kein Held für
solche Erlösung, möglicherweise etwas mehr als ein Bühnenheld, aber aller
Wahrscheinlichkeit zufolge wenig mehr.

Frankreich feiert demnächst das Jubelfest der großen Revolution, die es


Wach erhält. Mindestens ein halbes Hundert Staatsmänner und Stcmts-
münnchen opportunistischer Farbe sagen sich jetzt von Tirard, der das neue
Kabinet zusammengelesen und auf die Schnur gereiht hat: Der hatte auch
besser wühlen, d. h. mich nicht übersehen sollen, und ähnlich empfinden sicher
auch viele Radikale diese Blindheit für ihre Fähigkeiten und Verdienste, schmollen
und grollen. So giebt es keinerlei Gewißheit, daß auf Grund des Umstnndes,
daß die Mitglieder des neuen Kabinets in zwei Gruppen, eine opportunistische
und eine radikale, zerfallen, dies Kabinet nun sich auch der Unterstützung beider
Parteien in der Kammer auf die Dauer erfreue:: wird. Fällt es aber, so giebt es
sehr wahrscheinlich eine Krisis, die nicht bei den Ministern stehen bleiben, sondern
auch den Prüsideuteu der Republik in ihren Strudel ziehen wird. Kein Zweifel,
das Land verlangt jetzt nicht eine Gesellschaft mehr oder minder dunkler politischer
Ehrenmänner, die die Ämterbeute unter sich und gute Freunde teilen, sondern einen
Mann, der es mit fester Hand aus dem alten parlamentarischen Sumpf und Nebel
herausführt. Carnot konnte und könnte vielleicht noch etwas der Art sein, er hatte
und Hütte möglicherweise noch Gelegenheit. Er konnte ein Geschäftsministerium aus
Senatoren und achtbaren Fachleuten, die außerhalb der parlamentarischen Kreise
goß geworden waren, bilden und dafür ein Vertrauensvotum bis auf weiteres
verlangen, wogegen er sofortige Auflösung der Kammer zu dein Zwecke dar¬
bieten konnte, daß Frankreich vor dem Mai, d. h. vor Beginn der großen Aus-
stellung durch Neuwahleil seine Entscheidung treffe. Herr Carnot aber betrachtet
wie Gr6op den Parlamentarismus als unantastbares Heiligtum, sich als nichts,
als willenlos und einflußlos von rechtswegen, die Präsidentschaft als eine bloße
Gallion am Staatsschiffe, ein zwar sehr schmuckvolles, aber zugleich sehr nutz¬
loses Zubehör derselben. Die Gefahr solcher Entsagung und Enthaltsamkeit,
solcher Abdankung vor einem Götzenbilde der Doktrin war immer groß, und
sie ist gegenwärtig um so größer und ernster, als die Boulangerei Paris mit
einer demokratischen Diktatur bedroht, und anderseits die Sozialisten uuter der
ehren von der Republik seit anderthalb Jahrzehnten gewährten Duldung soweit
gediehen und dreist geworden sind, daß sie sich vermessen zu können glauben,
"wrgeu schon „ans die Straße herabzusteigen." Gefahren wie diese lassen sich
mit schönen Worten, Formeln aus dem alten Vorrat, schwächlichen Änderungen,
hier und da ein bischen und zur Not dort noch etwas, nicht beschwören, sondern
nur mit energischer Gründlichkeit, wenn es nicht anders geht, mit Blut und
Eisen. Das bringt aber nur eine heroische Natur fertig, nicht die Pygmüen-
schnr, die heute an die Stelle der früheren Phgmnenschar getreten ist, um die
Republik aus der Not zu retten, in die sie der Parlamentarismus verfahren
hat. Auch Boulanger ist, wenn nicht alles trügt, kein Heiland, kein Held für
solche Erlösung, möglicherweise etwas mehr als ein Bühnenheld, aber aller
Wahrscheinlichkeit zufolge wenig mehr.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341849_204088/453>, abgerufen am 29.06.2024.