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Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Erstes Vierteljahr.

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Militärisch-politische Blicke nach Osten

in der Levante nächstbeteiligten Mächte zuerst ihre Entschließungen treffen und,
wenn sie wollen, sich und Rußland vertragen oder schlagen. Wir sind weder
zu dem einen noch zu dem andern in der orientalischen Frage berufen." Diese
Worte folgten der Veröffentlichung des Bündnisvertrags von 187ö gleichsam
als Erläuterung. In: 1. Artikel dieses Vertrags aber heißt es: "Sollte wieder
Verhoffen und gegen den aufrichtigen Wunsch beider hohen Kontrahenten eines
der beiden Reiche von feiten Rußlands angegriffen werden, so sind die hohen
Kontrahenten verpflichtet, einander mit der gesamten Kriegsmacht ihrer Reiche
beizustehn." Der Ton ist, so können die Russen sagen, auf "angegriffen" zu
legen. Schaffen wir daher eine Lage, welche die Österreicher zwingt, uns
anzugreifen. Dann bleibt die deutsche Armee daheim, und wir haben es nur
mit dem Haupthindernis zu thun, das uns bei dein Feldzuge nach Konstanti-
nopel und den Meerengen im Wege steht; denn England hat wenig zu bedeuten,
wenn es überhaupt den Türken militärisch beisteht.

In der That ist es möglich, daß Österreich im Hinblick auf die angeführte
Stelle des Vertrags sich im Anfange neutral verhält, und wahrscheinlich wird
dann Rumänien das gleiche thun. Beide Staaten werden jedoch bald sich
genötigt glauben, zu handeln, und zwar Rumänien, wenn seine Neutralität
nicht geachtet würde, Österreich, wenn es die Türkei vor dein Verluste ihrer
Hauptstadt zu schützen hätte. Wenn nun die Verhältnisse sich so gestalteten,
daß Österreich und Rumänien sich mit dem Deutschen Reiche zunächst für
Neutralität entschieden, so stünden den Kriegführenden für die Offensive drei
Wege offen: 1) sie könnten durch Rumänien vorzudringen versuchen, 2) an den
feindlichen Küsten des Schwarzen Meeres landen und von da weiter operiren,
Z) auf dem zwischen dem Schwarzen Meere und dem Kaspischen liegenden
Terrain in das Gebiet des Gegners einrücken. Die Pforte hat sich in den
Kriegen von 1828 und 1877 defensiv Verhalten, weil die Bodengestaltung der
europäischen Türkei die Defensive bei einem Angriffe von Norden her durch
die Barrieren der Donau und des Balkan begünstigte und die Hauptstadt gegen
Operationen von der See ans genügend durch die Forts am Bosporus und
an den Dardanellen verteidigt werden konnte. Sie würde auch künftig nicht
offensiv gegen Rußland vorgehen, obwohl ihr heutzutage ein viel besseres Heer
zu Gebote steht als 1877, es wäre denn, daß Rumänien sich mit ihr verbände,
was ans vielen Gründen undenkbar ist. Nicht undenkbar zwar, aber sehr un¬
wahrscheinlich ist anderseits, daß Rußland mit Nichtbeachtung der rumänischen
Neutralität in dieses Land einrückte, um an die Donau zu gelangen. Wir
sagen: sehr unwahrscheinlich, da die Erzwingung des Durchzugs durch die
oben geschilderte Festungslinie das Heer des Zaren so lange beschäftigen und
aufhalten würde, daß ein bei Adrianopel zusammengezogenes türkisches Heer
reichlich Zeit fände, den Balkan und die Donau zu erreichen und hier Stellungen
einzunehmen, die jede ein zweites Plewna zu werden drohten. Ob übrigens


Militärisch-politische Blicke nach Osten

in der Levante nächstbeteiligten Mächte zuerst ihre Entschließungen treffen und,
wenn sie wollen, sich und Rußland vertragen oder schlagen. Wir sind weder
zu dem einen noch zu dem andern in der orientalischen Frage berufen." Diese
Worte folgten der Veröffentlichung des Bündnisvertrags von 187ö gleichsam
als Erläuterung. In: 1. Artikel dieses Vertrags aber heißt es: „Sollte wieder
Verhoffen und gegen den aufrichtigen Wunsch beider hohen Kontrahenten eines
der beiden Reiche von feiten Rußlands angegriffen werden, so sind die hohen
Kontrahenten verpflichtet, einander mit der gesamten Kriegsmacht ihrer Reiche
beizustehn." Der Ton ist, so können die Russen sagen, auf „angegriffen" zu
legen. Schaffen wir daher eine Lage, welche die Österreicher zwingt, uns
anzugreifen. Dann bleibt die deutsche Armee daheim, und wir haben es nur
mit dem Haupthindernis zu thun, das uns bei dein Feldzuge nach Konstanti-
nopel und den Meerengen im Wege steht; denn England hat wenig zu bedeuten,
wenn es überhaupt den Türken militärisch beisteht.

In der That ist es möglich, daß Österreich im Hinblick auf die angeführte
Stelle des Vertrags sich im Anfange neutral verhält, und wahrscheinlich wird
dann Rumänien das gleiche thun. Beide Staaten werden jedoch bald sich
genötigt glauben, zu handeln, und zwar Rumänien, wenn seine Neutralität
nicht geachtet würde, Österreich, wenn es die Türkei vor dein Verluste ihrer
Hauptstadt zu schützen hätte. Wenn nun die Verhältnisse sich so gestalteten,
daß Österreich und Rumänien sich mit dem Deutschen Reiche zunächst für
Neutralität entschieden, so stünden den Kriegführenden für die Offensive drei
Wege offen: 1) sie könnten durch Rumänien vorzudringen versuchen, 2) an den
feindlichen Küsten des Schwarzen Meeres landen und von da weiter operiren,
Z) auf dem zwischen dem Schwarzen Meere und dem Kaspischen liegenden
Terrain in das Gebiet des Gegners einrücken. Die Pforte hat sich in den
Kriegen von 1828 und 1877 defensiv Verhalten, weil die Bodengestaltung der
europäischen Türkei die Defensive bei einem Angriffe von Norden her durch
die Barrieren der Donau und des Balkan begünstigte und die Hauptstadt gegen
Operationen von der See ans genügend durch die Forts am Bosporus und
an den Dardanellen verteidigt werden konnte. Sie würde auch künftig nicht
offensiv gegen Rußland vorgehen, obwohl ihr heutzutage ein viel besseres Heer
zu Gebote steht als 1877, es wäre denn, daß Rumänien sich mit ihr verbände,
was ans vielen Gründen undenkbar ist. Nicht undenkbar zwar, aber sehr un¬
wahrscheinlich ist anderseits, daß Rußland mit Nichtbeachtung der rumänischen
Neutralität in dieses Land einrückte, um an die Donau zu gelangen. Wir
sagen: sehr unwahrscheinlich, da die Erzwingung des Durchzugs durch die
oben geschilderte Festungslinie das Heer des Zaren so lange beschäftigen und
aufhalten würde, daß ein bei Adrianopel zusammengezogenes türkisches Heer
reichlich Zeit fände, den Balkan und die Donau zu erreichen und hier Stellungen
einzunehmen, die jede ein zweites Plewna zu werden drohten. Ob übrigens


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[0406] Militärisch-politische Blicke nach Osten in der Levante nächstbeteiligten Mächte zuerst ihre Entschließungen treffen und, wenn sie wollen, sich und Rußland vertragen oder schlagen. Wir sind weder zu dem einen noch zu dem andern in der orientalischen Frage berufen." Diese Worte folgten der Veröffentlichung des Bündnisvertrags von 187ö gleichsam als Erläuterung. In: 1. Artikel dieses Vertrags aber heißt es: „Sollte wieder Verhoffen und gegen den aufrichtigen Wunsch beider hohen Kontrahenten eines der beiden Reiche von feiten Rußlands angegriffen werden, so sind die hohen Kontrahenten verpflichtet, einander mit der gesamten Kriegsmacht ihrer Reiche beizustehn." Der Ton ist, so können die Russen sagen, auf „angegriffen" zu legen. Schaffen wir daher eine Lage, welche die Österreicher zwingt, uns anzugreifen. Dann bleibt die deutsche Armee daheim, und wir haben es nur mit dem Haupthindernis zu thun, das uns bei dein Feldzuge nach Konstanti- nopel und den Meerengen im Wege steht; denn England hat wenig zu bedeuten, wenn es überhaupt den Türken militärisch beisteht. In der That ist es möglich, daß Österreich im Hinblick auf die angeführte Stelle des Vertrags sich im Anfange neutral verhält, und wahrscheinlich wird dann Rumänien das gleiche thun. Beide Staaten werden jedoch bald sich genötigt glauben, zu handeln, und zwar Rumänien, wenn seine Neutralität nicht geachtet würde, Österreich, wenn es die Türkei vor dein Verluste ihrer Hauptstadt zu schützen hätte. Wenn nun die Verhältnisse sich so gestalteten, daß Österreich und Rumänien sich mit dem Deutschen Reiche zunächst für Neutralität entschieden, so stünden den Kriegführenden für die Offensive drei Wege offen: 1) sie könnten durch Rumänien vorzudringen versuchen, 2) an den feindlichen Küsten des Schwarzen Meeres landen und von da weiter operiren, Z) auf dem zwischen dem Schwarzen Meere und dem Kaspischen liegenden Terrain in das Gebiet des Gegners einrücken. Die Pforte hat sich in den Kriegen von 1828 und 1877 defensiv Verhalten, weil die Bodengestaltung der europäischen Türkei die Defensive bei einem Angriffe von Norden her durch die Barrieren der Donau und des Balkan begünstigte und die Hauptstadt gegen Operationen von der See ans genügend durch die Forts am Bosporus und an den Dardanellen verteidigt werden konnte. Sie würde auch künftig nicht offensiv gegen Rußland vorgehen, obwohl ihr heutzutage ein viel besseres Heer zu Gebote steht als 1877, es wäre denn, daß Rumänien sich mit ihr verbände, was ans vielen Gründen undenkbar ist. Nicht undenkbar zwar, aber sehr un¬ wahrscheinlich ist anderseits, daß Rußland mit Nichtbeachtung der rumänischen Neutralität in dieses Land einrückte, um an die Donau zu gelangen. Wir sagen: sehr unwahrscheinlich, da die Erzwingung des Durchzugs durch die oben geschilderte Festungslinie das Heer des Zaren so lange beschäftigen und aufhalten würde, daß ein bei Adrianopel zusammengezogenes türkisches Heer reichlich Zeit fände, den Balkan und die Donau zu erreichen und hier Stellungen einzunehmen, die jede ein zweites Plewna zu werden drohten. Ob übrigens

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341849_204088/406>, abgerufen am 29.06.2024.