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Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Erstes Vierteljahr.

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Haben wir eine Volkslitteratur?

Zunächst muß dem Stoffgebiete nach wieder dort angeknüpft werden, wo
die Gesamtheit des deutschen Volkes sich selbst mit ihren eigensten Anschauungen
und Interessen wiedererkennt. Unsre Schriftsteller sollte": sich weniger um
Egypten, Griechenland und Rom, und mehr um die Heimat und das Leben
ihrer Heimat kümmern. Noch immer, beinahe zwanzig Jahre nach der Wieder-
erstehuug des neuen deutschen Reiches, hängt uns der gelehrte Zopf an, der
uns verhindert, die Dinge ihrem Wesen nach, ohne gelehrte Brille zu sehen.
Hätten wir es erst zu einer möglichst klaren und rein gegenständlichen An¬
schauung der uns umgebenden Menschen und Dinge gebracht, daun -- man
kann dessen sicher sein würden die meisten archäologischen und historischen
Romane ungeschrieben bleiben, weil sich an eine solche freiere Anschauung sehr
bald die Erkenntnis knüpfen würde, daß nicht jeder Stoff, der den Professor
interessirt, die Gesamtheit interessiren kann; daß es sich in der Dichtkunst nicht
um die bloße Verwertung toter Gelehrsamkeit, sondern in erster Linie um
Wiedergabe eines Empfindungsgehaltes und um das Schaffen von Gestalten
handelt. Von diesem Gesichtspunkt aus begrüßen wir selbst die unvoll¬
kommenen dichterischen Versuche der Jungdeutschen auf dem Gebiete der Er¬
zählung und der dramatischen Dichtung als Anfang einer gesunden Reaktion
gegen eine erkünstelte und schablonenhafte Litteratur. Doch damit, daß die
Schriftsteller neue Wege zu betreten suchen, ist es allein nicht gethan. Die
Heilung des hier gekennzeichneten Schadens setzt eine Veränderung im Geschmack
der breitesten Schichten des Volkes voraus, die unmöglich von heute zu morgen
eintreten kann. Eine solche Umwandlung kam: nur ganz allmählich erwartet
werden. Sie muß schon in der Volksschule vorbereitet werden; nicht nur durch
einen verbesserten Unterricht, der sich mehr an den Verstand und die An¬
schauung als an das Gedächtnis wendet, nicht nur durch die dringend not¬
wendige Verbesserung der mündlichen und schriftlichen Unterweisung in der
Muttersprache, sondern auch durch bessere körperliche Ausbildung, denn nur
naturgemäß und gesund entwickelte Menschen zeigen einen gesunden Sinn und
richtiges Urteil. Freilich müßte auch die Presse durch bessere Leitung und
sorgfältige Auswahl dessen, was sie den weitesten Kreisen bietet, zur Hebung
und Veredlung des allgemeinen Geschmacks beitragen.

Leider ist bei der gegenwärtigen Organisation der deutschen Tagespresse
vorläufig für eine günstige Einwirkung von dieser Seite sehr wenig Aussicht
vorhanden. Wir leiden an einem Übermaß materiell und geistig unselbständiger
kleiner Blätter und Blättchen, deren Dasein niemandem nutzt und in: all¬
gemeinen Interesse unsrer Kulturentwicklung außerordentlich zu beklagen ist,
während es uns an Zeitungen, die in wahrhaft großem Stile geleitet werden,
noch immer mangelt. Immerhin könnte für die Anbahnung einer bessern
Bolkslitteratur auch unter den gegenwärtigen Verhältnissen die deutsche Presse
mehr leisten, als sie gegenwärtig leistet. Man benutze die erlaubten Mittel


Haben wir eine Volkslitteratur?

Zunächst muß dem Stoffgebiete nach wieder dort angeknüpft werden, wo
die Gesamtheit des deutschen Volkes sich selbst mit ihren eigensten Anschauungen
und Interessen wiedererkennt. Unsre Schriftsteller sollte»: sich weniger um
Egypten, Griechenland und Rom, und mehr um die Heimat und das Leben
ihrer Heimat kümmern. Noch immer, beinahe zwanzig Jahre nach der Wieder-
erstehuug des neuen deutschen Reiches, hängt uns der gelehrte Zopf an, der
uns verhindert, die Dinge ihrem Wesen nach, ohne gelehrte Brille zu sehen.
Hätten wir es erst zu einer möglichst klaren und rein gegenständlichen An¬
schauung der uns umgebenden Menschen und Dinge gebracht, daun — man
kann dessen sicher sein würden die meisten archäologischen und historischen
Romane ungeschrieben bleiben, weil sich an eine solche freiere Anschauung sehr
bald die Erkenntnis knüpfen würde, daß nicht jeder Stoff, der den Professor
interessirt, die Gesamtheit interessiren kann; daß es sich in der Dichtkunst nicht
um die bloße Verwertung toter Gelehrsamkeit, sondern in erster Linie um
Wiedergabe eines Empfindungsgehaltes und um das Schaffen von Gestalten
handelt. Von diesem Gesichtspunkt aus begrüßen wir selbst die unvoll¬
kommenen dichterischen Versuche der Jungdeutschen auf dem Gebiete der Er¬
zählung und der dramatischen Dichtung als Anfang einer gesunden Reaktion
gegen eine erkünstelte und schablonenhafte Litteratur. Doch damit, daß die
Schriftsteller neue Wege zu betreten suchen, ist es allein nicht gethan. Die
Heilung des hier gekennzeichneten Schadens setzt eine Veränderung im Geschmack
der breitesten Schichten des Volkes voraus, die unmöglich von heute zu morgen
eintreten kann. Eine solche Umwandlung kam: nur ganz allmählich erwartet
werden. Sie muß schon in der Volksschule vorbereitet werden; nicht nur durch
einen verbesserten Unterricht, der sich mehr an den Verstand und die An¬
schauung als an das Gedächtnis wendet, nicht nur durch die dringend not¬
wendige Verbesserung der mündlichen und schriftlichen Unterweisung in der
Muttersprache, sondern auch durch bessere körperliche Ausbildung, denn nur
naturgemäß und gesund entwickelte Menschen zeigen einen gesunden Sinn und
richtiges Urteil. Freilich müßte auch die Presse durch bessere Leitung und
sorgfältige Auswahl dessen, was sie den weitesten Kreisen bietet, zur Hebung
und Veredlung des allgemeinen Geschmacks beitragen.

Leider ist bei der gegenwärtigen Organisation der deutschen Tagespresse
vorläufig für eine günstige Einwirkung von dieser Seite sehr wenig Aussicht
vorhanden. Wir leiden an einem Übermaß materiell und geistig unselbständiger
kleiner Blätter und Blättchen, deren Dasein niemandem nutzt und in: all¬
gemeinen Interesse unsrer Kulturentwicklung außerordentlich zu beklagen ist,
während es uns an Zeitungen, die in wahrhaft großem Stile geleitet werden,
noch immer mangelt. Immerhin könnte für die Anbahnung einer bessern
Bolkslitteratur auch unter den gegenwärtigen Verhältnissen die deutsche Presse
mehr leisten, als sie gegenwärtig leistet. Man benutze die erlaubten Mittel


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[0387] Haben wir eine Volkslitteratur? Zunächst muß dem Stoffgebiete nach wieder dort angeknüpft werden, wo die Gesamtheit des deutschen Volkes sich selbst mit ihren eigensten Anschauungen und Interessen wiedererkennt. Unsre Schriftsteller sollte»: sich weniger um Egypten, Griechenland und Rom, und mehr um die Heimat und das Leben ihrer Heimat kümmern. Noch immer, beinahe zwanzig Jahre nach der Wieder- erstehuug des neuen deutschen Reiches, hängt uns der gelehrte Zopf an, der uns verhindert, die Dinge ihrem Wesen nach, ohne gelehrte Brille zu sehen. Hätten wir es erst zu einer möglichst klaren und rein gegenständlichen An¬ schauung der uns umgebenden Menschen und Dinge gebracht, daun — man kann dessen sicher sein würden die meisten archäologischen und historischen Romane ungeschrieben bleiben, weil sich an eine solche freiere Anschauung sehr bald die Erkenntnis knüpfen würde, daß nicht jeder Stoff, der den Professor interessirt, die Gesamtheit interessiren kann; daß es sich in der Dichtkunst nicht um die bloße Verwertung toter Gelehrsamkeit, sondern in erster Linie um Wiedergabe eines Empfindungsgehaltes und um das Schaffen von Gestalten handelt. Von diesem Gesichtspunkt aus begrüßen wir selbst die unvoll¬ kommenen dichterischen Versuche der Jungdeutschen auf dem Gebiete der Er¬ zählung und der dramatischen Dichtung als Anfang einer gesunden Reaktion gegen eine erkünstelte und schablonenhafte Litteratur. Doch damit, daß die Schriftsteller neue Wege zu betreten suchen, ist es allein nicht gethan. Die Heilung des hier gekennzeichneten Schadens setzt eine Veränderung im Geschmack der breitesten Schichten des Volkes voraus, die unmöglich von heute zu morgen eintreten kann. Eine solche Umwandlung kam: nur ganz allmählich erwartet werden. Sie muß schon in der Volksschule vorbereitet werden; nicht nur durch einen verbesserten Unterricht, der sich mehr an den Verstand und die An¬ schauung als an das Gedächtnis wendet, nicht nur durch die dringend not¬ wendige Verbesserung der mündlichen und schriftlichen Unterweisung in der Muttersprache, sondern auch durch bessere körperliche Ausbildung, denn nur naturgemäß und gesund entwickelte Menschen zeigen einen gesunden Sinn und richtiges Urteil. Freilich müßte auch die Presse durch bessere Leitung und sorgfältige Auswahl dessen, was sie den weitesten Kreisen bietet, zur Hebung und Veredlung des allgemeinen Geschmacks beitragen. Leider ist bei der gegenwärtigen Organisation der deutschen Tagespresse vorläufig für eine günstige Einwirkung von dieser Seite sehr wenig Aussicht vorhanden. Wir leiden an einem Übermaß materiell und geistig unselbständiger kleiner Blätter und Blättchen, deren Dasein niemandem nutzt und in: all¬ gemeinen Interesse unsrer Kulturentwicklung außerordentlich zu beklagen ist, während es uns an Zeitungen, die in wahrhaft großem Stile geleitet werden, noch immer mangelt. Immerhin könnte für die Anbahnung einer bessern Bolkslitteratur auch unter den gegenwärtigen Verhältnissen die deutsche Presse mehr leisten, als sie gegenwärtig leistet. Man benutze die erlaubten Mittel

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341849_204088/387>, abgerufen am 26.06.2024.