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Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Erstes Vierteljahr.

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Haben wir eine Volkslitteratur?

geschriebene wirklich gute Volslitteratur aus der Zeit nach der Reformation
erschöpft. Was sonst an Volkslitteratnr vorhanden ist --- und das ist die bei
weitem überwiegende Zahl aller unsrer bessern Volksdichtungen und Volks¬
schriften -- ist nicht in der allgemein üblichen Schriftsprache, sondern im Dialekt
verfaßt. So Hebel, Klaus Groth und Reuter; so zum großen Teil selbst
Berthold Auerbach, Anzengrnber und Rosegger. Die deutsche Volksseele in
ihrer Totalität, wenn ich so sagen darf, ist bis jetzt kaum durch unser Schrift¬
tum zu Worte gekommen; nur das besondre Seelenleben und Volksleben der
einzelnen Stamme hat bis jetzt eine wirklich mustergiltige Darstellung durch
unser Schrifttum gefunden. Aber auch diese Blüte der deutschen Dialekt¬
dichtung neigt sich sichtbar ihrem Ende zu. Berthold Auerbach war der erste
unter unsern neuern Volksdichtern, der sich durch das neu einfindende Leben
gezwungen sah, aus dem engen Kreise seiner Schwarzwülder Dorfgeschichten
herauszutreten und die neu sich bildende deutsche Gesellschaft in ihrer ganzen
Breite darzustellen. Anzengrnber, wie höchstens noch Rosegger im Dialekt
seiner Heimat wurzelnd, ist ihm, gezwungen durch die allgemeine Kulturent¬
wicklung, in diesem erweiterten Streben zum Teil bereits gefolgt. Ein Dialekt¬
dichter, wie Klaus Groth, schweigt schon seit Jahren, was, wie ich glauben
möchte, in der Umwandlung aller Verhältnisse seit den großen staatlichen Um¬
gestaltungen während der letzten Jahrzehnte seinen besondern, durchaus begreif¬
lichen Grund hat.

Sieht Man in das Reformationszeitalter zurück, so muß uns die deutsche
Gegenwart, im Vergleich zum fünfzehnten und sechzehnten Jahrhundert, an
großen Volksschriftstellern durchaus arm erscheinen. Der einzige Martin Luther
wiegt, und das nicht nur durch seine Bibelübersetzung, sondern schon dnrch
seine kleinern reformatorischen Flugschriften, unsre ganze gegenwärtige Volks¬
litteratnr auf! Und dabei war er, wie hier nicht erst in Erinnerung gebracht
zu werden braucht, durchaus nicht der einzige Anbauer des genannten Gebietes.
Ulrich von Hütten, Vrant, der Dichter des Narrenschiffes und Hans Sachs,
dieser Schöpfer des neudeutschen Volksschauspiels, an den sich noch Goethe in
seinem Faust anlehnen konnte, standen dem großen Sprach- und Kirchen-
reformätor zur Seite. Diese großen Volksschriftsteller brachten ein ganz neues
geistiges Element nicht allein für die allgemeine Kultur, sondern sie haben auch
dem gelehrten und akademischen Schrifttum ganz neue Anregungen gegeben.

Wir stehen heute vielleicht an einem gleich wichtigen Wendepunkt unsrer
Kultur wie zur Zeit Luthers; nur daß, wie bereits oben ausgeführt wurde,
der Kampf gegen das überwuchernde Ungesunde und Schlechte bei der großen,
ja ungeheuern Verbreitung von Preßerzengnissen heutzutage um vieles schwie¬
riger ist als vor drei und vierhundert Jahren.

Welche Mittel wären nun zu einer Besserung des allgemeinen Zustandes
in Anwendung zu bringen, und wie ist möglichst schnell Wandel zu schaffen?


Haben wir eine Volkslitteratur?

geschriebene wirklich gute Volslitteratur aus der Zeit nach der Reformation
erschöpft. Was sonst an Volkslitteratnr vorhanden ist -— und das ist die bei
weitem überwiegende Zahl aller unsrer bessern Volksdichtungen und Volks¬
schriften — ist nicht in der allgemein üblichen Schriftsprache, sondern im Dialekt
verfaßt. So Hebel, Klaus Groth und Reuter; so zum großen Teil selbst
Berthold Auerbach, Anzengrnber und Rosegger. Die deutsche Volksseele in
ihrer Totalität, wenn ich so sagen darf, ist bis jetzt kaum durch unser Schrift¬
tum zu Worte gekommen; nur das besondre Seelenleben und Volksleben der
einzelnen Stamme hat bis jetzt eine wirklich mustergiltige Darstellung durch
unser Schrifttum gefunden. Aber auch diese Blüte der deutschen Dialekt¬
dichtung neigt sich sichtbar ihrem Ende zu. Berthold Auerbach war der erste
unter unsern neuern Volksdichtern, der sich durch das neu einfindende Leben
gezwungen sah, aus dem engen Kreise seiner Schwarzwülder Dorfgeschichten
herauszutreten und die neu sich bildende deutsche Gesellschaft in ihrer ganzen
Breite darzustellen. Anzengrnber, wie höchstens noch Rosegger im Dialekt
seiner Heimat wurzelnd, ist ihm, gezwungen durch die allgemeine Kulturent¬
wicklung, in diesem erweiterten Streben zum Teil bereits gefolgt. Ein Dialekt¬
dichter, wie Klaus Groth, schweigt schon seit Jahren, was, wie ich glauben
möchte, in der Umwandlung aller Verhältnisse seit den großen staatlichen Um¬
gestaltungen während der letzten Jahrzehnte seinen besondern, durchaus begreif¬
lichen Grund hat.

Sieht Man in das Reformationszeitalter zurück, so muß uns die deutsche
Gegenwart, im Vergleich zum fünfzehnten und sechzehnten Jahrhundert, an
großen Volksschriftstellern durchaus arm erscheinen. Der einzige Martin Luther
wiegt, und das nicht nur durch seine Bibelübersetzung, sondern schon dnrch
seine kleinern reformatorischen Flugschriften, unsre ganze gegenwärtige Volks¬
litteratnr auf! Und dabei war er, wie hier nicht erst in Erinnerung gebracht
zu werden braucht, durchaus nicht der einzige Anbauer des genannten Gebietes.
Ulrich von Hütten, Vrant, der Dichter des Narrenschiffes und Hans Sachs,
dieser Schöpfer des neudeutschen Volksschauspiels, an den sich noch Goethe in
seinem Faust anlehnen konnte, standen dem großen Sprach- und Kirchen-
reformätor zur Seite. Diese großen Volksschriftsteller brachten ein ganz neues
geistiges Element nicht allein für die allgemeine Kultur, sondern sie haben auch
dem gelehrten und akademischen Schrifttum ganz neue Anregungen gegeben.

Wir stehen heute vielleicht an einem gleich wichtigen Wendepunkt unsrer
Kultur wie zur Zeit Luthers; nur daß, wie bereits oben ausgeführt wurde,
der Kampf gegen das überwuchernde Ungesunde und Schlechte bei der großen,
ja ungeheuern Verbreitung von Preßerzengnissen heutzutage um vieles schwie¬
riger ist als vor drei und vierhundert Jahren.

Welche Mittel wären nun zu einer Besserung des allgemeinen Zustandes
in Anwendung zu bringen, und wie ist möglichst schnell Wandel zu schaffen?


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[0386] Haben wir eine Volkslitteratur? geschriebene wirklich gute Volslitteratur aus der Zeit nach der Reformation erschöpft. Was sonst an Volkslitteratnr vorhanden ist -— und das ist die bei weitem überwiegende Zahl aller unsrer bessern Volksdichtungen und Volks¬ schriften — ist nicht in der allgemein üblichen Schriftsprache, sondern im Dialekt verfaßt. So Hebel, Klaus Groth und Reuter; so zum großen Teil selbst Berthold Auerbach, Anzengrnber und Rosegger. Die deutsche Volksseele in ihrer Totalität, wenn ich so sagen darf, ist bis jetzt kaum durch unser Schrift¬ tum zu Worte gekommen; nur das besondre Seelenleben und Volksleben der einzelnen Stamme hat bis jetzt eine wirklich mustergiltige Darstellung durch unser Schrifttum gefunden. Aber auch diese Blüte der deutschen Dialekt¬ dichtung neigt sich sichtbar ihrem Ende zu. Berthold Auerbach war der erste unter unsern neuern Volksdichtern, der sich durch das neu einfindende Leben gezwungen sah, aus dem engen Kreise seiner Schwarzwülder Dorfgeschichten herauszutreten und die neu sich bildende deutsche Gesellschaft in ihrer ganzen Breite darzustellen. Anzengrnber, wie höchstens noch Rosegger im Dialekt seiner Heimat wurzelnd, ist ihm, gezwungen durch die allgemeine Kulturent¬ wicklung, in diesem erweiterten Streben zum Teil bereits gefolgt. Ein Dialekt¬ dichter, wie Klaus Groth, schweigt schon seit Jahren, was, wie ich glauben möchte, in der Umwandlung aller Verhältnisse seit den großen staatlichen Um¬ gestaltungen während der letzten Jahrzehnte seinen besondern, durchaus begreif¬ lichen Grund hat. Sieht Man in das Reformationszeitalter zurück, so muß uns die deutsche Gegenwart, im Vergleich zum fünfzehnten und sechzehnten Jahrhundert, an großen Volksschriftstellern durchaus arm erscheinen. Der einzige Martin Luther wiegt, und das nicht nur durch seine Bibelübersetzung, sondern schon dnrch seine kleinern reformatorischen Flugschriften, unsre ganze gegenwärtige Volks¬ litteratnr auf! Und dabei war er, wie hier nicht erst in Erinnerung gebracht zu werden braucht, durchaus nicht der einzige Anbauer des genannten Gebietes. Ulrich von Hütten, Vrant, der Dichter des Narrenschiffes und Hans Sachs, dieser Schöpfer des neudeutschen Volksschauspiels, an den sich noch Goethe in seinem Faust anlehnen konnte, standen dem großen Sprach- und Kirchen- reformätor zur Seite. Diese großen Volksschriftsteller brachten ein ganz neues geistiges Element nicht allein für die allgemeine Kultur, sondern sie haben auch dem gelehrten und akademischen Schrifttum ganz neue Anregungen gegeben. Wir stehen heute vielleicht an einem gleich wichtigen Wendepunkt unsrer Kultur wie zur Zeit Luthers; nur daß, wie bereits oben ausgeführt wurde, der Kampf gegen das überwuchernde Ungesunde und Schlechte bei der großen, ja ungeheuern Verbreitung von Preßerzengnissen heutzutage um vieles schwie¬ riger ist als vor drei und vierhundert Jahren. Welche Mittel wären nun zu einer Besserung des allgemeinen Zustandes in Anwendung zu bringen, und wie ist möglichst schnell Wandel zu schaffen?

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341849_204088/386>, abgerufen am 26.06.2024.