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Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Erstes Vierteljahr.

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sucht, während man von der geistigen Nahrung eine stete neue Anreizung ver¬
langt, die sich bis zum Schlüsse des gebotenen Schriftwerkes natürlich immer
steigern soll. Darauf aber verstehen sich gerade die Verfasser jener viel gelesenen
Hintertreppenromane; die litterarische Wertlosigkeit ihrer Schöpfungen, die
von jeder seelischen Begründung des Vorgetragenen absehen und die Charaktere
nur in den allerrohesten Umrissen zeichnen, bildet gerade die Eigenschaft, die
ihnen zum größten Teil den äußern Erfolg sichert. Schon haben sich einzelne
findige Köpfe diesen Umstand zu nutze gemacht und den Kolportageroman in
die Form eines Familienblattes gebracht; so z. B. die in Zehntausenden von
Abzügen erscheinende "Berliner Gartenlaube." Im Grunde genommen steht
übrigens eine große Anzahl weit verbreiteter illustrirter Unterhaltungsblätter
auf einer nicht viel höhern litterarischen Stufe; die sprachliche Darstellung ist
vielleicht etwas vornehmer gehalten, dagegen erhebt sich der geistige Gehalt
der betreffenden Erzeugnisse, die in vielen Tausenden von Familien unsers Klein¬
bürgerstandes, besonders vou den Frauen, geradezu verschlungen werden, nicht
viel über die gewöhnlichste Kolpvrtagelitteratur. Der litterarische Geschmack
der Dienstherrschaft und der Köchin sind leider sehr oft im wesentlichen ein
und derselbe.

So betrübend es auch ist, man muß es offen bekennen, nicht zum ge¬
ringsten Teil trägt die Tagespresse die Schuld an dieser ästhetischen Ver¬
wilderung; besonders die kleineren Zeitungen sündigen in diesen Dingen auf
geradezu unverantwortliche Weife. Zu arm, um die Arbeiten bessrer Schrift¬
steller zu erwerben, nehmen die kleineren und kleinsten Blätter alles unbesehen
"uf, wenn es nur kein Honorar kostet. Dieser Umstand zieht noch ein zweites
Übel nach sich: ein Überwuchern höchst dilettantenhafter Frnuenschriftstellerei
uut all der daran haftenden ungesunden Sentimentalität und Sprachmißhand-
^ung. Was die niedrige Kolpvrtagelitteraur noch nicht durch ihre ungeheuerlichen
Kraftstücke verdorben hat, das verdirbt sicher die verlogene Empfindelei mit ihrer
gemachten Prüderie. Zwischen diesen beiden äußersten Enden -- Roheit und
widerlicher Verzärtelung -- bewegen sich mehr oder weniger alle die Erzeugnisse
unsers gegenwärtigen Schrifttums, die man allenfalls als Volkslitteratur be¬
zeichnen könnte. Im wahren und eigentlichen Sinne des Wortes bedeutet das
Wort Volkslitteratur allerdings etwas ganz andres.

Volkslitteratnr ist eigentlich nur die Litteratur, welche die allen Schichten
^nes Volkes gemeinsamen Lebensinteressen, Empfindungen und seelischen Er-
Wchrnngen in einer jedermann zugänglichen schriftstellerischen Form darstellt,
^u diesem wahren Sinne haben wir Deutschen bis jetzt kaum mehr als einen
Ansatz zu einer Volkslitteratur. Schillers Kabale und Liebe, Goethes Götz
von Berlichingen, eine Reihe Goethischer und Uhlandischer Gedichte gehören be-
Ivnders neben unsern alten Volksbüchern und Volsliedern hierher. Damit
""er ist, von ganz wenigen Schriftwerken abgesehen, die in hochdeutscher Sprache
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sucht, während man von der geistigen Nahrung eine stete neue Anreizung ver¬
langt, die sich bis zum Schlüsse des gebotenen Schriftwerkes natürlich immer
steigern soll. Darauf aber verstehen sich gerade die Verfasser jener viel gelesenen
Hintertreppenromane; die litterarische Wertlosigkeit ihrer Schöpfungen, die
von jeder seelischen Begründung des Vorgetragenen absehen und die Charaktere
nur in den allerrohesten Umrissen zeichnen, bildet gerade die Eigenschaft, die
ihnen zum größten Teil den äußern Erfolg sichert. Schon haben sich einzelne
findige Köpfe diesen Umstand zu nutze gemacht und den Kolportageroman in
die Form eines Familienblattes gebracht; so z. B. die in Zehntausenden von
Abzügen erscheinende „Berliner Gartenlaube." Im Grunde genommen steht
übrigens eine große Anzahl weit verbreiteter illustrirter Unterhaltungsblätter
auf einer nicht viel höhern litterarischen Stufe; die sprachliche Darstellung ist
vielleicht etwas vornehmer gehalten, dagegen erhebt sich der geistige Gehalt
der betreffenden Erzeugnisse, die in vielen Tausenden von Familien unsers Klein¬
bürgerstandes, besonders vou den Frauen, geradezu verschlungen werden, nicht
viel über die gewöhnlichste Kolpvrtagelitteratur. Der litterarische Geschmack
der Dienstherrschaft und der Köchin sind leider sehr oft im wesentlichen ein
und derselbe.

So betrübend es auch ist, man muß es offen bekennen, nicht zum ge¬
ringsten Teil trägt die Tagespresse die Schuld an dieser ästhetischen Ver¬
wilderung; besonders die kleineren Zeitungen sündigen in diesen Dingen auf
geradezu unverantwortliche Weife. Zu arm, um die Arbeiten bessrer Schrift¬
steller zu erwerben, nehmen die kleineren und kleinsten Blätter alles unbesehen
"uf, wenn es nur kein Honorar kostet. Dieser Umstand zieht noch ein zweites
Übel nach sich: ein Überwuchern höchst dilettantenhafter Frnuenschriftstellerei
uut all der daran haftenden ungesunden Sentimentalität und Sprachmißhand-
^ung. Was die niedrige Kolpvrtagelitteraur noch nicht durch ihre ungeheuerlichen
Kraftstücke verdorben hat, das verdirbt sicher die verlogene Empfindelei mit ihrer
gemachten Prüderie. Zwischen diesen beiden äußersten Enden — Roheit und
widerlicher Verzärtelung — bewegen sich mehr oder weniger alle die Erzeugnisse
unsers gegenwärtigen Schrifttums, die man allenfalls als Volkslitteratur be¬
zeichnen könnte. Im wahren und eigentlichen Sinne des Wortes bedeutet das
Wort Volkslitteratur allerdings etwas ganz andres.

Volkslitteratnr ist eigentlich nur die Litteratur, welche die allen Schichten
^nes Volkes gemeinsamen Lebensinteressen, Empfindungen und seelischen Er-
Wchrnngen in einer jedermann zugänglichen schriftstellerischen Form darstellt,
^u diesem wahren Sinne haben wir Deutschen bis jetzt kaum mehr als einen
Ansatz zu einer Volkslitteratur. Schillers Kabale und Liebe, Goethes Götz
von Berlichingen, eine Reihe Goethischer und Uhlandischer Gedichte gehören be-
Ivnders neben unsern alten Volksbüchern und Volsliedern hierher. Damit
""er ist, von ganz wenigen Schriftwerken abgesehen, die in hochdeutscher Sprache
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[0385] sucht, während man von der geistigen Nahrung eine stete neue Anreizung ver¬ langt, die sich bis zum Schlüsse des gebotenen Schriftwerkes natürlich immer steigern soll. Darauf aber verstehen sich gerade die Verfasser jener viel gelesenen Hintertreppenromane; die litterarische Wertlosigkeit ihrer Schöpfungen, die von jeder seelischen Begründung des Vorgetragenen absehen und die Charaktere nur in den allerrohesten Umrissen zeichnen, bildet gerade die Eigenschaft, die ihnen zum größten Teil den äußern Erfolg sichert. Schon haben sich einzelne findige Köpfe diesen Umstand zu nutze gemacht und den Kolportageroman in die Form eines Familienblattes gebracht; so z. B. die in Zehntausenden von Abzügen erscheinende „Berliner Gartenlaube." Im Grunde genommen steht übrigens eine große Anzahl weit verbreiteter illustrirter Unterhaltungsblätter auf einer nicht viel höhern litterarischen Stufe; die sprachliche Darstellung ist vielleicht etwas vornehmer gehalten, dagegen erhebt sich der geistige Gehalt der betreffenden Erzeugnisse, die in vielen Tausenden von Familien unsers Klein¬ bürgerstandes, besonders vou den Frauen, geradezu verschlungen werden, nicht viel über die gewöhnlichste Kolpvrtagelitteratur. Der litterarische Geschmack der Dienstherrschaft und der Köchin sind leider sehr oft im wesentlichen ein und derselbe. So betrübend es auch ist, man muß es offen bekennen, nicht zum ge¬ ringsten Teil trägt die Tagespresse die Schuld an dieser ästhetischen Ver¬ wilderung; besonders die kleineren Zeitungen sündigen in diesen Dingen auf geradezu unverantwortliche Weife. Zu arm, um die Arbeiten bessrer Schrift¬ steller zu erwerben, nehmen die kleineren und kleinsten Blätter alles unbesehen "uf, wenn es nur kein Honorar kostet. Dieser Umstand zieht noch ein zweites Übel nach sich: ein Überwuchern höchst dilettantenhafter Frnuenschriftstellerei uut all der daran haftenden ungesunden Sentimentalität und Sprachmißhand- ^ung. Was die niedrige Kolpvrtagelitteraur noch nicht durch ihre ungeheuerlichen Kraftstücke verdorben hat, das verdirbt sicher die verlogene Empfindelei mit ihrer gemachten Prüderie. Zwischen diesen beiden äußersten Enden — Roheit und widerlicher Verzärtelung — bewegen sich mehr oder weniger alle die Erzeugnisse unsers gegenwärtigen Schrifttums, die man allenfalls als Volkslitteratur be¬ zeichnen könnte. Im wahren und eigentlichen Sinne des Wortes bedeutet das Wort Volkslitteratur allerdings etwas ganz andres. Volkslitteratnr ist eigentlich nur die Litteratur, welche die allen Schichten ^nes Volkes gemeinsamen Lebensinteressen, Empfindungen und seelischen Er- Wchrnngen in einer jedermann zugänglichen schriftstellerischen Form darstellt, ^u diesem wahren Sinne haben wir Deutschen bis jetzt kaum mehr als einen Ansatz zu einer Volkslitteratur. Schillers Kabale und Liebe, Goethes Götz von Berlichingen, eine Reihe Goethischer und Uhlandischer Gedichte gehören be- Ivnders neben unsern alten Volksbüchern und Volsliedern hierher. Damit ""er ist, von ganz wenigen Schriftwerken abgesehen, die in hochdeutscher Sprache Gr enzboten I 1839 43

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341849_204088/385>, abgerufen am 26.06.2024.