Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Erstes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Haben wir eine volkslitreratnr?

durch eine Reihe billiger, ihrem Inhalte nach gesünderer Schriften entgegen¬
zuwirken; allein ohne jeden Erfolg, und das wohl nur deshalb, weil die von
Vereinen Heransgegebenen Volksschriften mehr oder weniger einen frömmelnden
Zug haben, gegen den sich nicht mir der gesunde Menschenverstand, sondern
auch das einfach menschliche Gefühl auflehnen muß. Die Folge davon ist, das;
die Masse vou schlechter und in jeder Beziehung verderblicher Kolpvrtagelitterntur
von Jahr zu Jahr wachst; denn mit jedem Jahre, ja man möchte sagen, mit
jeder Stunde ergreift das Lesebedürfnis weitere und immer weitere Kreise.

Einzelne unternehmende Verleger haben durch billige Ausgaben ver¬
sucht, die bessere, jn sogar die beste Litteratur den weitesten Kreisen zugäng¬
lich zu machen. Unternehmungen, wie die Neklamsche Universnlbiblivthek und
die Volksbibliothek des bibliographischen Institutes suchen an Wohlfeilheit
ihresgleichen; sie werden in dieser Beziehung von uiemnnd anders in ganz
Europa erreicht; nicht einmal durch die viel schlechter, als die genannten
deutschen Bibliotheken, ausgestatteten englischen Pennhausgaben. Und doch!
Täuscht nicht alles, so werden auch diese anerkennenswerten litterarischen Unter¬
nehmungen der schlechten Kolportagelitteratur nur sehr wenig Abbruch thun.
Woran liegt das? Zum Teil unzweifelhaft an der uicht immer sehr zweck¬
mäßigen Auswahl. Reklam und Meyer bringen alles durcheinander: schöne
Litteratur und Geschichte; Philosophie und wissenschaftliche Werke; Schriften,
die uur uoch ein rein geschichtliches Interesse in Anspruch nehmen können,
und Werke der neuesten, sogenannten realistischen Richtung; ausländische und
einheimische Litteratur. Eine solche planlose Überfülle macht selbst dein Ge¬
bildeten die rechte Auswahl schwer; wie vielmehr dein Ungebildeten! Zuletzt
sind deshalb auch diese Unternehmungen viel mehr auf den Unbemittelten,
als auf den Ungebildeten oder gar auf die nach Millionen zählenden Leser
aus den weitesten Volksschichten berechnet. Aber selbst wenn die genannten
Unternehmungen auf das der gewöhnlichen Kvlportagelitteratur zugethane
Publikum eine größere Rücksicht nehmen wollten, etwa durch eine sorgfältige
Auswahl, würde, wie ich fürchte, das Ergebnis kein besonders ermutigendes
sein; auch dann würden höchst wahrscheinlich die Hintertreppenromane über
Lessing, Goethe und Schiller, jn sogar über die gewiß volkstümlichen Matthias
Claudius, Hebel und Gotthelf den Sieg davontragen.

Das liegt nicht nur am Inhalt, es liegt mich in der rein äußern Form.
Es ist eine sehr bemerkenswerte und, soviel ich weiß, uoch uirgeuds genügend
hervorgehobene Thatsache, daß die Zeitungslittercitnr gerade in den niedrigsten
und ungebildetsten Schichten der Bevölkerung dadurch, daß sie Erzählungen und
Romane cßlösfelweise verabreicht, die geschlossene Buchform zum größten Teil
vollkommen verdrängt hat. Man nimmt jeden Tag seine Portion Unterhaltungs¬
lektüre ein, wie man etwa seine Portion Mittagessen oder Kaffee verzehrt; uur
daß man sich bei der materiellen Nahrung soviel wie möglich zu sättigen


Haben wir eine volkslitreratnr?

durch eine Reihe billiger, ihrem Inhalte nach gesünderer Schriften entgegen¬
zuwirken; allein ohne jeden Erfolg, und das wohl nur deshalb, weil die von
Vereinen Heransgegebenen Volksschriften mehr oder weniger einen frömmelnden
Zug haben, gegen den sich nicht mir der gesunde Menschenverstand, sondern
auch das einfach menschliche Gefühl auflehnen muß. Die Folge davon ist, das;
die Masse vou schlechter und in jeder Beziehung verderblicher Kolpvrtagelitterntur
von Jahr zu Jahr wachst; denn mit jedem Jahre, ja man möchte sagen, mit
jeder Stunde ergreift das Lesebedürfnis weitere und immer weitere Kreise.

Einzelne unternehmende Verleger haben durch billige Ausgaben ver¬
sucht, die bessere, jn sogar die beste Litteratur den weitesten Kreisen zugäng¬
lich zu machen. Unternehmungen, wie die Neklamsche Universnlbiblivthek und
die Volksbibliothek des bibliographischen Institutes suchen an Wohlfeilheit
ihresgleichen; sie werden in dieser Beziehung von uiemnnd anders in ganz
Europa erreicht; nicht einmal durch die viel schlechter, als die genannten
deutschen Bibliotheken, ausgestatteten englischen Pennhausgaben. Und doch!
Täuscht nicht alles, so werden auch diese anerkennenswerten litterarischen Unter¬
nehmungen der schlechten Kolportagelitteratur nur sehr wenig Abbruch thun.
Woran liegt das? Zum Teil unzweifelhaft an der uicht immer sehr zweck¬
mäßigen Auswahl. Reklam und Meyer bringen alles durcheinander: schöne
Litteratur und Geschichte; Philosophie und wissenschaftliche Werke; Schriften,
die uur uoch ein rein geschichtliches Interesse in Anspruch nehmen können,
und Werke der neuesten, sogenannten realistischen Richtung; ausländische und
einheimische Litteratur. Eine solche planlose Überfülle macht selbst dein Ge¬
bildeten die rechte Auswahl schwer; wie vielmehr dein Ungebildeten! Zuletzt
sind deshalb auch diese Unternehmungen viel mehr auf den Unbemittelten,
als auf den Ungebildeten oder gar auf die nach Millionen zählenden Leser
aus den weitesten Volksschichten berechnet. Aber selbst wenn die genannten
Unternehmungen auf das der gewöhnlichen Kvlportagelitteratur zugethane
Publikum eine größere Rücksicht nehmen wollten, etwa durch eine sorgfältige
Auswahl, würde, wie ich fürchte, das Ergebnis kein besonders ermutigendes
sein; auch dann würden höchst wahrscheinlich die Hintertreppenromane über
Lessing, Goethe und Schiller, jn sogar über die gewiß volkstümlichen Matthias
Claudius, Hebel und Gotthelf den Sieg davontragen.

Das liegt nicht nur am Inhalt, es liegt mich in der rein äußern Form.
Es ist eine sehr bemerkenswerte und, soviel ich weiß, uoch uirgeuds genügend
hervorgehobene Thatsache, daß die Zeitungslittercitnr gerade in den niedrigsten
und ungebildetsten Schichten der Bevölkerung dadurch, daß sie Erzählungen und
Romane cßlösfelweise verabreicht, die geschlossene Buchform zum größten Teil
vollkommen verdrängt hat. Man nimmt jeden Tag seine Portion Unterhaltungs¬
lektüre ein, wie man etwa seine Portion Mittagessen oder Kaffee verzehrt; uur
daß man sich bei der materiellen Nahrung soviel wie möglich zu sättigen


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0384" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/204473"/>
          <fw type="header" place="top"> Haben wir eine volkslitreratnr?</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1207" prev="#ID_1206"> durch eine Reihe billiger, ihrem Inhalte nach gesünderer Schriften entgegen¬<lb/>
zuwirken; allein ohne jeden Erfolg, und das wohl nur deshalb, weil die von<lb/>
Vereinen Heransgegebenen Volksschriften mehr oder weniger einen frömmelnden<lb/>
Zug haben, gegen den sich nicht mir der gesunde Menschenverstand, sondern<lb/>
auch das einfach menschliche Gefühl auflehnen muß. Die Folge davon ist, das;<lb/>
die Masse vou schlechter und in jeder Beziehung verderblicher Kolpvrtagelitterntur<lb/>
von Jahr zu Jahr wachst; denn mit jedem Jahre, ja man möchte sagen, mit<lb/>
jeder Stunde ergreift das Lesebedürfnis weitere und immer weitere Kreise.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1208"> Einzelne unternehmende Verleger haben durch billige Ausgaben ver¬<lb/>
sucht, die bessere, jn sogar die beste Litteratur den weitesten Kreisen zugäng¬<lb/>
lich zu machen. Unternehmungen, wie die Neklamsche Universnlbiblivthek und<lb/>
die Volksbibliothek des bibliographischen Institutes suchen an Wohlfeilheit<lb/>
ihresgleichen; sie werden in dieser Beziehung von uiemnnd anders in ganz<lb/>
Europa erreicht; nicht einmal durch die viel schlechter, als die genannten<lb/>
deutschen Bibliotheken, ausgestatteten englischen Pennhausgaben. Und doch!<lb/>
Täuscht nicht alles, so werden auch diese anerkennenswerten litterarischen Unter¬<lb/>
nehmungen der schlechten Kolportagelitteratur nur sehr wenig Abbruch thun.<lb/>
Woran liegt das? Zum Teil unzweifelhaft an der uicht immer sehr zweck¬<lb/>
mäßigen Auswahl. Reklam und Meyer bringen alles durcheinander: schöne<lb/>
Litteratur und Geschichte; Philosophie und wissenschaftliche Werke; Schriften,<lb/>
die uur uoch ein rein geschichtliches Interesse in Anspruch nehmen können,<lb/>
und Werke der neuesten, sogenannten realistischen Richtung; ausländische und<lb/>
einheimische Litteratur. Eine solche planlose Überfülle macht selbst dein Ge¬<lb/>
bildeten die rechte Auswahl schwer; wie vielmehr dein Ungebildeten! Zuletzt<lb/>
sind deshalb auch diese Unternehmungen viel mehr auf den Unbemittelten,<lb/>
als auf den Ungebildeten oder gar auf die nach Millionen zählenden Leser<lb/>
aus den weitesten Volksschichten berechnet. Aber selbst wenn die genannten<lb/>
Unternehmungen auf das der gewöhnlichen Kvlportagelitteratur zugethane<lb/>
Publikum eine größere Rücksicht nehmen wollten, etwa durch eine sorgfältige<lb/>
Auswahl, würde, wie ich fürchte, das Ergebnis kein besonders ermutigendes<lb/>
sein; auch dann würden höchst wahrscheinlich die Hintertreppenromane über<lb/>
Lessing, Goethe und Schiller, jn sogar über die gewiß volkstümlichen Matthias<lb/>
Claudius, Hebel und Gotthelf den Sieg davontragen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1209" next="#ID_1210"> Das liegt nicht nur am Inhalt, es liegt mich in der rein äußern Form.<lb/>
Es ist eine sehr bemerkenswerte und, soviel ich weiß, uoch uirgeuds genügend<lb/>
hervorgehobene Thatsache, daß die Zeitungslittercitnr gerade in den niedrigsten<lb/>
und ungebildetsten Schichten der Bevölkerung dadurch, daß sie Erzählungen und<lb/>
Romane cßlösfelweise verabreicht, die geschlossene Buchform zum größten Teil<lb/>
vollkommen verdrängt hat. Man nimmt jeden Tag seine Portion Unterhaltungs¬<lb/>
lektüre ein, wie man etwa seine Portion Mittagessen oder Kaffee verzehrt; uur<lb/>
daß man sich bei der materiellen Nahrung soviel wie möglich zu sättigen</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0384] Haben wir eine volkslitreratnr? durch eine Reihe billiger, ihrem Inhalte nach gesünderer Schriften entgegen¬ zuwirken; allein ohne jeden Erfolg, und das wohl nur deshalb, weil die von Vereinen Heransgegebenen Volksschriften mehr oder weniger einen frömmelnden Zug haben, gegen den sich nicht mir der gesunde Menschenverstand, sondern auch das einfach menschliche Gefühl auflehnen muß. Die Folge davon ist, das; die Masse vou schlechter und in jeder Beziehung verderblicher Kolpvrtagelitterntur von Jahr zu Jahr wachst; denn mit jedem Jahre, ja man möchte sagen, mit jeder Stunde ergreift das Lesebedürfnis weitere und immer weitere Kreise. Einzelne unternehmende Verleger haben durch billige Ausgaben ver¬ sucht, die bessere, jn sogar die beste Litteratur den weitesten Kreisen zugäng¬ lich zu machen. Unternehmungen, wie die Neklamsche Universnlbiblivthek und die Volksbibliothek des bibliographischen Institutes suchen an Wohlfeilheit ihresgleichen; sie werden in dieser Beziehung von uiemnnd anders in ganz Europa erreicht; nicht einmal durch die viel schlechter, als die genannten deutschen Bibliotheken, ausgestatteten englischen Pennhausgaben. Und doch! Täuscht nicht alles, so werden auch diese anerkennenswerten litterarischen Unter¬ nehmungen der schlechten Kolportagelitteratur nur sehr wenig Abbruch thun. Woran liegt das? Zum Teil unzweifelhaft an der uicht immer sehr zweck¬ mäßigen Auswahl. Reklam und Meyer bringen alles durcheinander: schöne Litteratur und Geschichte; Philosophie und wissenschaftliche Werke; Schriften, die uur uoch ein rein geschichtliches Interesse in Anspruch nehmen können, und Werke der neuesten, sogenannten realistischen Richtung; ausländische und einheimische Litteratur. Eine solche planlose Überfülle macht selbst dein Ge¬ bildeten die rechte Auswahl schwer; wie vielmehr dein Ungebildeten! Zuletzt sind deshalb auch diese Unternehmungen viel mehr auf den Unbemittelten, als auf den Ungebildeten oder gar auf die nach Millionen zählenden Leser aus den weitesten Volksschichten berechnet. Aber selbst wenn die genannten Unternehmungen auf das der gewöhnlichen Kvlportagelitteratur zugethane Publikum eine größere Rücksicht nehmen wollten, etwa durch eine sorgfältige Auswahl, würde, wie ich fürchte, das Ergebnis kein besonders ermutigendes sein; auch dann würden höchst wahrscheinlich die Hintertreppenromane über Lessing, Goethe und Schiller, jn sogar über die gewiß volkstümlichen Matthias Claudius, Hebel und Gotthelf den Sieg davontragen. Das liegt nicht nur am Inhalt, es liegt mich in der rein äußern Form. Es ist eine sehr bemerkenswerte und, soviel ich weiß, uoch uirgeuds genügend hervorgehobene Thatsache, daß die Zeitungslittercitnr gerade in den niedrigsten und ungebildetsten Schichten der Bevölkerung dadurch, daß sie Erzählungen und Romane cßlösfelweise verabreicht, die geschlossene Buchform zum größten Teil vollkommen verdrängt hat. Man nimmt jeden Tag seine Portion Unterhaltungs¬ lektüre ein, wie man etwa seine Portion Mittagessen oder Kaffee verzehrt; uur daß man sich bei der materiellen Nahrung soviel wie möglich zu sättigen

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341849_204088
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341849_204088/384
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341849_204088/384>, abgerufen am 26.06.2024.