Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Erstes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite


Haben wir eine Volkslitteratur?

as Bestreben, eüie Volkslitteratur irr wahren Sinne des Wortes
zu schaffen, hat während des letzten Jahrzehntes in Deutschland
sehr verschiedenartige litterarische Formen angenommen. Einzelne
unter unsern jüngern Schriftstellern glaubten zwar bei öffent¬
licher Besprechung der Frage das bisher auf diesem Gebiete ge¬
schaffene als gar nicht bestehend oder nur als unvollkommenen Versuch bezeichnen
zu müssen. Dennoch ist ein näheres Eingehen auf dieses Thema angesichts
der täglich wachsenden Zahl von Kolportagelitteratnr nicht nur anerkennens¬
wert, sondern im hohen Grade notwendig. Hier handelt es sich wirklich um
einen Gegenstand, der, wie vielleicht kein andrer auf idealem Gebiete, für
unser gesamtes Kulturleben von der allergrößten Wichtigkeit ist.

Sehen wir uns einmal in der europäischen Litteratur um. Da muß es uns
zunächst auffallen, daß im Gegensatz zu der Litteraturperiode der fünfziger und
sechziger Jahre das Leben der Unbemittelten und sogenannten Enterbten mit
Vorliebe von den Schriftstellern in ihren Werken behandelt wird. Das ist sicher
^in Zufall; ebenso wenig, wie die Art der Behandlung, die bald bewußt, bald
unbewußt, meistenteils eine gegen die bestehende Gesellschaftsordnung gekehrte
Dichtung verrät. Wer sind die gelesensten unter den neuern europäischen
Schriftstellern? Unzweifelhaft nicht Theodor Storm, Paul Heyse und Gott¬
fried Keller, sondern Zola, Turgeujeff, Dostojewsky, Ibsen und ihre Nach¬
beter. Dergleichen muß auch bei uns Deutschen zu denken geben, besonders,
^ Leute, wie Max Krätzer und andre, wenn auch bei weitem mit geringerm
Talente und geringerm Erfolge, dieselben Bahnen wandeln. Neben dieser
Gruppe tendenziöser Schriftsteller werden von der großen Masse in Deutsch-
nur noch die schlimmsten Schauder- und Mvrdromane gelesen; jene merk¬
würdigen litterarischen Produkte, bei denen der durch diese Ware zu Wohlstand,
Reichtum gekommene Verleger die Anzahl der Raubanfällc, Totschläge und
Morde im voraus bei dem für das Brot schreibenden Verfasser bestellt und
°w Abnehmern seines Verlages noch ein Ölbild oder einen Spiegel in Gold¬
rahmen als Zugabe bietet. Dabei soll von jener untersten Litteraturgattnng,
^ ^ auf den Sinnenkitzel ausgeht und von der Zote lebt, hier gar nicht weiter
gesprochen werden. In einzelnen Teilen Deutschlands haben es nun zwar Vereine
unternommen, diesen schmutzigen Strom der hier bezeichneten Volkslitteratur




Haben wir eine Volkslitteratur?

as Bestreben, eüie Volkslitteratur irr wahren Sinne des Wortes
zu schaffen, hat während des letzten Jahrzehntes in Deutschland
sehr verschiedenartige litterarische Formen angenommen. Einzelne
unter unsern jüngern Schriftstellern glaubten zwar bei öffent¬
licher Besprechung der Frage das bisher auf diesem Gebiete ge¬
schaffene als gar nicht bestehend oder nur als unvollkommenen Versuch bezeichnen
zu müssen. Dennoch ist ein näheres Eingehen auf dieses Thema angesichts
der täglich wachsenden Zahl von Kolportagelitteratnr nicht nur anerkennens¬
wert, sondern im hohen Grade notwendig. Hier handelt es sich wirklich um
einen Gegenstand, der, wie vielleicht kein andrer auf idealem Gebiete, für
unser gesamtes Kulturleben von der allergrößten Wichtigkeit ist.

Sehen wir uns einmal in der europäischen Litteratur um. Da muß es uns
zunächst auffallen, daß im Gegensatz zu der Litteraturperiode der fünfziger und
sechziger Jahre das Leben der Unbemittelten und sogenannten Enterbten mit
Vorliebe von den Schriftstellern in ihren Werken behandelt wird. Das ist sicher
^in Zufall; ebenso wenig, wie die Art der Behandlung, die bald bewußt, bald
unbewußt, meistenteils eine gegen die bestehende Gesellschaftsordnung gekehrte
Dichtung verrät. Wer sind die gelesensten unter den neuern europäischen
Schriftstellern? Unzweifelhaft nicht Theodor Storm, Paul Heyse und Gott¬
fried Keller, sondern Zola, Turgeujeff, Dostojewsky, Ibsen und ihre Nach¬
beter. Dergleichen muß auch bei uns Deutschen zu denken geben, besonders,
^ Leute, wie Max Krätzer und andre, wenn auch bei weitem mit geringerm
Talente und geringerm Erfolge, dieselben Bahnen wandeln. Neben dieser
Gruppe tendenziöser Schriftsteller werden von der großen Masse in Deutsch-
nur noch die schlimmsten Schauder- und Mvrdromane gelesen; jene merk¬
würdigen litterarischen Produkte, bei denen der durch diese Ware zu Wohlstand,
Reichtum gekommene Verleger die Anzahl der Raubanfällc, Totschläge und
Morde im voraus bei dem für das Brot schreibenden Verfasser bestellt und
°w Abnehmern seines Verlages noch ein Ölbild oder einen Spiegel in Gold¬
rahmen als Zugabe bietet. Dabei soll von jener untersten Litteraturgattnng,
^ ^ auf den Sinnenkitzel ausgeht und von der Zote lebt, hier gar nicht weiter
gesprochen werden. In einzelnen Teilen Deutschlands haben es nun zwar Vereine
unternommen, diesen schmutzigen Strom der hier bezeichneten Volkslitteratur


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0383" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/204472"/>
          <figure facs="http://media.dwds.de/dta/images/grenzboten_341849_204088/figures/grenzboten_341849_204088_204472_000.jpg"/><lb/>
        </div>
        <div n="1">
          <head> Haben wir eine Volkslitteratur?</head><lb/>
          <p xml:id="ID_1205"> as Bestreben, eüie Volkslitteratur irr wahren Sinne des Wortes<lb/>
zu schaffen, hat während des letzten Jahrzehntes in Deutschland<lb/>
sehr verschiedenartige litterarische Formen angenommen. Einzelne<lb/>
unter unsern jüngern Schriftstellern glaubten zwar bei öffent¬<lb/>
licher Besprechung der Frage das bisher auf diesem Gebiete ge¬<lb/>
schaffene als gar nicht bestehend oder nur als unvollkommenen Versuch bezeichnen<lb/>
zu müssen. Dennoch ist ein näheres Eingehen auf dieses Thema angesichts<lb/>
der täglich wachsenden Zahl von Kolportagelitteratnr nicht nur anerkennens¬<lb/>
wert, sondern im hohen Grade notwendig. Hier handelt es sich wirklich um<lb/>
einen Gegenstand, der, wie vielleicht kein andrer auf idealem Gebiete, für<lb/>
unser gesamtes Kulturleben von der allergrößten Wichtigkeit ist.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1206" next="#ID_1207"> Sehen wir uns einmal in der europäischen Litteratur um. Da muß es uns<lb/>
zunächst auffallen, daß im Gegensatz zu der Litteraturperiode der fünfziger und<lb/>
sechziger Jahre das Leben der Unbemittelten und sogenannten Enterbten mit<lb/>
Vorliebe von den Schriftstellern in ihren Werken behandelt wird. Das ist sicher<lb/>
^in Zufall; ebenso wenig, wie die Art der Behandlung, die bald bewußt, bald<lb/>
unbewußt, meistenteils eine gegen die bestehende Gesellschaftsordnung gekehrte<lb/>
Dichtung verrät. Wer sind die gelesensten unter den neuern europäischen<lb/>
Schriftstellern? Unzweifelhaft nicht Theodor Storm, Paul Heyse und Gott¬<lb/>
fried Keller, sondern Zola, Turgeujeff, Dostojewsky, Ibsen und ihre Nach¬<lb/>
beter. Dergleichen muß auch bei uns Deutschen zu denken geben, besonders,<lb/>
^ Leute, wie Max Krätzer und andre, wenn auch bei weitem mit geringerm<lb/>
Talente und geringerm Erfolge, dieselben Bahnen wandeln. Neben dieser<lb/>
Gruppe tendenziöser Schriftsteller werden von der großen Masse in Deutsch-<lb/>
nur noch die schlimmsten Schauder- und Mvrdromane gelesen; jene merk¬<lb/>
würdigen litterarischen Produkte, bei denen der durch diese Ware zu Wohlstand,<lb/>
Reichtum gekommene Verleger die Anzahl der Raubanfällc, Totschläge und<lb/>
Morde im voraus bei dem für das Brot schreibenden Verfasser bestellt und<lb/>
°w Abnehmern seines Verlages noch ein Ölbild oder einen Spiegel in Gold¬<lb/>
rahmen als Zugabe bietet. Dabei soll von jener untersten Litteraturgattnng,<lb/>
^ ^ auf den Sinnenkitzel ausgeht und von der Zote lebt, hier gar nicht weiter<lb/>
gesprochen werden. In einzelnen Teilen Deutschlands haben es nun zwar Vereine<lb/>
unternommen, diesen schmutzigen Strom der hier bezeichneten Volkslitteratur</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0383] [Abbildung] Haben wir eine Volkslitteratur? as Bestreben, eüie Volkslitteratur irr wahren Sinne des Wortes zu schaffen, hat während des letzten Jahrzehntes in Deutschland sehr verschiedenartige litterarische Formen angenommen. Einzelne unter unsern jüngern Schriftstellern glaubten zwar bei öffent¬ licher Besprechung der Frage das bisher auf diesem Gebiete ge¬ schaffene als gar nicht bestehend oder nur als unvollkommenen Versuch bezeichnen zu müssen. Dennoch ist ein näheres Eingehen auf dieses Thema angesichts der täglich wachsenden Zahl von Kolportagelitteratnr nicht nur anerkennens¬ wert, sondern im hohen Grade notwendig. Hier handelt es sich wirklich um einen Gegenstand, der, wie vielleicht kein andrer auf idealem Gebiete, für unser gesamtes Kulturleben von der allergrößten Wichtigkeit ist. Sehen wir uns einmal in der europäischen Litteratur um. Da muß es uns zunächst auffallen, daß im Gegensatz zu der Litteraturperiode der fünfziger und sechziger Jahre das Leben der Unbemittelten und sogenannten Enterbten mit Vorliebe von den Schriftstellern in ihren Werken behandelt wird. Das ist sicher ^in Zufall; ebenso wenig, wie die Art der Behandlung, die bald bewußt, bald unbewußt, meistenteils eine gegen die bestehende Gesellschaftsordnung gekehrte Dichtung verrät. Wer sind die gelesensten unter den neuern europäischen Schriftstellern? Unzweifelhaft nicht Theodor Storm, Paul Heyse und Gott¬ fried Keller, sondern Zola, Turgeujeff, Dostojewsky, Ibsen und ihre Nach¬ beter. Dergleichen muß auch bei uns Deutschen zu denken geben, besonders, ^ Leute, wie Max Krätzer und andre, wenn auch bei weitem mit geringerm Talente und geringerm Erfolge, dieselben Bahnen wandeln. Neben dieser Gruppe tendenziöser Schriftsteller werden von der großen Masse in Deutsch- nur noch die schlimmsten Schauder- und Mvrdromane gelesen; jene merk¬ würdigen litterarischen Produkte, bei denen der durch diese Ware zu Wohlstand, Reichtum gekommene Verleger die Anzahl der Raubanfällc, Totschläge und Morde im voraus bei dem für das Brot schreibenden Verfasser bestellt und °w Abnehmern seines Verlages noch ein Ölbild oder einen Spiegel in Gold¬ rahmen als Zugabe bietet. Dabei soll von jener untersten Litteraturgattnng, ^ ^ auf den Sinnenkitzel ausgeht und von der Zote lebt, hier gar nicht weiter gesprochen werden. In einzelnen Teilen Deutschlands haben es nun zwar Vereine unternommen, diesen schmutzigen Strom der hier bezeichneten Volkslitteratur

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341849_204088
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341849_204088/383
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341849_204088/383>, abgerufen am 26.06.2024.