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Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Erstes Vierteljahr.

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Nicht ganz unbestritten allerdings ist das Statut von 1850 in der Folge
geblieben: von 1851--1859 wurden die Wahlen unterbrochen, und es blieben
beinahe ein Jahrzehnt dieselben Vertreter, ohne daß aus der Bürgerschaft
frische Kräfte aufgenommen werden konnten. Für die, welche starben oder
ihr Mandat niederlegten, traten Ernannte der Regierung ein: noch einmal
warf die Zeit des büreaukratischen Absolutismus schwarze Schatten in das
Rathaus in der Wippliugerstraße. Zuletzt aber, uoch vor dem unglücklichen
Feldzug von 1859, siegten die Ideen Stations und der Gemeindeautonvmie.
Wenig verändert erschien das Statut von 1850 wieder in dem Gemeindegesetz
von 1862, das der erste österreichische Reichsrat beschloß. Neu war uur die
Beschränkung, daß alle finanziellen Beschlüsse des Gemeinderath von der Ge-
nehmigung des Landtages abhängig gemacht wurden. Die nächsten Jahre
brachten noch einige Zugeständnisse in demokratischein Sinne: 1867 verlor die
Gemeindeangehörigkeit ihre politische Bedeutung, jeder, der eine gewisse Zeit
in Wien ansässig ist und Steuer zahlt, besitzt jetzt das aktive Wahlrecht. Am
14. Dezember 1885 wurde dieses auch auf die früher ausgeschlossenen Steuer¬
träger der niedersten Klasse ausgedehnt, die Fünf-Gulden-Wahlmänner traten
auf den politischen Plan.

Es wäre ungerecht, zu leugnen, daß der Gemeinderat in den neunund-
zwanzig Jahren der Autonomie, die bereits hinter uns liegen, manches Nütz¬
liche, ja Große geschaffen hat: wir erinnern nur an die Hochquellenwasserleitung
und die Donaureguliruug. An dem Niedergang der Stadt, über den nun
schon so lange und nicht ohne Übertreibung geklagt wird, trägt er die geringste
Schuld, die politischen Verhältnisse, die den Schwerpunkt des Reiches mehr
nach Osten gerückt haben, mußten ihn bewirken. Wir wagen es übrigens an
dieser Stelle, den ketzerischen Zweifel auszusprechen, ob es für die Bewohner
Wiens wirklich ein Segen wäre, wenn ihre Stadt sich einmal, wie unsre
Journalisten wünschen und hoffen, bis an den Wienerwald erstreckte, ein
Nachtleben in ihr entstünde, wie in Paris oder Berlin, und all die vielen
kleinen Gemeinwesen, die rings um ihre Linienwälle liegen, in ihr aufgingen.
Leichter und reiner bethätigt sich doch der Bürgersinn in engerem Kreise, ge¬
sünder und tüchtiger wächst die Jugend in der Nichtgrvßstadt empor, und es
will uus kein Gewinn scheinen, daß an Stelle der bäuerlichen Umwohner unsrer
Residenz neue Massen von Fabriksklaven und Proletariern treten. Dies mögen
veraltete Ansichten sein, aber wir hegen sie nun eiuinnl.




Nicht ganz unbestritten allerdings ist das Statut von 1850 in der Folge
geblieben: von 1851—1859 wurden die Wahlen unterbrochen, und es blieben
beinahe ein Jahrzehnt dieselben Vertreter, ohne daß aus der Bürgerschaft
frische Kräfte aufgenommen werden konnten. Für die, welche starben oder
ihr Mandat niederlegten, traten Ernannte der Regierung ein: noch einmal
warf die Zeit des büreaukratischen Absolutismus schwarze Schatten in das
Rathaus in der Wippliugerstraße. Zuletzt aber, uoch vor dem unglücklichen
Feldzug von 1859, siegten die Ideen Stations und der Gemeindeautonvmie.
Wenig verändert erschien das Statut von 1850 wieder in dem Gemeindegesetz
von 1862, das der erste österreichische Reichsrat beschloß. Neu war uur die
Beschränkung, daß alle finanziellen Beschlüsse des Gemeinderath von der Ge-
nehmigung des Landtages abhängig gemacht wurden. Die nächsten Jahre
brachten noch einige Zugeständnisse in demokratischein Sinne: 1867 verlor die
Gemeindeangehörigkeit ihre politische Bedeutung, jeder, der eine gewisse Zeit
in Wien ansässig ist und Steuer zahlt, besitzt jetzt das aktive Wahlrecht. Am
14. Dezember 1885 wurde dieses auch auf die früher ausgeschlossenen Steuer¬
träger der niedersten Klasse ausgedehnt, die Fünf-Gulden-Wahlmänner traten
auf den politischen Plan.

Es wäre ungerecht, zu leugnen, daß der Gemeinderat in den neunund-
zwanzig Jahren der Autonomie, die bereits hinter uns liegen, manches Nütz¬
liche, ja Große geschaffen hat: wir erinnern nur an die Hochquellenwasserleitung
und die Donaureguliruug. An dem Niedergang der Stadt, über den nun
schon so lange und nicht ohne Übertreibung geklagt wird, trägt er die geringste
Schuld, die politischen Verhältnisse, die den Schwerpunkt des Reiches mehr
nach Osten gerückt haben, mußten ihn bewirken. Wir wagen es übrigens an
dieser Stelle, den ketzerischen Zweifel auszusprechen, ob es für die Bewohner
Wiens wirklich ein Segen wäre, wenn ihre Stadt sich einmal, wie unsre
Journalisten wünschen und hoffen, bis an den Wienerwald erstreckte, ein
Nachtleben in ihr entstünde, wie in Paris oder Berlin, und all die vielen
kleinen Gemeinwesen, die rings um ihre Linienwälle liegen, in ihr aufgingen.
Leichter und reiner bethätigt sich doch der Bürgersinn in engerem Kreise, ge¬
sünder und tüchtiger wächst die Jugend in der Nichtgrvßstadt empor, und es
will uus kein Gewinn scheinen, daß an Stelle der bäuerlichen Umwohner unsrer
Residenz neue Massen von Fabriksklaven und Proletariern treten. Dies mögen
veraltete Ansichten sein, aber wir hegen sie nun eiuinnl.




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[0382] Nicht ganz unbestritten allerdings ist das Statut von 1850 in der Folge geblieben: von 1851—1859 wurden die Wahlen unterbrochen, und es blieben beinahe ein Jahrzehnt dieselben Vertreter, ohne daß aus der Bürgerschaft frische Kräfte aufgenommen werden konnten. Für die, welche starben oder ihr Mandat niederlegten, traten Ernannte der Regierung ein: noch einmal warf die Zeit des büreaukratischen Absolutismus schwarze Schatten in das Rathaus in der Wippliugerstraße. Zuletzt aber, uoch vor dem unglücklichen Feldzug von 1859, siegten die Ideen Stations und der Gemeindeautonvmie. Wenig verändert erschien das Statut von 1850 wieder in dem Gemeindegesetz von 1862, das der erste österreichische Reichsrat beschloß. Neu war uur die Beschränkung, daß alle finanziellen Beschlüsse des Gemeinderath von der Ge- nehmigung des Landtages abhängig gemacht wurden. Die nächsten Jahre brachten noch einige Zugeständnisse in demokratischein Sinne: 1867 verlor die Gemeindeangehörigkeit ihre politische Bedeutung, jeder, der eine gewisse Zeit in Wien ansässig ist und Steuer zahlt, besitzt jetzt das aktive Wahlrecht. Am 14. Dezember 1885 wurde dieses auch auf die früher ausgeschlossenen Steuer¬ träger der niedersten Klasse ausgedehnt, die Fünf-Gulden-Wahlmänner traten auf den politischen Plan. Es wäre ungerecht, zu leugnen, daß der Gemeinderat in den neunund- zwanzig Jahren der Autonomie, die bereits hinter uns liegen, manches Nütz¬ liche, ja Große geschaffen hat: wir erinnern nur an die Hochquellenwasserleitung und die Donaureguliruug. An dem Niedergang der Stadt, über den nun schon so lange und nicht ohne Übertreibung geklagt wird, trägt er die geringste Schuld, die politischen Verhältnisse, die den Schwerpunkt des Reiches mehr nach Osten gerückt haben, mußten ihn bewirken. Wir wagen es übrigens an dieser Stelle, den ketzerischen Zweifel auszusprechen, ob es für die Bewohner Wiens wirklich ein Segen wäre, wenn ihre Stadt sich einmal, wie unsre Journalisten wünschen und hoffen, bis an den Wienerwald erstreckte, ein Nachtleben in ihr entstünde, wie in Paris oder Berlin, und all die vielen kleinen Gemeinwesen, die rings um ihre Linienwälle liegen, in ihr aufgingen. Leichter und reiner bethätigt sich doch der Bürgersinn in engerem Kreise, ge¬ sünder und tüchtiger wächst die Jugend in der Nichtgrvßstadt empor, und es will uus kein Gewinn scheinen, daß an Stelle der bäuerlichen Umwohner unsrer Residenz neue Massen von Fabriksklaven und Proletariern treten. Dies mögen veraltete Ansichten sein, aber wir hegen sie nun eiuinnl.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341849_204088/382>, abgerufen am 26.06.2024.