Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Erstes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Die Grenzen zwischen Dichtung und Wissenschaft

die poetische Darstellung bis zur Lähmung. Zola hat in seinem Roman
I^Oeuvro das Bestreben, eine Welt künstlerisch darzustellen, in der kein
Unterschied von groß und klein, von organisch und unorganisch besteht und
die Pflastersteine der Straße dieselbe Bedeutung hätten wie die Menschen, als
etwas Großartiges und Wünschenswertes gepriesen, hat aber doch eben dies
Bestreben tragisch enden lassen. Gleichwohl wäre eine Malerei, in der der
Mensch zu einem nicht mehr als jede andre Erscheinung bedeutenden Vrnchteil
herabgedrückt würde, immer noch eher denkbar, als eine solche Dichtung. Der
"Alte von Weimar" sagt einfach: "Wir wissen von keiner Kunst, als in Bezug
auf den Menschen, wir kennen keine Kunst, als die ein Abdruck dieses Bezugs
ist." Mögen die andern Künste sehen, wie sie über diesen Satz Hinaufkommen --
die Dichtung ist und bleibt daran gebunden. Der poetische Menschen- und
Lebensdarsteller kann und wird niemals ein bloßer sorgfältiger Beobachter und
Beschreibet.' von Nervenreizen und Mnskelzucktingen werden.

Auch ist leicht zu sehen, daß die sämtlichen modernen Dichter, die sich
auf Übereinstimmung mit der neuern Naturwissenschaft berufen und ihre
Psychologie mit den Erkenntnissen der Physiologie in Einklang zu setzen suchen,
unter dem Widerspruch leiden, die Empfinduugs- und Handlnngsfolge ihrer
Gestalten einerseits durchaus abhängig von Körperbau, Blutbeschaffenheit, Ernäh¬
rung, von Vererbung, Überlieferung, äußrer Lebenslage, Erziehung und Gewohn¬
heit zu erklären und diesen Gestalten anderseits doch ein leidenschaftliches Ringen,
Streben, Entscheiden beizulegen. Der theoretische Vorsatz, selbst die Bejahung
und Verneinung immer nur als ein durchaus vorausgegebenes, als eine eherne,
starre Konsequenz der ersten Anlage erscheinen zu lassen, ist in einer wahrhaft
poetischen Schöpfung nicht durchführbar. Sowie der Dichter beginnt, die
wechselnden Eindrücke der Außenwelt, die Fülle der unerklärbarer Zufälle, die
Kreuzung der einzelnen Kausalitätsreihen, aufzufassen nud darzustellen, ist er
wieder in die Mitte der Erscheinungen hineingestellt, und in dieser Mitte muß
er seine Gestalten als bewußte, willensmächtige, wenigstens bis zu einem gewissen
Pnnkte verantwortliche Wesen sich bewegen,muß sie fühlen und sprechen lassen.
Will er aber sonst nichts, als einen Teil der Verantwortung dem Wesen der
Welt, den Umständen, unter denen der Mensch geboren und geworden ist, auf¬
laden, so trifft der Modernste der Modernen mit Schiller zusammen, der der
Kunst auferlegt, den Menschen in des Lebens Drang zu sehen und die größere
Hälfte seiner Schuld den unglückseligen Gestirnen zuzuwälzen.

Wenn weiterhin einzelne Schriftsteller innerhalb der neuesten Litteratur
sich darauf berufen, daß ihre naturalistische oder besser naturwissenschaftliche
Auffassung der irdischen Dinge durchaus ethisch sei und einer strengern Auf¬
fassung menschlicher Lebenshaltung, einer tiefern Begründung der Lebenspflichteu
den Weg bahnen helfe, so braucht dem durchaus uicht widersprochen zu werden-
Aber so hoch wir vom Ethischen in der Poesie denken, und so unentbehrlich


Die Grenzen zwischen Dichtung und Wissenschaft

die poetische Darstellung bis zur Lähmung. Zola hat in seinem Roman
I^Oeuvro das Bestreben, eine Welt künstlerisch darzustellen, in der kein
Unterschied von groß und klein, von organisch und unorganisch besteht und
die Pflastersteine der Straße dieselbe Bedeutung hätten wie die Menschen, als
etwas Großartiges und Wünschenswertes gepriesen, hat aber doch eben dies
Bestreben tragisch enden lassen. Gleichwohl wäre eine Malerei, in der der
Mensch zu einem nicht mehr als jede andre Erscheinung bedeutenden Vrnchteil
herabgedrückt würde, immer noch eher denkbar, als eine solche Dichtung. Der
„Alte von Weimar" sagt einfach: „Wir wissen von keiner Kunst, als in Bezug
auf den Menschen, wir kennen keine Kunst, als die ein Abdruck dieses Bezugs
ist." Mögen die andern Künste sehen, wie sie über diesen Satz Hinaufkommen —
die Dichtung ist und bleibt daran gebunden. Der poetische Menschen- und
Lebensdarsteller kann und wird niemals ein bloßer sorgfältiger Beobachter und
Beschreibet.' von Nervenreizen und Mnskelzucktingen werden.

Auch ist leicht zu sehen, daß die sämtlichen modernen Dichter, die sich
auf Übereinstimmung mit der neuern Naturwissenschaft berufen und ihre
Psychologie mit den Erkenntnissen der Physiologie in Einklang zu setzen suchen,
unter dem Widerspruch leiden, die Empfinduugs- und Handlnngsfolge ihrer
Gestalten einerseits durchaus abhängig von Körperbau, Blutbeschaffenheit, Ernäh¬
rung, von Vererbung, Überlieferung, äußrer Lebenslage, Erziehung und Gewohn¬
heit zu erklären und diesen Gestalten anderseits doch ein leidenschaftliches Ringen,
Streben, Entscheiden beizulegen. Der theoretische Vorsatz, selbst die Bejahung
und Verneinung immer nur als ein durchaus vorausgegebenes, als eine eherne,
starre Konsequenz der ersten Anlage erscheinen zu lassen, ist in einer wahrhaft
poetischen Schöpfung nicht durchführbar. Sowie der Dichter beginnt, die
wechselnden Eindrücke der Außenwelt, die Fülle der unerklärbarer Zufälle, die
Kreuzung der einzelnen Kausalitätsreihen, aufzufassen nud darzustellen, ist er
wieder in die Mitte der Erscheinungen hineingestellt, und in dieser Mitte muß
er seine Gestalten als bewußte, willensmächtige, wenigstens bis zu einem gewissen
Pnnkte verantwortliche Wesen sich bewegen,muß sie fühlen und sprechen lassen.
Will er aber sonst nichts, als einen Teil der Verantwortung dem Wesen der
Welt, den Umständen, unter denen der Mensch geboren und geworden ist, auf¬
laden, so trifft der Modernste der Modernen mit Schiller zusammen, der der
Kunst auferlegt, den Menschen in des Lebens Drang zu sehen und die größere
Hälfte seiner Schuld den unglückseligen Gestirnen zuzuwälzen.

Wenn weiterhin einzelne Schriftsteller innerhalb der neuesten Litteratur
sich darauf berufen, daß ihre naturalistische oder besser naturwissenschaftliche
Auffassung der irdischen Dinge durchaus ethisch sei und einer strengern Auf¬
fassung menschlicher Lebenshaltung, einer tiefern Begründung der Lebenspflichteu
den Weg bahnen helfe, so braucht dem durchaus uicht widersprochen zu werden-
Aber so hoch wir vom Ethischen in der Poesie denken, und so unentbehrlich


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0320" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/204409"/>
          <fw type="header" place="top"> Die Grenzen zwischen Dichtung und Wissenschaft</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1017" prev="#ID_1016"> die poetische Darstellung bis zur Lähmung. Zola hat in seinem Roman<lb/>
I^Oeuvro das Bestreben, eine Welt künstlerisch darzustellen, in der kein<lb/>
Unterschied von groß und klein, von organisch und unorganisch besteht und<lb/>
die Pflastersteine der Straße dieselbe Bedeutung hätten wie die Menschen, als<lb/>
etwas Großartiges und Wünschenswertes gepriesen, hat aber doch eben dies<lb/>
Bestreben tragisch enden lassen. Gleichwohl wäre eine Malerei, in der der<lb/>
Mensch zu einem nicht mehr als jede andre Erscheinung bedeutenden Vrnchteil<lb/>
herabgedrückt würde, immer noch eher denkbar, als eine solche Dichtung. Der<lb/>
&#x201E;Alte von Weimar" sagt einfach: &#x201E;Wir wissen von keiner Kunst, als in Bezug<lb/>
auf den Menschen, wir kennen keine Kunst, als die ein Abdruck dieses Bezugs<lb/>
ist." Mögen die andern Künste sehen, wie sie über diesen Satz Hinaufkommen &#x2014;<lb/>
die Dichtung ist und bleibt daran gebunden. Der poetische Menschen- und<lb/>
Lebensdarsteller kann und wird niemals ein bloßer sorgfältiger Beobachter und<lb/>
Beschreibet.' von Nervenreizen und Mnskelzucktingen werden.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1018"> Auch ist leicht zu sehen, daß die sämtlichen modernen Dichter, die sich<lb/>
auf Übereinstimmung mit der neuern Naturwissenschaft berufen und ihre<lb/>
Psychologie mit den Erkenntnissen der Physiologie in Einklang zu setzen suchen,<lb/>
unter dem Widerspruch leiden, die Empfinduugs- und Handlnngsfolge ihrer<lb/>
Gestalten einerseits durchaus abhängig von Körperbau, Blutbeschaffenheit, Ernäh¬<lb/>
rung, von Vererbung, Überlieferung, äußrer Lebenslage, Erziehung und Gewohn¬<lb/>
heit zu erklären und diesen Gestalten anderseits doch ein leidenschaftliches Ringen,<lb/>
Streben, Entscheiden beizulegen. Der theoretische Vorsatz, selbst die Bejahung<lb/>
und Verneinung immer nur als ein durchaus vorausgegebenes, als eine eherne,<lb/>
starre Konsequenz der ersten Anlage erscheinen zu lassen, ist in einer wahrhaft<lb/>
poetischen Schöpfung nicht durchführbar. Sowie der Dichter beginnt, die<lb/>
wechselnden Eindrücke der Außenwelt, die Fülle der unerklärbarer Zufälle, die<lb/>
Kreuzung der einzelnen Kausalitätsreihen, aufzufassen nud darzustellen, ist er<lb/>
wieder in die Mitte der Erscheinungen hineingestellt, und in dieser Mitte muß<lb/>
er seine Gestalten als bewußte, willensmächtige, wenigstens bis zu einem gewissen<lb/>
Pnnkte verantwortliche Wesen sich bewegen,muß sie fühlen und sprechen lassen.<lb/>
Will er aber sonst nichts, als einen Teil der Verantwortung dem Wesen der<lb/>
Welt, den Umständen, unter denen der Mensch geboren und geworden ist, auf¬<lb/>
laden, so trifft der Modernste der Modernen mit Schiller zusammen, der der<lb/>
Kunst auferlegt, den Menschen in des Lebens Drang zu sehen und die größere<lb/>
Hälfte seiner Schuld den unglückseligen Gestirnen zuzuwälzen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1019" next="#ID_1020"> Wenn weiterhin einzelne Schriftsteller innerhalb der neuesten Litteratur<lb/>
sich darauf berufen, daß ihre naturalistische oder besser naturwissenschaftliche<lb/>
Auffassung der irdischen Dinge durchaus ethisch sei und einer strengern Auf¬<lb/>
fassung menschlicher Lebenshaltung, einer tiefern Begründung der Lebenspflichteu<lb/>
den Weg bahnen helfe, so braucht dem durchaus uicht widersprochen zu werden-<lb/>
Aber so hoch wir vom Ethischen in der Poesie denken, und so unentbehrlich</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0320] Die Grenzen zwischen Dichtung und Wissenschaft die poetische Darstellung bis zur Lähmung. Zola hat in seinem Roman I^Oeuvro das Bestreben, eine Welt künstlerisch darzustellen, in der kein Unterschied von groß und klein, von organisch und unorganisch besteht und die Pflastersteine der Straße dieselbe Bedeutung hätten wie die Menschen, als etwas Großartiges und Wünschenswertes gepriesen, hat aber doch eben dies Bestreben tragisch enden lassen. Gleichwohl wäre eine Malerei, in der der Mensch zu einem nicht mehr als jede andre Erscheinung bedeutenden Vrnchteil herabgedrückt würde, immer noch eher denkbar, als eine solche Dichtung. Der „Alte von Weimar" sagt einfach: „Wir wissen von keiner Kunst, als in Bezug auf den Menschen, wir kennen keine Kunst, als die ein Abdruck dieses Bezugs ist." Mögen die andern Künste sehen, wie sie über diesen Satz Hinaufkommen — die Dichtung ist und bleibt daran gebunden. Der poetische Menschen- und Lebensdarsteller kann und wird niemals ein bloßer sorgfältiger Beobachter und Beschreibet.' von Nervenreizen und Mnskelzucktingen werden. Auch ist leicht zu sehen, daß die sämtlichen modernen Dichter, die sich auf Übereinstimmung mit der neuern Naturwissenschaft berufen und ihre Psychologie mit den Erkenntnissen der Physiologie in Einklang zu setzen suchen, unter dem Widerspruch leiden, die Empfinduugs- und Handlnngsfolge ihrer Gestalten einerseits durchaus abhängig von Körperbau, Blutbeschaffenheit, Ernäh¬ rung, von Vererbung, Überlieferung, äußrer Lebenslage, Erziehung und Gewohn¬ heit zu erklären und diesen Gestalten anderseits doch ein leidenschaftliches Ringen, Streben, Entscheiden beizulegen. Der theoretische Vorsatz, selbst die Bejahung und Verneinung immer nur als ein durchaus vorausgegebenes, als eine eherne, starre Konsequenz der ersten Anlage erscheinen zu lassen, ist in einer wahrhaft poetischen Schöpfung nicht durchführbar. Sowie der Dichter beginnt, die wechselnden Eindrücke der Außenwelt, die Fülle der unerklärbarer Zufälle, die Kreuzung der einzelnen Kausalitätsreihen, aufzufassen nud darzustellen, ist er wieder in die Mitte der Erscheinungen hineingestellt, und in dieser Mitte muß er seine Gestalten als bewußte, willensmächtige, wenigstens bis zu einem gewissen Pnnkte verantwortliche Wesen sich bewegen,muß sie fühlen und sprechen lassen. Will er aber sonst nichts, als einen Teil der Verantwortung dem Wesen der Welt, den Umständen, unter denen der Mensch geboren und geworden ist, auf¬ laden, so trifft der Modernste der Modernen mit Schiller zusammen, der der Kunst auferlegt, den Menschen in des Lebens Drang zu sehen und die größere Hälfte seiner Schuld den unglückseligen Gestirnen zuzuwälzen. Wenn weiterhin einzelne Schriftsteller innerhalb der neuesten Litteratur sich darauf berufen, daß ihre naturalistische oder besser naturwissenschaftliche Auffassung der irdischen Dinge durchaus ethisch sei und einer strengern Auf¬ fassung menschlicher Lebenshaltung, einer tiefern Begründung der Lebenspflichteu den Weg bahnen helfe, so braucht dem durchaus uicht widersprochen zu werden- Aber so hoch wir vom Ethischen in der Poesie denken, und so unentbehrlich

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341849_204088
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341849_204088/320
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341849_204088/320>, abgerufen am 26.06.2024.