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Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Erstes Vierteljahr.

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es im höchsten Sinne innerhalb der echten Dichtung ist, so könnte kein
moralischer Gewinn uns über einen poetischen Verlust oder eine künstlerische
Verkümmerung trösten. Bis jetzt wenigstens sind die Versuche pathologischer
Poesie mit beinahe derselben Regelmäßigkeit auf solchen Verlust und solche Ver¬
kümmerung hinaufgelaufen, wie früher die Versuche der politischen Tendenzpoesie.
In einem wie in dem andern Falleist es thöricht, eine Verwerfung schlechthin nus-
zusprechen, denn die Möglichkeit einer Doppelwirkung des Kunstwerkes muß zuge¬
standen werden. Aber die Erfahrung rechtfertigt wenigstens ein gewisses Mißtrauen.

Die Verfechter der Dichtung auf naturwissenschaftlicher Grundlage meinen
Wunder was zu sagen, wenn sie erklären, der Dichter habe in Zukunft die
Methode des experimentirenden Forschers anzunehmen; der Roman und das
Drama seien demonstrative Experimente und jede einzelne poetische Schöpfung
Müsse dieselbe Zuverlässigkeit und Unanfechtbarkeit haben wie ein physikalisches
oder chemisches Experiment, eine physiologische oder aimtomische Demonstration.
Sie stellen nicht gerade in Abrede, daß in einen: Kunstwerk eine Anzahl von
Experimenten samt Erläuterungen neben einander hergehen dürfen, aber sie
drängen den Dichter, der diese Auffassung teilt, in eine gehaltlose Breite. Daß
im Experiment kein Zwischenglied ausbleiben darf, braucht nicht erst gesagt zu
werden. Einer experimentirenden Dichtung, die den Unterschied zwischen Wissen¬
schaft und Kunst aufheben möchte, wird es zuerst in die Augen springen, daß
die Wandlungen menschlicher Charaktere und menschlicher Willensrichtungen
zum guten Teil aus unendlich langsamen Übergängen hervorwachsen. Um
natürlich und exakt zu bleiben, verzichtet diese experimentirende Dichtung aus
ihr urältestes und unveräußerlichstes Recht der Zusammendrängung, beschwert
jede Darstellung mit dem Ballast zahlloser Wiederholungen und müht sich
ab, mit der majestätischen Langsamkeit zu wetteifern, mit der die Eiche
Jnhresring an Jahresring ansetzt. Um experimentirende Dichtung zu bleiben
und sich überall mit der Genauigkeit ihrer Nnturwiedergnbe brüsten zu können,
weicht sie zahlreichen Lebensvorgängen und Katastrophen ans, die der Dichter
darstellen, deren Ursachen er enthüllen, zur Empfindung bringen, die er aber
in ihrem ganzen Verlaufe mit allen Einzelheiten so wenig wiedergeben kann,
als irgend el" Botaniker im Stande ist, das vieljährige allmähliche innere Zer-
nwrschen eines Baumes, den schließlich der Sturm abbricht, als Experiment
vorzuführen. Selbst jene äußerste realistische Litteratur, die den symbolischen
Charakter aller poetischen Darstellung leugnet oder außer Augen setzt, kann ohne
eine gewisse Freiheit in Benutzung von Runen und Zeit nicht auskommen, und
Wer ihr diese Freiheit verkümmert, schafft ihr durch die größere Schärfe der
Beobachtung nur einen zweifelhaften Ersatz.

Auf dem Bewußtsein, daß die Aufgaben der Dichtung und die der Wissen¬
schaft verschieden sind und verschieden bleiben, bericht die glückliche Zukunft der
deutschen wie jeder Litteratur. Ohne Widerrede kann die Poesie von den natur-


Grenzboten I 1839 40

es im höchsten Sinne innerhalb der echten Dichtung ist, so könnte kein
moralischer Gewinn uns über einen poetischen Verlust oder eine künstlerische
Verkümmerung trösten. Bis jetzt wenigstens sind die Versuche pathologischer
Poesie mit beinahe derselben Regelmäßigkeit auf solchen Verlust und solche Ver¬
kümmerung hinaufgelaufen, wie früher die Versuche der politischen Tendenzpoesie.
In einem wie in dem andern Falleist es thöricht, eine Verwerfung schlechthin nus-
zusprechen, denn die Möglichkeit einer Doppelwirkung des Kunstwerkes muß zuge¬
standen werden. Aber die Erfahrung rechtfertigt wenigstens ein gewisses Mißtrauen.

Die Verfechter der Dichtung auf naturwissenschaftlicher Grundlage meinen
Wunder was zu sagen, wenn sie erklären, der Dichter habe in Zukunft die
Methode des experimentirenden Forschers anzunehmen; der Roman und das
Drama seien demonstrative Experimente und jede einzelne poetische Schöpfung
Müsse dieselbe Zuverlässigkeit und Unanfechtbarkeit haben wie ein physikalisches
oder chemisches Experiment, eine physiologische oder aimtomische Demonstration.
Sie stellen nicht gerade in Abrede, daß in einen: Kunstwerk eine Anzahl von
Experimenten samt Erläuterungen neben einander hergehen dürfen, aber sie
drängen den Dichter, der diese Auffassung teilt, in eine gehaltlose Breite. Daß
im Experiment kein Zwischenglied ausbleiben darf, braucht nicht erst gesagt zu
werden. Einer experimentirenden Dichtung, die den Unterschied zwischen Wissen¬
schaft und Kunst aufheben möchte, wird es zuerst in die Augen springen, daß
die Wandlungen menschlicher Charaktere und menschlicher Willensrichtungen
zum guten Teil aus unendlich langsamen Übergängen hervorwachsen. Um
natürlich und exakt zu bleiben, verzichtet diese experimentirende Dichtung aus
ihr urältestes und unveräußerlichstes Recht der Zusammendrängung, beschwert
jede Darstellung mit dem Ballast zahlloser Wiederholungen und müht sich
ab, mit der majestätischen Langsamkeit zu wetteifern, mit der die Eiche
Jnhresring an Jahresring ansetzt. Um experimentirende Dichtung zu bleiben
und sich überall mit der Genauigkeit ihrer Nnturwiedergnbe brüsten zu können,
weicht sie zahlreichen Lebensvorgängen und Katastrophen ans, die der Dichter
darstellen, deren Ursachen er enthüllen, zur Empfindung bringen, die er aber
in ihrem ganzen Verlaufe mit allen Einzelheiten so wenig wiedergeben kann,
als irgend el» Botaniker im Stande ist, das vieljährige allmähliche innere Zer-
nwrschen eines Baumes, den schließlich der Sturm abbricht, als Experiment
vorzuführen. Selbst jene äußerste realistische Litteratur, die den symbolischen
Charakter aller poetischen Darstellung leugnet oder außer Augen setzt, kann ohne
eine gewisse Freiheit in Benutzung von Runen und Zeit nicht auskommen, und
Wer ihr diese Freiheit verkümmert, schafft ihr durch die größere Schärfe der
Beobachtung nur einen zweifelhaften Ersatz.

Auf dem Bewußtsein, daß die Aufgaben der Dichtung und die der Wissen¬
schaft verschieden sind und verschieden bleiben, bericht die glückliche Zukunft der
deutschen wie jeder Litteratur. Ohne Widerrede kann die Poesie von den natur-


Grenzboten I 1839 40
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[0321] es im höchsten Sinne innerhalb der echten Dichtung ist, so könnte kein moralischer Gewinn uns über einen poetischen Verlust oder eine künstlerische Verkümmerung trösten. Bis jetzt wenigstens sind die Versuche pathologischer Poesie mit beinahe derselben Regelmäßigkeit auf solchen Verlust und solche Ver¬ kümmerung hinaufgelaufen, wie früher die Versuche der politischen Tendenzpoesie. In einem wie in dem andern Falleist es thöricht, eine Verwerfung schlechthin nus- zusprechen, denn die Möglichkeit einer Doppelwirkung des Kunstwerkes muß zuge¬ standen werden. Aber die Erfahrung rechtfertigt wenigstens ein gewisses Mißtrauen. Die Verfechter der Dichtung auf naturwissenschaftlicher Grundlage meinen Wunder was zu sagen, wenn sie erklären, der Dichter habe in Zukunft die Methode des experimentirenden Forschers anzunehmen; der Roman und das Drama seien demonstrative Experimente und jede einzelne poetische Schöpfung Müsse dieselbe Zuverlässigkeit und Unanfechtbarkeit haben wie ein physikalisches oder chemisches Experiment, eine physiologische oder aimtomische Demonstration. Sie stellen nicht gerade in Abrede, daß in einen: Kunstwerk eine Anzahl von Experimenten samt Erläuterungen neben einander hergehen dürfen, aber sie drängen den Dichter, der diese Auffassung teilt, in eine gehaltlose Breite. Daß im Experiment kein Zwischenglied ausbleiben darf, braucht nicht erst gesagt zu werden. Einer experimentirenden Dichtung, die den Unterschied zwischen Wissen¬ schaft und Kunst aufheben möchte, wird es zuerst in die Augen springen, daß die Wandlungen menschlicher Charaktere und menschlicher Willensrichtungen zum guten Teil aus unendlich langsamen Übergängen hervorwachsen. Um natürlich und exakt zu bleiben, verzichtet diese experimentirende Dichtung aus ihr urältestes und unveräußerlichstes Recht der Zusammendrängung, beschwert jede Darstellung mit dem Ballast zahlloser Wiederholungen und müht sich ab, mit der majestätischen Langsamkeit zu wetteifern, mit der die Eiche Jnhresring an Jahresring ansetzt. Um experimentirende Dichtung zu bleiben und sich überall mit der Genauigkeit ihrer Nnturwiedergnbe brüsten zu können, weicht sie zahlreichen Lebensvorgängen und Katastrophen ans, die der Dichter darstellen, deren Ursachen er enthüllen, zur Empfindung bringen, die er aber in ihrem ganzen Verlaufe mit allen Einzelheiten so wenig wiedergeben kann, als irgend el» Botaniker im Stande ist, das vieljährige allmähliche innere Zer- nwrschen eines Baumes, den schließlich der Sturm abbricht, als Experiment vorzuführen. Selbst jene äußerste realistische Litteratur, die den symbolischen Charakter aller poetischen Darstellung leugnet oder außer Augen setzt, kann ohne eine gewisse Freiheit in Benutzung von Runen und Zeit nicht auskommen, und Wer ihr diese Freiheit verkümmert, schafft ihr durch die größere Schärfe der Beobachtung nur einen zweifelhaften Ersatz. Auf dem Bewußtsein, daß die Aufgaben der Dichtung und die der Wissen¬ schaft verschieden sind und verschieden bleiben, bericht die glückliche Zukunft der deutschen wie jeder Litteratur. Ohne Widerrede kann die Poesie von den natur- Grenzboten I 1839 40

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341849_204088/321>, abgerufen am 26.06.2024.