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Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Erstes Vierteljahr.

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Die Grenzen zwischen Dichtung und Wissenschaft

bildete zur Annahme einer völligen Unfreiheit des menschlichen Einzelwesens, eines
Zusammenhanges der Dinge gezwungen wäre, in dem alles nur eine Folge von
vorausbestimmten Notwendigkeiten und für jeden Einzelfall selbst die Bejahung
und Verneinung aufgehoben ist. Doch wenn selbst diese Anschauung über allen
Zweifel erhaben wäre, wenn dem forschenden und wissenden Geiste mit Sicher¬
heit die ganze Kette menschlicher Empfindungen, Entschlüsse und Thaten lediglich
als eine Kette von Nervenreize" und entsprechenden Thätigkeiten gelten müßte,
deren einzelne Glieder bei Keimtnis des individuellen Organismus und der in
Betracht kommenden Einwirkungen mit unbedingter Sicherheit zu berechnen
wären, selbst dann würden die Vorgänge jedes Lebens für den Dichter und
Künstler in ihrer Erscheinung freie Willensakte bleiben. Auch der unbedingte
Anhänger der mechanischen Weltanschauung kauu und wird sich der Lächer¬
lichkeit nicht schuldig machen, seine eignen täglichen Lebensäußerungen, seine
Bewegungen und Worte als unfreiwillig anzusehen, sich der Verantwortlichkeit
für seine Thorheiten oder Mißgriffe zu entheben, sich die Ehre für seinen Fleiß
"ut seinen Scharfsinn abzusprechen und seine Erfolge in der Wissenschaft nur
als Stifte in einer Walze zu betrachten, die bei gewissen Umdrehungen und
Berührungen unvermeidlich gewisse Tone hervorbringen müssen. Was der
letzte Grund der Erscheinungen sei, was Glaube, Spekulation oder Forschung
als Ursache der Ursachen erachten mögen: die Dichtung steht in der Mitte der
Dinge, der Erscheinungen, kauu dieser uicht entraten und müßte auch uuter
der Herrschaft einer rein materialistischen Weltanschauung menschliche Charaktere
und Handlungen in der Weise darstellen, wie sie erscheinen. Die Überzeugung
von der Nichtigkeit des einzelnen Menschen wie des Einzelschicksals im großen
Zusammenhange der Dinge mag einen: Welteroberer, einem Philosophen und einem
Naturforscher gut zu Gesicht stehen: sür die Dichtung ist sie schlechthin un¬
brauchbar, zerstört deren innersten Kern, der der liebevolle Anteil um jeder
einzelnen Erscheinung, jedem Schicksal war, ist und sein wird. Sowohl die
angeblich naturwissenschaftliche Anschauung, die das ganze Menschendasein nur
"is Zuckungen eines in seinem ersten Ursprung und letzten Ziel unerklär¬
barer Weltprozesses betrachtet, als die davon abgeleiteten Überzeugung
bon der völligen Bedeutungslosigkeit des individuellen Lebens und ^.trebens
können der Dichtung allenfalls so zum dunkeln Hintergründe dienen, wie das
Fatum der griechische" Tragödie, aber die ganze hervorbringende Thätigkeit
des Dichters wendet sich unbewußt gegen beide, jede voll ausgereifte Gestalt,
jede lebendige Situation ist ein Protest gegen beide. So wie der Versuch ge¬
macht wird, mit einer gewissen Gewaltsamkeit den Hintergrund in Mittel- und
Vordergrund zu verwandeln, die einzelnen Gestalten und einzelnen Vorgänge
°is völlig unfrei erscheinen zu lassen, die Menschen innerhalb eines Dramas
"der Romans als willenlos außer jeder Verantwortung zu stellen, führt dies
e'nen völligen Bruch schon mit den Mitteln der Dichtung herbei und hemmt


Die Grenzen zwischen Dichtung und Wissenschaft

bildete zur Annahme einer völligen Unfreiheit des menschlichen Einzelwesens, eines
Zusammenhanges der Dinge gezwungen wäre, in dem alles nur eine Folge von
vorausbestimmten Notwendigkeiten und für jeden Einzelfall selbst die Bejahung
und Verneinung aufgehoben ist. Doch wenn selbst diese Anschauung über allen
Zweifel erhaben wäre, wenn dem forschenden und wissenden Geiste mit Sicher¬
heit die ganze Kette menschlicher Empfindungen, Entschlüsse und Thaten lediglich
als eine Kette von Nervenreize» und entsprechenden Thätigkeiten gelten müßte,
deren einzelne Glieder bei Keimtnis des individuellen Organismus und der in
Betracht kommenden Einwirkungen mit unbedingter Sicherheit zu berechnen
wären, selbst dann würden die Vorgänge jedes Lebens für den Dichter und
Künstler in ihrer Erscheinung freie Willensakte bleiben. Auch der unbedingte
Anhänger der mechanischen Weltanschauung kauu und wird sich der Lächer¬
lichkeit nicht schuldig machen, seine eignen täglichen Lebensäußerungen, seine
Bewegungen und Worte als unfreiwillig anzusehen, sich der Verantwortlichkeit
für seine Thorheiten oder Mißgriffe zu entheben, sich die Ehre für seinen Fleiß
"ut seinen Scharfsinn abzusprechen und seine Erfolge in der Wissenschaft nur
als Stifte in einer Walze zu betrachten, die bei gewissen Umdrehungen und
Berührungen unvermeidlich gewisse Tone hervorbringen müssen. Was der
letzte Grund der Erscheinungen sei, was Glaube, Spekulation oder Forschung
als Ursache der Ursachen erachten mögen: die Dichtung steht in der Mitte der
Dinge, der Erscheinungen, kauu dieser uicht entraten und müßte auch uuter
der Herrschaft einer rein materialistischen Weltanschauung menschliche Charaktere
und Handlungen in der Weise darstellen, wie sie erscheinen. Die Überzeugung
von der Nichtigkeit des einzelnen Menschen wie des Einzelschicksals im großen
Zusammenhange der Dinge mag einen: Welteroberer, einem Philosophen und einem
Naturforscher gut zu Gesicht stehen: sür die Dichtung ist sie schlechthin un¬
brauchbar, zerstört deren innersten Kern, der der liebevolle Anteil um jeder
einzelnen Erscheinung, jedem Schicksal war, ist und sein wird. Sowohl die
angeblich naturwissenschaftliche Anschauung, die das ganze Menschendasein nur
"is Zuckungen eines in seinem ersten Ursprung und letzten Ziel unerklär¬
barer Weltprozesses betrachtet, als die davon abgeleiteten Überzeugung
bon der völligen Bedeutungslosigkeit des individuellen Lebens und ^.trebens
können der Dichtung allenfalls so zum dunkeln Hintergründe dienen, wie das
Fatum der griechische» Tragödie, aber die ganze hervorbringende Thätigkeit
des Dichters wendet sich unbewußt gegen beide, jede voll ausgereifte Gestalt,
jede lebendige Situation ist ein Protest gegen beide. So wie der Versuch ge¬
macht wird, mit einer gewissen Gewaltsamkeit den Hintergrund in Mittel- und
Vordergrund zu verwandeln, die einzelnen Gestalten und einzelnen Vorgänge
°is völlig unfrei erscheinen zu lassen, die Menschen innerhalb eines Dramas
"der Romans als willenlos außer jeder Verantwortung zu stellen, führt dies
e'nen völligen Bruch schon mit den Mitteln der Dichtung herbei und hemmt


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[0319] Die Grenzen zwischen Dichtung und Wissenschaft bildete zur Annahme einer völligen Unfreiheit des menschlichen Einzelwesens, eines Zusammenhanges der Dinge gezwungen wäre, in dem alles nur eine Folge von vorausbestimmten Notwendigkeiten und für jeden Einzelfall selbst die Bejahung und Verneinung aufgehoben ist. Doch wenn selbst diese Anschauung über allen Zweifel erhaben wäre, wenn dem forschenden und wissenden Geiste mit Sicher¬ heit die ganze Kette menschlicher Empfindungen, Entschlüsse und Thaten lediglich als eine Kette von Nervenreize» und entsprechenden Thätigkeiten gelten müßte, deren einzelne Glieder bei Keimtnis des individuellen Organismus und der in Betracht kommenden Einwirkungen mit unbedingter Sicherheit zu berechnen wären, selbst dann würden die Vorgänge jedes Lebens für den Dichter und Künstler in ihrer Erscheinung freie Willensakte bleiben. Auch der unbedingte Anhänger der mechanischen Weltanschauung kauu und wird sich der Lächer¬ lichkeit nicht schuldig machen, seine eignen täglichen Lebensäußerungen, seine Bewegungen und Worte als unfreiwillig anzusehen, sich der Verantwortlichkeit für seine Thorheiten oder Mißgriffe zu entheben, sich die Ehre für seinen Fleiß "ut seinen Scharfsinn abzusprechen und seine Erfolge in der Wissenschaft nur als Stifte in einer Walze zu betrachten, die bei gewissen Umdrehungen und Berührungen unvermeidlich gewisse Tone hervorbringen müssen. Was der letzte Grund der Erscheinungen sei, was Glaube, Spekulation oder Forschung als Ursache der Ursachen erachten mögen: die Dichtung steht in der Mitte der Dinge, der Erscheinungen, kauu dieser uicht entraten und müßte auch uuter der Herrschaft einer rein materialistischen Weltanschauung menschliche Charaktere und Handlungen in der Weise darstellen, wie sie erscheinen. Die Überzeugung von der Nichtigkeit des einzelnen Menschen wie des Einzelschicksals im großen Zusammenhange der Dinge mag einen: Welteroberer, einem Philosophen und einem Naturforscher gut zu Gesicht stehen: sür die Dichtung ist sie schlechthin un¬ brauchbar, zerstört deren innersten Kern, der der liebevolle Anteil um jeder einzelnen Erscheinung, jedem Schicksal war, ist und sein wird. Sowohl die angeblich naturwissenschaftliche Anschauung, die das ganze Menschendasein nur "is Zuckungen eines in seinem ersten Ursprung und letzten Ziel unerklär¬ barer Weltprozesses betrachtet, als die davon abgeleiteten Überzeugung bon der völligen Bedeutungslosigkeit des individuellen Lebens und ^.trebens können der Dichtung allenfalls so zum dunkeln Hintergründe dienen, wie das Fatum der griechische» Tragödie, aber die ganze hervorbringende Thätigkeit des Dichters wendet sich unbewußt gegen beide, jede voll ausgereifte Gestalt, jede lebendige Situation ist ein Protest gegen beide. So wie der Versuch ge¬ macht wird, mit einer gewissen Gewaltsamkeit den Hintergrund in Mittel- und Vordergrund zu verwandeln, die einzelnen Gestalten und einzelnen Vorgänge °is völlig unfrei erscheinen zu lassen, die Menschen innerhalb eines Dramas "der Romans als willenlos außer jeder Verantwortung zu stellen, führt dies e'nen völligen Bruch schon mit den Mitteln der Dichtung herbei und hemmt

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341849_204088/319>, abgerufen am 26.06.2024.