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Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Erstes Vierteljahr.

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Die Umbildung des Strafrechtes

Gesetzgebungen des Auslandes und der damit gemachten Erfahrungen bewerk¬
stelligt werden. Zur Vorbereitung dieser Umbildung, welche die Reichsgesetz¬
gebung in nicht allzu entfernter Zeit in Angriff zu nehmen habe" wird, hat
sich in den letzten Tagen des verflossenen Jahres eine internationale strafrecht¬
liche Vereinigung gebildet, die, wenn sie das von ihr aufgestellte Programm
verwirklicht, der Gesetzgebung eine bedeutende Hilfe und erwünschte Unterstützung
bei der Lösung der schwierigen Aufgabe leisten wird.

Die internationale Vereinigung, die durch drei der hervorragendsten Krimi¬
nalisten unsrer Zeit begründet worden ist, Professor von Liszt in Marburg,
Professor van Hamel in Amsterdam und Professor Prius in Brüssel, wendet
sich einerseits scharf gegen die bisherige Richtung der Strafrechtswissenschaft,
die, namentlich in Deutschland, dazu geführt hat, daß der praktische Zweck des
Strafrechts ganz in Vergessenheit gekommen ist und es den Anschein gewonnen
hat, als ob der Staat nur zur Befriedigung der haarspnlteuden Begriffslehre
strafrechtliche Satzungen erlasse, sie wendet sich anderseits nicht minder scharf
gegen jene in Italien zur Herrschaft gelangte Schule, die jede Grenze zwischen
der Rechts- und Naturwissenschaft verwischt und am letzten Ende dazu gelangt,
alle Verbrecher für Geisteskranke zu erklären, womit niemand mehr einverstanden
sein kann, als die internationale Mordbrennergesellschaft, die unter der Flagge
des Anarchismus ihr Unwesen treibt. Von beiden Verirrungen hält sich die
internationale Vereinigung fern; sie steht auf dem Boden der Überzeugung,
das; das Verbrechen als gesellschaftliche Erscheinung zu betrachten und dem¬
gemäß auch als solche zu bekämpfen sei. Gegen diese Grundwahrheit, die
eigentlich selbstverständlich ist, hat die bisherige Strafrechtswissenschaft und
Strafgesetzgebung sehr viel gesündigt, und die unbefriedigender Ergebnisse der
Strafrechtspflege sind nicht zuletzt auf den Umstand zurückzuführen, daß man
den Zusammenhang des Verbrechens mit dem Leben und Ban des Gesellschafts¬
körpers verkannte. Wird aber der gesellschaftliche Charakter des Verbrechens
anerkannt, so müssen zu seiner Ergründung die reichen Ergebnisse der uoch
im Werden begriffenen Gesellschaftswisseuschnft, dieses jüngsten Zweiges der
Staatswissenschaft, im weitesten Umfange berücksichtigt werden, nud demgemäß
stellt die internationale Vereinigung die weitere Forderung auf, daß die Gesetz¬
gebung die Gesellschaftswissenschaft nicht mehr vornehm übersehe. Wer heute
noch glaubt, das Verbrechen in einem Lande ohne eingehendste Beachtung der
Strafstatistik verstehen zu können, zeigt, daß er von dem Wesen des Verbrechens
keine Ahnung hat. Es wäre besser um uns und unsre Sicherheitszustände
bestellt, wenn sich die Vertreter der Strafrechtswissenschaft und Strafrechts¬
pflege etwas minder ablehnend gegen diesen Teil der Gesellschaftswissenschaft
verhalten hätten.

Die gesellschaftliche Natur des Verbrechens führt zu der Folgerung, daß
die Strafe nur eines der wirksamsten Mittel zu seiner Bekämpfung bildet, aber


Die Umbildung des Strafrechtes

Gesetzgebungen des Auslandes und der damit gemachten Erfahrungen bewerk¬
stelligt werden. Zur Vorbereitung dieser Umbildung, welche die Reichsgesetz¬
gebung in nicht allzu entfernter Zeit in Angriff zu nehmen habe» wird, hat
sich in den letzten Tagen des verflossenen Jahres eine internationale strafrecht¬
liche Vereinigung gebildet, die, wenn sie das von ihr aufgestellte Programm
verwirklicht, der Gesetzgebung eine bedeutende Hilfe und erwünschte Unterstützung
bei der Lösung der schwierigen Aufgabe leisten wird.

Die internationale Vereinigung, die durch drei der hervorragendsten Krimi¬
nalisten unsrer Zeit begründet worden ist, Professor von Liszt in Marburg,
Professor van Hamel in Amsterdam und Professor Prius in Brüssel, wendet
sich einerseits scharf gegen die bisherige Richtung der Strafrechtswissenschaft,
die, namentlich in Deutschland, dazu geführt hat, daß der praktische Zweck des
Strafrechts ganz in Vergessenheit gekommen ist und es den Anschein gewonnen
hat, als ob der Staat nur zur Befriedigung der haarspnlteuden Begriffslehre
strafrechtliche Satzungen erlasse, sie wendet sich anderseits nicht minder scharf
gegen jene in Italien zur Herrschaft gelangte Schule, die jede Grenze zwischen
der Rechts- und Naturwissenschaft verwischt und am letzten Ende dazu gelangt,
alle Verbrecher für Geisteskranke zu erklären, womit niemand mehr einverstanden
sein kann, als die internationale Mordbrennergesellschaft, die unter der Flagge
des Anarchismus ihr Unwesen treibt. Von beiden Verirrungen hält sich die
internationale Vereinigung fern; sie steht auf dem Boden der Überzeugung,
das; das Verbrechen als gesellschaftliche Erscheinung zu betrachten und dem¬
gemäß auch als solche zu bekämpfen sei. Gegen diese Grundwahrheit, die
eigentlich selbstverständlich ist, hat die bisherige Strafrechtswissenschaft und
Strafgesetzgebung sehr viel gesündigt, und die unbefriedigender Ergebnisse der
Strafrechtspflege sind nicht zuletzt auf den Umstand zurückzuführen, daß man
den Zusammenhang des Verbrechens mit dem Leben und Ban des Gesellschafts¬
körpers verkannte. Wird aber der gesellschaftliche Charakter des Verbrechens
anerkannt, so müssen zu seiner Ergründung die reichen Ergebnisse der uoch
im Werden begriffenen Gesellschaftswisseuschnft, dieses jüngsten Zweiges der
Staatswissenschaft, im weitesten Umfange berücksichtigt werden, nud demgemäß
stellt die internationale Vereinigung die weitere Forderung auf, daß die Gesetz¬
gebung die Gesellschaftswissenschaft nicht mehr vornehm übersehe. Wer heute
noch glaubt, das Verbrechen in einem Lande ohne eingehendste Beachtung der
Strafstatistik verstehen zu können, zeigt, daß er von dem Wesen des Verbrechens
keine Ahnung hat. Es wäre besser um uns und unsre Sicherheitszustände
bestellt, wenn sich die Vertreter der Strafrechtswissenschaft und Strafrechts¬
pflege etwas minder ablehnend gegen diesen Teil der Gesellschaftswissenschaft
verhalten hätten.

Die gesellschaftliche Natur des Verbrechens führt zu der Folgerung, daß
die Strafe nur eines der wirksamsten Mittel zu seiner Bekämpfung bildet, aber


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[0306] Die Umbildung des Strafrechtes Gesetzgebungen des Auslandes und der damit gemachten Erfahrungen bewerk¬ stelligt werden. Zur Vorbereitung dieser Umbildung, welche die Reichsgesetz¬ gebung in nicht allzu entfernter Zeit in Angriff zu nehmen habe» wird, hat sich in den letzten Tagen des verflossenen Jahres eine internationale strafrecht¬ liche Vereinigung gebildet, die, wenn sie das von ihr aufgestellte Programm verwirklicht, der Gesetzgebung eine bedeutende Hilfe und erwünschte Unterstützung bei der Lösung der schwierigen Aufgabe leisten wird. Die internationale Vereinigung, die durch drei der hervorragendsten Krimi¬ nalisten unsrer Zeit begründet worden ist, Professor von Liszt in Marburg, Professor van Hamel in Amsterdam und Professor Prius in Brüssel, wendet sich einerseits scharf gegen die bisherige Richtung der Strafrechtswissenschaft, die, namentlich in Deutschland, dazu geführt hat, daß der praktische Zweck des Strafrechts ganz in Vergessenheit gekommen ist und es den Anschein gewonnen hat, als ob der Staat nur zur Befriedigung der haarspnlteuden Begriffslehre strafrechtliche Satzungen erlasse, sie wendet sich anderseits nicht minder scharf gegen jene in Italien zur Herrschaft gelangte Schule, die jede Grenze zwischen der Rechts- und Naturwissenschaft verwischt und am letzten Ende dazu gelangt, alle Verbrecher für Geisteskranke zu erklären, womit niemand mehr einverstanden sein kann, als die internationale Mordbrennergesellschaft, die unter der Flagge des Anarchismus ihr Unwesen treibt. Von beiden Verirrungen hält sich die internationale Vereinigung fern; sie steht auf dem Boden der Überzeugung, das; das Verbrechen als gesellschaftliche Erscheinung zu betrachten und dem¬ gemäß auch als solche zu bekämpfen sei. Gegen diese Grundwahrheit, die eigentlich selbstverständlich ist, hat die bisherige Strafrechtswissenschaft und Strafgesetzgebung sehr viel gesündigt, und die unbefriedigender Ergebnisse der Strafrechtspflege sind nicht zuletzt auf den Umstand zurückzuführen, daß man den Zusammenhang des Verbrechens mit dem Leben und Ban des Gesellschafts¬ körpers verkannte. Wird aber der gesellschaftliche Charakter des Verbrechens anerkannt, so müssen zu seiner Ergründung die reichen Ergebnisse der uoch im Werden begriffenen Gesellschaftswisseuschnft, dieses jüngsten Zweiges der Staatswissenschaft, im weitesten Umfange berücksichtigt werden, nud demgemäß stellt die internationale Vereinigung die weitere Forderung auf, daß die Gesetz¬ gebung die Gesellschaftswissenschaft nicht mehr vornehm übersehe. Wer heute noch glaubt, das Verbrechen in einem Lande ohne eingehendste Beachtung der Strafstatistik verstehen zu können, zeigt, daß er von dem Wesen des Verbrechens keine Ahnung hat. Es wäre besser um uns und unsre Sicherheitszustände bestellt, wenn sich die Vertreter der Strafrechtswissenschaft und Strafrechts¬ pflege etwas minder ablehnend gegen diesen Teil der Gesellschaftswissenschaft verhalten hätten. Die gesellschaftliche Natur des Verbrechens führt zu der Folgerung, daß die Strafe nur eines der wirksamsten Mittel zu seiner Bekämpfung bildet, aber

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341849_204088/306>, abgerufen am 26.06.2024.