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Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Erstes Vierteljahr.

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Die Umbildung des Htrafrechtes

an langer Zeit schon ist bei allen, die für die Erscheinungen der
Gegenwart volles Verständnis besitzen und im Stande sind, sie
ohne diese oder jene Parteibrille zu betrachten, die Ansicht herr¬
schend geworden, daß das heutige Strafrecht weder im ganzen
noch in seinen einzelnen Teilen den Ansprüchen lind Bedürfnissen
sellschaft genüge, sondern gründlich an Haupt und Gliedern umgebildet
Werden müsse. Es sind nicht etwa lediglich die Fachkreise, in denen diese Über¬
zeugung vertreten wird, sonder", und zwar in noch höherm Maße, die nicht-
juristischen Kreise; Politiker und Volkswirte, Geistliche und Laien sind darüber
^Mg, daß das Strafrecht in seiner gegenwärtigen Fassung durchaus unfähig
sei, das zu leisten, was es leisten kann und im Interesse von Staat und Gesell¬
schaft auch leisten muß. Der Widerspruch zwischen der nicht entarteten öffent-
uchen Meinung und der praktischen Strafrechtspflege wird mit jedem Tage
en'vßer, die Kluft, die beide von einander trennt, von Woche zu Woche tiefer,
bald ist es diese, bald jene Thatsache, die deutlich kund thut, daß unsre Gesell¬
schaft einen andern Schutz ihrer Rechtsgüter verlangt, als das Strafrecht zur
Zeit gewährt, und wenn gerade in den letzten Jahren in Deutschland verhältuis-
U'äßig häufig das Verlangen zum Ausdruck gekommen ist, das Strafgesetz in
dem einen oder andern Pnnkte abzuändern, so ist dies ein schlagender Beweis
dafür, daß man je länger je mehr erkennt, den staatlichen und gesellschaftlichen
Interessen werde durch das geltende Recht nicht ihr Recht. Mit Einzcländerungen
Nee sich vielleicht dem dringendsten Bedürfnis, der unaufschiebbaren Notwendig¬
keit Rechnung tragen, aber eine wahrhaft befriedigende Besserung kann nur
durch eine gründliche, einheitliche Umbildung des gesamten Strafrechtes unter
^enntznng der hochentwickelten Hilfswissenschaften desselben, vor allein der
^trcifstatistik und Psychologie, lind nnter sorgfältiger Verwertung der jüngsten


Grenzboten I t889


Die Umbildung des Htrafrechtes

an langer Zeit schon ist bei allen, die für die Erscheinungen der
Gegenwart volles Verständnis besitzen und im Stande sind, sie
ohne diese oder jene Parteibrille zu betrachten, die Ansicht herr¬
schend geworden, daß das heutige Strafrecht weder im ganzen
noch in seinen einzelnen Teilen den Ansprüchen lind Bedürfnissen
sellschaft genüge, sondern gründlich an Haupt und Gliedern umgebildet
Werden müsse. Es sind nicht etwa lediglich die Fachkreise, in denen diese Über¬
zeugung vertreten wird, sonder», und zwar in noch höherm Maße, die nicht-
juristischen Kreise; Politiker und Volkswirte, Geistliche und Laien sind darüber
^Mg, daß das Strafrecht in seiner gegenwärtigen Fassung durchaus unfähig
sei, das zu leisten, was es leisten kann und im Interesse von Staat und Gesell¬
schaft auch leisten muß. Der Widerspruch zwischen der nicht entarteten öffent-
uchen Meinung und der praktischen Strafrechtspflege wird mit jedem Tage
en'vßer, die Kluft, die beide von einander trennt, von Woche zu Woche tiefer,
bald ist es diese, bald jene Thatsache, die deutlich kund thut, daß unsre Gesell¬
schaft einen andern Schutz ihrer Rechtsgüter verlangt, als das Strafrecht zur
Zeit gewährt, und wenn gerade in den letzten Jahren in Deutschland verhältuis-
U'äßig häufig das Verlangen zum Ausdruck gekommen ist, das Strafgesetz in
dem einen oder andern Pnnkte abzuändern, so ist dies ein schlagender Beweis
dafür, daß man je länger je mehr erkennt, den staatlichen und gesellschaftlichen
Interessen werde durch das geltende Recht nicht ihr Recht. Mit Einzcländerungen
Nee sich vielleicht dem dringendsten Bedürfnis, der unaufschiebbaren Notwendig¬
keit Rechnung tragen, aber eine wahrhaft befriedigende Besserung kann nur
durch eine gründliche, einheitliche Umbildung des gesamten Strafrechtes unter
^enntznng der hochentwickelten Hilfswissenschaften desselben, vor allein der
^trcifstatistik und Psychologie, lind nnter sorgfältiger Verwertung der jüngsten


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[0305] [Abbildung] Die Umbildung des Htrafrechtes an langer Zeit schon ist bei allen, die für die Erscheinungen der Gegenwart volles Verständnis besitzen und im Stande sind, sie ohne diese oder jene Parteibrille zu betrachten, die Ansicht herr¬ schend geworden, daß das heutige Strafrecht weder im ganzen noch in seinen einzelnen Teilen den Ansprüchen lind Bedürfnissen sellschaft genüge, sondern gründlich an Haupt und Gliedern umgebildet Werden müsse. Es sind nicht etwa lediglich die Fachkreise, in denen diese Über¬ zeugung vertreten wird, sonder», und zwar in noch höherm Maße, die nicht- juristischen Kreise; Politiker und Volkswirte, Geistliche und Laien sind darüber ^Mg, daß das Strafrecht in seiner gegenwärtigen Fassung durchaus unfähig sei, das zu leisten, was es leisten kann und im Interesse von Staat und Gesell¬ schaft auch leisten muß. Der Widerspruch zwischen der nicht entarteten öffent- uchen Meinung und der praktischen Strafrechtspflege wird mit jedem Tage en'vßer, die Kluft, die beide von einander trennt, von Woche zu Woche tiefer, bald ist es diese, bald jene Thatsache, die deutlich kund thut, daß unsre Gesell¬ schaft einen andern Schutz ihrer Rechtsgüter verlangt, als das Strafrecht zur Zeit gewährt, und wenn gerade in den letzten Jahren in Deutschland verhältuis- U'äßig häufig das Verlangen zum Ausdruck gekommen ist, das Strafgesetz in dem einen oder andern Pnnkte abzuändern, so ist dies ein schlagender Beweis dafür, daß man je länger je mehr erkennt, den staatlichen und gesellschaftlichen Interessen werde durch das geltende Recht nicht ihr Recht. Mit Einzcländerungen Nee sich vielleicht dem dringendsten Bedürfnis, der unaufschiebbaren Notwendig¬ keit Rechnung tragen, aber eine wahrhaft befriedigende Besserung kann nur durch eine gründliche, einheitliche Umbildung des gesamten Strafrechtes unter ^enntznng der hochentwickelten Hilfswissenschaften desselben, vor allein der ^trcifstatistik und Psychologie, lind nnter sorgfältiger Verwertung der jüngsten Grenzboten I t889

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341849_204088/305>, abgerufen am 26.06.2024.