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Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Erstes Vierteljahr.

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Die revolutionäre Gesellschaftskritik in Schillers Zugenddraineit

das mußte, von der Bühne herab gesprochen, auf ihr dargestellt, auch auf
andre die erschütterndste Wirkung ausüben. Dein Charakter Schillers war vor
allem Kraft und Größe eigen, ein Streben, das überall kühn sich dem höchsten
Ideale zuwandte. Auch wenn seine Jugend nicht in ungewöhnlichem Maße
eingeengt und bedrückt gewesen wäre, so hätte sich bei solcher Charakteranlage
eine gewisse "Bitterkeit gegen die miidealische Welt" kaum abwenden lassen.
Ans dieser Stimmung des Gemütes aber beruht das, was der Darstellung in
Schillers Jugenddrameu Satirisches beigemengt ist. Ihn, den bürgerlichen
und protestantischen Deutschen ans dein letzten Viertel des achtzehnten Jahr¬
hunderts, beherrscht das Ideal freier Menschlichkeit, den Dichter in ihm den
Trieb nach dramatischer Wirkung. So greift er denn hinein ins volle Menschen¬
leben, entnimmt, sammelt, vereinigt, was seinen Zwecken dient, und zeigt das
Gestaltete in der Beleuchtung seines Ideals.

Nach der politischen Seite hin hatte dieses Ideal bei Schiller ebensowenig
wie bei den allermeisten seiner gebildeten Zeitgenossen unter den Deutschen
irgendwelche bestimmte und greifbare Form gewonnen. Damit fehlte die Grund¬
voraussetzung für jede in praktischer Hinsicht bedeutungsvollere Gesellschaftskritik.
Zum Einreiben eines politischen und gesellschnftlicheu Baues ist nur der befugt,
der überzeugt fein darf, daß zum Ersatz desselben durch einen netten und
bessern Kunst und Kraft nicht fehlen werden. Aber nicht nur das. Schon
um zu erkennen, wo und wie weit morsch gewordnes Altes durch nett einge¬
fügtes Vatiwerk ersetzt werden kann und ersetzt werden muß, ist der Blick eines
kundigen Baumeisters vouuöten, der weiß, wie alles sich zu einem feststehenden
Ganzen zusammenfügt, und demgemäß Fundament und Tragkraft der einzelnen
Teile zu schätzen versteht. Woher wäre dem jugendlichen Schiller solche Wissen¬
schaft gekommen? woher seinein Publikum?

Keine Frage, auch Deutschland hatte viel zu klagen über landesherrliche
Willkür; auch in Deutschland litt das Volk unter dem Übermut eines teilweise
sittenlosen oder wenigstens der nationalen Sitte entfremdeten Adels. Im
Bürgerstande mehrte sich zusehends Besitz, Bildung und Gefühl der Selbständig¬
keit, aber das Denken blieb durch und durch unpolitisch. Es wurde zwar
üblich, von Menschenrechten zu sprechen, aber die Vorstellung davon verflüch¬
tigte sich in wesenlosen Abstraktionen. Über Wert, Wirkungsweise und Ent¬
wicklungsgesetze bestimmter Institutionen in Staat und Gesellschaft nachzudenken
kam keinem in den Sinn, weder dem Gelehrten noch dem Umgekehrten. Bei
der "Sprndeljngend" finden wir ein burschikos-unreifes schwärmten für "Frei¬
heit," eilt Name, unter dem man sich einen Zustand chaotischer Gesetzlosigkeit
dachte, der dem kraftgenialischen Gebühren des Individuums möglichst wenig
Schranken setzte. Das Ideal war ein Zustand, der, nicht bloß, wie Herrwegh
später wünschte, für den Flügelschlag einer freien Seele Raum bot, sondern
einen Raum weit genug, um als Brutstätte zu dienen für "Extremitäten und


Die revolutionäre Gesellschaftskritik in Schillers Zugenddraineit

das mußte, von der Bühne herab gesprochen, auf ihr dargestellt, auch auf
andre die erschütterndste Wirkung ausüben. Dein Charakter Schillers war vor
allem Kraft und Größe eigen, ein Streben, das überall kühn sich dem höchsten
Ideale zuwandte. Auch wenn seine Jugend nicht in ungewöhnlichem Maße
eingeengt und bedrückt gewesen wäre, so hätte sich bei solcher Charakteranlage
eine gewisse „Bitterkeit gegen die miidealische Welt" kaum abwenden lassen.
Ans dieser Stimmung des Gemütes aber beruht das, was der Darstellung in
Schillers Jugenddrameu Satirisches beigemengt ist. Ihn, den bürgerlichen
und protestantischen Deutschen ans dein letzten Viertel des achtzehnten Jahr¬
hunderts, beherrscht das Ideal freier Menschlichkeit, den Dichter in ihm den
Trieb nach dramatischer Wirkung. So greift er denn hinein ins volle Menschen¬
leben, entnimmt, sammelt, vereinigt, was seinen Zwecken dient, und zeigt das
Gestaltete in der Beleuchtung seines Ideals.

Nach der politischen Seite hin hatte dieses Ideal bei Schiller ebensowenig
wie bei den allermeisten seiner gebildeten Zeitgenossen unter den Deutschen
irgendwelche bestimmte und greifbare Form gewonnen. Damit fehlte die Grund¬
voraussetzung für jede in praktischer Hinsicht bedeutungsvollere Gesellschaftskritik.
Zum Einreiben eines politischen und gesellschnftlicheu Baues ist nur der befugt,
der überzeugt fein darf, daß zum Ersatz desselben durch einen netten und
bessern Kunst und Kraft nicht fehlen werden. Aber nicht nur das. Schon
um zu erkennen, wo und wie weit morsch gewordnes Altes durch nett einge¬
fügtes Vatiwerk ersetzt werden kann und ersetzt werden muß, ist der Blick eines
kundigen Baumeisters vouuöten, der weiß, wie alles sich zu einem feststehenden
Ganzen zusammenfügt, und demgemäß Fundament und Tragkraft der einzelnen
Teile zu schätzen versteht. Woher wäre dem jugendlichen Schiller solche Wissen¬
schaft gekommen? woher seinein Publikum?

Keine Frage, auch Deutschland hatte viel zu klagen über landesherrliche
Willkür; auch in Deutschland litt das Volk unter dem Übermut eines teilweise
sittenlosen oder wenigstens der nationalen Sitte entfremdeten Adels. Im
Bürgerstande mehrte sich zusehends Besitz, Bildung und Gefühl der Selbständig¬
keit, aber das Denken blieb durch und durch unpolitisch. Es wurde zwar
üblich, von Menschenrechten zu sprechen, aber die Vorstellung davon verflüch¬
tigte sich in wesenlosen Abstraktionen. Über Wert, Wirkungsweise und Ent¬
wicklungsgesetze bestimmter Institutionen in Staat und Gesellschaft nachzudenken
kam keinem in den Sinn, weder dem Gelehrten noch dem Umgekehrten. Bei
der „Sprndeljngend" finden wir ein burschikos-unreifes schwärmten für „Frei¬
heit," eilt Name, unter dem man sich einen Zustand chaotischer Gesetzlosigkeit
dachte, der dem kraftgenialischen Gebühren des Individuums möglichst wenig
Schranken setzte. Das Ideal war ein Zustand, der, nicht bloß, wie Herrwegh
später wünschte, für den Flügelschlag einer freien Seele Raum bot, sondern
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[0290] Die revolutionäre Gesellschaftskritik in Schillers Zugenddraineit das mußte, von der Bühne herab gesprochen, auf ihr dargestellt, auch auf andre die erschütterndste Wirkung ausüben. Dein Charakter Schillers war vor allem Kraft und Größe eigen, ein Streben, das überall kühn sich dem höchsten Ideale zuwandte. Auch wenn seine Jugend nicht in ungewöhnlichem Maße eingeengt und bedrückt gewesen wäre, so hätte sich bei solcher Charakteranlage eine gewisse „Bitterkeit gegen die miidealische Welt" kaum abwenden lassen. Ans dieser Stimmung des Gemütes aber beruht das, was der Darstellung in Schillers Jugenddrameu Satirisches beigemengt ist. Ihn, den bürgerlichen und protestantischen Deutschen ans dein letzten Viertel des achtzehnten Jahr¬ hunderts, beherrscht das Ideal freier Menschlichkeit, den Dichter in ihm den Trieb nach dramatischer Wirkung. So greift er denn hinein ins volle Menschen¬ leben, entnimmt, sammelt, vereinigt, was seinen Zwecken dient, und zeigt das Gestaltete in der Beleuchtung seines Ideals. Nach der politischen Seite hin hatte dieses Ideal bei Schiller ebensowenig wie bei den allermeisten seiner gebildeten Zeitgenossen unter den Deutschen irgendwelche bestimmte und greifbare Form gewonnen. Damit fehlte die Grund¬ voraussetzung für jede in praktischer Hinsicht bedeutungsvollere Gesellschaftskritik. Zum Einreiben eines politischen und gesellschnftlicheu Baues ist nur der befugt, der überzeugt fein darf, daß zum Ersatz desselben durch einen netten und bessern Kunst und Kraft nicht fehlen werden. Aber nicht nur das. Schon um zu erkennen, wo und wie weit morsch gewordnes Altes durch nett einge¬ fügtes Vatiwerk ersetzt werden kann und ersetzt werden muß, ist der Blick eines kundigen Baumeisters vouuöten, der weiß, wie alles sich zu einem feststehenden Ganzen zusammenfügt, und demgemäß Fundament und Tragkraft der einzelnen Teile zu schätzen versteht. Woher wäre dem jugendlichen Schiller solche Wissen¬ schaft gekommen? woher seinein Publikum? Keine Frage, auch Deutschland hatte viel zu klagen über landesherrliche Willkür; auch in Deutschland litt das Volk unter dem Übermut eines teilweise sittenlosen oder wenigstens der nationalen Sitte entfremdeten Adels. Im Bürgerstande mehrte sich zusehends Besitz, Bildung und Gefühl der Selbständig¬ keit, aber das Denken blieb durch und durch unpolitisch. Es wurde zwar üblich, von Menschenrechten zu sprechen, aber die Vorstellung davon verflüch¬ tigte sich in wesenlosen Abstraktionen. Über Wert, Wirkungsweise und Ent¬ wicklungsgesetze bestimmter Institutionen in Staat und Gesellschaft nachzudenken kam keinem in den Sinn, weder dem Gelehrten noch dem Umgekehrten. Bei der „Sprndeljngend" finden wir ein burschikos-unreifes schwärmten für „Frei¬ heit," eilt Name, unter dem man sich einen Zustand chaotischer Gesetzlosigkeit dachte, der dem kraftgenialischen Gebühren des Individuums möglichst wenig Schranken setzte. Das Ideal war ein Zustand, der, nicht bloß, wie Herrwegh später wünschte, für den Flügelschlag einer freien Seele Raum bot, sondern einen Raum weit genug, um als Brutstätte zu dienen für „Extremitäten und

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341849_204088/290>, abgerufen am 26.06.2024.