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Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Erstes Vierteljahr.

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Vor uns haben, als die natürliche, auf der Grundlage der gegebenen geschicht¬
lichen Entwicklung mit Notwendigkeit erwachsende Staats- und Gesellschafts-
Philvsophie des selbstbewußten Bürgertums. Das Erstarken deS dritten Standes,
dessen immer entschlossener sich geltend machendes Rechts- und Selbstgefühl
führte in Deutschland und Frankreich zu Äusierungen, die der Natur der Sache
nach in wesentlichen Zügen Uebereinstimmung ausweisen. Bei näherer Betrachtung
freilich wird sich herausstellen, daß diese Familienähnlichkeit zwischen der deutsche"
und der französischen Opposition des achtzehnten Jahrhunderts bei weitem nicht
so groß ist, als es ans den ersten Blick den Anschein lM Was insbesondre
die "revolutionären"^ Dichtungen Schillers betrifft und deren Wirkung auf das
deutsche Publikum, so dürfte es gerade hier nicht allzu schwer sei", den tief¬
greifenden und bedeutsamen Unterschied nachzuweisen zwischen dem, was sich
in Frankreich^und was sich etwa in Deutschland als revolutionäre Erscheinung
kennzeichnen läßt.

Es ist neuerdings in der Litteraturgeschichte Mode geworden, Schiller als
einen Satiriker zu bezeichnen. Diese Charakteristik ist mindestens sehr mi߬
verständlich. Läßt sich ein Satiriker denken ohne die bestimmt hervortretende
Tendenz, in der menschlichen Natur im allgemeinen oder in gewissen Erschei¬
nungen des gesellschaftlichen Lebens das Unvollkommene oder Widerspruchsvolle,
das Abgeschmackte und Verkehrte, den Unsinn und die Ungerechtigkeit greifbar
hervorzuheben und so der Verachtung und dem sittlichen Abscheu ein bestimmtes
Ziel zu weisen? Von einer derartigen Tendenz ist Voltaires ganze schrift¬
stellerische Thätigkeit beherrscht. Sie trifft in der ?neMo die christliche Religion,
in? LiuMäe den Glauben um eine sittliche Weltordnung. Schiller ward durch
seinen Dichtergenius zu dramatischer Gestaltung hingerissen, die Notwendigkeit
seiner Natur zwang ihn, Charaktere zu schaffen und deren Handlungen so zu
verknüpfen, daß die höchstmögliche Buhnenwirkung erzielt wurde. Diesem aus
dem innersten Kerii seines Wesens stammenden Gebot war jede andre Absicht
bei ihm untergeordnet. Frühzeitig trug der Dichter hiervon das klarste
Bewußtsein in sich. Ans Mannheim schreibt er um den Stuttgarter Freund
Zumsteg: "Mein Clima ist das Theater, in dem ich lebe und webe."
Daß das dichterische Schaffen sein innerer Beruf sei, dem er nimmermehr
entrinnen könne, haben die Freunde schon an dem angehenden Jüngling
wahrgenommen. Friedrich von Hoven berichtet über seinen Mitschüler:
"Schillers Hauptneigung geht mit allem Eifer auf die Poesie, und nichts ist
im Staude, ihn davon abzubringen." Die Natur hatte ihn "zum Dichter ver¬
urteilt." Was wir daher in Schillers Dramen zu suchen haben, ist Poesie und
nicht Tendenz. Der Instinkt des genialen Dramatikers trieb ihn, für die
Poetische Gestaltung die wirksamsten Motive zu suchen und öffnete ihm die
Angen, daß er in der ihn umgebenden Erfahrungswelt die seiner Gestaltuugs-
'kraft gemaßesteu herausfand. Was ihn am tiefsten ergriff "Ub erschütterte,


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Vor uns haben, als die natürliche, auf der Grundlage der gegebenen geschicht¬
lichen Entwicklung mit Notwendigkeit erwachsende Staats- und Gesellschafts-
Philvsophie des selbstbewußten Bürgertums. Das Erstarken deS dritten Standes,
dessen immer entschlossener sich geltend machendes Rechts- und Selbstgefühl
führte in Deutschland und Frankreich zu Äusierungen, die der Natur der Sache
nach in wesentlichen Zügen Uebereinstimmung ausweisen. Bei näherer Betrachtung
freilich wird sich herausstellen, daß diese Familienähnlichkeit zwischen der deutsche»
und der französischen Opposition des achtzehnten Jahrhunderts bei weitem nicht
so groß ist, als es ans den ersten Blick den Anschein lM Was insbesondre
die „revolutionären"^ Dichtungen Schillers betrifft und deren Wirkung auf das
deutsche Publikum, so dürfte es gerade hier nicht allzu schwer sei», den tief¬
greifenden und bedeutsamen Unterschied nachzuweisen zwischen dem, was sich
in Frankreich^und was sich etwa in Deutschland als revolutionäre Erscheinung
kennzeichnen läßt.

Es ist neuerdings in der Litteraturgeschichte Mode geworden, Schiller als
einen Satiriker zu bezeichnen. Diese Charakteristik ist mindestens sehr mi߬
verständlich. Läßt sich ein Satiriker denken ohne die bestimmt hervortretende
Tendenz, in der menschlichen Natur im allgemeinen oder in gewissen Erschei¬
nungen des gesellschaftlichen Lebens das Unvollkommene oder Widerspruchsvolle,
das Abgeschmackte und Verkehrte, den Unsinn und die Ungerechtigkeit greifbar
hervorzuheben und so der Verachtung und dem sittlichen Abscheu ein bestimmtes
Ziel zu weisen? Von einer derartigen Tendenz ist Voltaires ganze schrift¬
stellerische Thätigkeit beherrscht. Sie trifft in der ?neMo die christliche Religion,
in? LiuMäe den Glauben um eine sittliche Weltordnung. Schiller ward durch
seinen Dichtergenius zu dramatischer Gestaltung hingerissen, die Notwendigkeit
seiner Natur zwang ihn, Charaktere zu schaffen und deren Handlungen so zu
verknüpfen, daß die höchstmögliche Buhnenwirkung erzielt wurde. Diesem aus
dem innersten Kerii seines Wesens stammenden Gebot war jede andre Absicht
bei ihm untergeordnet. Frühzeitig trug der Dichter hiervon das klarste
Bewußtsein in sich. Ans Mannheim schreibt er um den Stuttgarter Freund
Zumsteg: „Mein Clima ist das Theater, in dem ich lebe und webe."
Daß das dichterische Schaffen sein innerer Beruf sei, dem er nimmermehr
entrinnen könne, haben die Freunde schon an dem angehenden Jüngling
wahrgenommen. Friedrich von Hoven berichtet über seinen Mitschüler:
„Schillers Hauptneigung geht mit allem Eifer auf die Poesie, und nichts ist
im Staude, ihn davon abzubringen." Die Natur hatte ihn „zum Dichter ver¬
urteilt." Was wir daher in Schillers Dramen zu suchen haben, ist Poesie und
nicht Tendenz. Der Instinkt des genialen Dramatikers trieb ihn, für die
Poetische Gestaltung die wirksamsten Motive zu suchen und öffnete ihm die
Angen, daß er in der ihn umgebenden Erfahrungswelt die seiner Gestaltuugs-
'kraft gemaßesteu herausfand. Was ihn am tiefsten ergriff »Ub erschütterte,


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[0289] Vor uns haben, als die natürliche, auf der Grundlage der gegebenen geschicht¬ lichen Entwicklung mit Notwendigkeit erwachsende Staats- und Gesellschafts- Philvsophie des selbstbewußten Bürgertums. Das Erstarken deS dritten Standes, dessen immer entschlossener sich geltend machendes Rechts- und Selbstgefühl führte in Deutschland und Frankreich zu Äusierungen, die der Natur der Sache nach in wesentlichen Zügen Uebereinstimmung ausweisen. Bei näherer Betrachtung freilich wird sich herausstellen, daß diese Familienähnlichkeit zwischen der deutsche» und der französischen Opposition des achtzehnten Jahrhunderts bei weitem nicht so groß ist, als es ans den ersten Blick den Anschein lM Was insbesondre die „revolutionären"^ Dichtungen Schillers betrifft und deren Wirkung auf das deutsche Publikum, so dürfte es gerade hier nicht allzu schwer sei», den tief¬ greifenden und bedeutsamen Unterschied nachzuweisen zwischen dem, was sich in Frankreich^und was sich etwa in Deutschland als revolutionäre Erscheinung kennzeichnen läßt. Es ist neuerdings in der Litteraturgeschichte Mode geworden, Schiller als einen Satiriker zu bezeichnen. Diese Charakteristik ist mindestens sehr mi߬ verständlich. Läßt sich ein Satiriker denken ohne die bestimmt hervortretende Tendenz, in der menschlichen Natur im allgemeinen oder in gewissen Erschei¬ nungen des gesellschaftlichen Lebens das Unvollkommene oder Widerspruchsvolle, das Abgeschmackte und Verkehrte, den Unsinn und die Ungerechtigkeit greifbar hervorzuheben und so der Verachtung und dem sittlichen Abscheu ein bestimmtes Ziel zu weisen? Von einer derartigen Tendenz ist Voltaires ganze schrift¬ stellerische Thätigkeit beherrscht. Sie trifft in der ?neMo die christliche Religion, in? LiuMäe den Glauben um eine sittliche Weltordnung. Schiller ward durch seinen Dichtergenius zu dramatischer Gestaltung hingerissen, die Notwendigkeit seiner Natur zwang ihn, Charaktere zu schaffen und deren Handlungen so zu verknüpfen, daß die höchstmögliche Buhnenwirkung erzielt wurde. Diesem aus dem innersten Kerii seines Wesens stammenden Gebot war jede andre Absicht bei ihm untergeordnet. Frühzeitig trug der Dichter hiervon das klarste Bewußtsein in sich. Ans Mannheim schreibt er um den Stuttgarter Freund Zumsteg: „Mein Clima ist das Theater, in dem ich lebe und webe." Daß das dichterische Schaffen sein innerer Beruf sei, dem er nimmermehr entrinnen könne, haben die Freunde schon an dem angehenden Jüngling wahrgenommen. Friedrich von Hoven berichtet über seinen Mitschüler: „Schillers Hauptneigung geht mit allem Eifer auf die Poesie, und nichts ist im Staude, ihn davon abzubringen." Die Natur hatte ihn „zum Dichter ver¬ urteilt." Was wir daher in Schillers Dramen zu suchen haben, ist Poesie und nicht Tendenz. Der Instinkt des genialen Dramatikers trieb ihn, für die Poetische Gestaltung die wirksamsten Motive zu suchen und öffnete ihm die Angen, daß er in der ihn umgebenden Erfahrungswelt die seiner Gestaltuugs- 'kraft gemaßesteu herausfand. Was ihn am tiefsten ergriff »Ub erschütterte, ÄMlzbvten I 138V 86

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341849_204088/289>, abgerufen am 26.06.2024.