Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Erstes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
?>le Geschichte von dein kranken Aönigssohne

Hauptsache wohl gegen das Ende des dreizehnten Jahrhunderts entstanden
ist, findet mau das Motiv der Avieenuälegende wieder, aber in einer Fassung,
die zeigt, daß die Geschichte vorher schon durch viele Hände gegangen war.
Die Szene ist gründlich verändert, und das Ganze nach dem Geschmack der
höfischen Gesellschaft jener Tage zurecht gemacht. Ein Ritter -- heißt es im
40. Kapitel -- hat seine Gemahlin im Verdacht, daß sie einen andern mehr
liebe als ihn. Er sagt ihr dies mehrmals geradezu, erhält aber stets die
Antwort, sie liebe niemand nußer ihrem Gemahl. Dieser aber vermag sich
uicht dabei zu beruhigen, sondern wendet sich nu einen erfahrenen Kleriker mit
der Bitte, er möge ihm doch helfen, der Sache auf den Grund zu kommen.
Dieser sagt, er müsse zuvor die Dame sehen und mit ihr sprechen, worauf ihn
dann der Ritter zum Mahle einladet und ihm seinen Platz unmittelbar neben
seiner Hausfrau anweist. Nun bringt der kluge Berater allmählich das Ge¬
spräch auf deu angeblichen Geliebten der Dame. Ziigleich ergreift er ihre
Hand und merkt, daß der Puls während der Dauer des zuletzt begonnenen
Gespräches durch seinen lebhafteren Gang die freudige Erregung der Frau
bekundet. Er macht aber auch die Gegenprobe, indem er unmerklich das Ge¬
spräch ans den Gatten lenkt und nun wahrnimmt, wie die Wallungen sich
legen und der Puls zu seinem gleichmäßigen Gange zurückkehrt. Da erkennt
er denn, daß seine Tischnnchbarin den andern, mit dem sie ins Gerede ge¬
kommen ist, wirklich mehr liebt als' deu eignen Gemahl, und so erfährt nun
mich dieser, was er zu Nüssen begehrt.

Natürlich hat sich auch Boccaccio den dankbaren Stoff nicht entgehen
lassen. Die achte Novelle des siebenten Buches bringt das Motiv der Puls¬
fühlung in einer Form, die wieder mehr an die Geschichte des Antiochos er-
innert. Der Graf von Angers muß infolge von allerlei Hofkabalen mit seineu
Kindern ans Frankreich fliehen, kommt nach England und irrt hier lange un¬
erkannt umher. Er hat das Glück, daß seine Tochter von einer reichen Dame
als Pflegekind angenommen wird. Als sie Herangewachsen ist, entbrennt der
einzige Sohn des Hauses in heftiger Liebe zu dem blühenden Mädchen , will
seiue Neigung aber uicht eingestehen, weil er den Widerstand seiner Eltern
fürchten muß. Die Folge ist eine nuscheinend hoffnungslose Erkrankung des
Jünglings. Da kommt zufällig ein junger, gelehrter Arzt zugereist. Er unter¬
sucht den Zustand des Kranken und hält gerade dessen Hand im der seinigen,
Um den Pulsschlag zu beobachten, als plötzlich Jeanette -- so heißt die heimlich
geliebte -- in das Zumner tritt. Sofort beginnt der Puls des Kranken hef¬
tiger zu schlagen und beruhigt sich erst nach der, Entfernung des Mädchens.
Um jedoch sicher zu gehen, wiederholt der Arzt den Versuch. Er läßt das Mädchen
unter irgend einem beliebigen Vorwnnde rufen: das Ergebnis ist dasselbe. Nun
macht er den Eltern die Biitteilung von seiner Entdeckung, und sie geben nach
vielen Schwierigkeiten notgedrungen ihre Einwilligung' zu- der Vermählung des


?>le Geschichte von dein kranken Aönigssohne

Hauptsache wohl gegen das Ende des dreizehnten Jahrhunderts entstanden
ist, findet mau das Motiv der Avieenuälegende wieder, aber in einer Fassung,
die zeigt, daß die Geschichte vorher schon durch viele Hände gegangen war.
Die Szene ist gründlich verändert, und das Ganze nach dem Geschmack der
höfischen Gesellschaft jener Tage zurecht gemacht. Ein Ritter — heißt es im
40. Kapitel — hat seine Gemahlin im Verdacht, daß sie einen andern mehr
liebe als ihn. Er sagt ihr dies mehrmals geradezu, erhält aber stets die
Antwort, sie liebe niemand nußer ihrem Gemahl. Dieser aber vermag sich
uicht dabei zu beruhigen, sondern wendet sich nu einen erfahrenen Kleriker mit
der Bitte, er möge ihm doch helfen, der Sache auf den Grund zu kommen.
Dieser sagt, er müsse zuvor die Dame sehen und mit ihr sprechen, worauf ihn
dann der Ritter zum Mahle einladet und ihm seinen Platz unmittelbar neben
seiner Hausfrau anweist. Nun bringt der kluge Berater allmählich das Ge¬
spräch auf deu angeblichen Geliebten der Dame. Ziigleich ergreift er ihre
Hand und merkt, daß der Puls während der Dauer des zuletzt begonnenen
Gespräches durch seinen lebhafteren Gang die freudige Erregung der Frau
bekundet. Er macht aber auch die Gegenprobe, indem er unmerklich das Ge¬
spräch ans den Gatten lenkt und nun wahrnimmt, wie die Wallungen sich
legen und der Puls zu seinem gleichmäßigen Gange zurückkehrt. Da erkennt
er denn, daß seine Tischnnchbarin den andern, mit dem sie ins Gerede ge¬
kommen ist, wirklich mehr liebt als' deu eignen Gemahl, und so erfährt nun
mich dieser, was er zu Nüssen begehrt.

Natürlich hat sich auch Boccaccio den dankbaren Stoff nicht entgehen
lassen. Die achte Novelle des siebenten Buches bringt das Motiv der Puls¬
fühlung in einer Form, die wieder mehr an die Geschichte des Antiochos er-
innert. Der Graf von Angers muß infolge von allerlei Hofkabalen mit seineu
Kindern ans Frankreich fliehen, kommt nach England und irrt hier lange un¬
erkannt umher. Er hat das Glück, daß seine Tochter von einer reichen Dame
als Pflegekind angenommen wird. Als sie Herangewachsen ist, entbrennt der
einzige Sohn des Hauses in heftiger Liebe zu dem blühenden Mädchen , will
seiue Neigung aber uicht eingestehen, weil er den Widerstand seiner Eltern
fürchten muß. Die Folge ist eine nuscheinend hoffnungslose Erkrankung des
Jünglings. Da kommt zufällig ein junger, gelehrter Arzt zugereist. Er unter¬
sucht den Zustand des Kranken und hält gerade dessen Hand im der seinigen,
Um den Pulsschlag zu beobachten, als plötzlich Jeanette — so heißt die heimlich
geliebte — in das Zumner tritt. Sofort beginnt der Puls des Kranken hef¬
tiger zu schlagen und beruhigt sich erst nach der, Entfernung des Mädchens.
Um jedoch sicher zu gehen, wiederholt der Arzt den Versuch. Er läßt das Mädchen
unter irgend einem beliebigen Vorwnnde rufen: das Ergebnis ist dasselbe. Nun
macht er den Eltern die Biitteilung von seiner Entdeckung, und sie geben nach
vielen Schwierigkeiten notgedrungen ihre Einwilligung' zu- der Vermählung des


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0277" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/204366"/>
          <fw type="header" place="top"> ?&gt;le Geschichte von dein kranken Aönigssohne</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_900" prev="#ID_899"> Hauptsache wohl gegen das Ende des dreizehnten Jahrhunderts entstanden<lb/>
ist, findet mau das Motiv der Avieenuälegende wieder, aber in einer Fassung,<lb/>
die zeigt, daß die Geschichte vorher schon durch viele Hände gegangen war.<lb/>
Die Szene ist gründlich verändert, und das Ganze nach dem Geschmack der<lb/>
höfischen Gesellschaft jener Tage zurecht gemacht. Ein Ritter &#x2014; heißt es im<lb/>
40. Kapitel &#x2014; hat seine Gemahlin im Verdacht, daß sie einen andern mehr<lb/>
liebe als ihn. Er sagt ihr dies mehrmals geradezu, erhält aber stets die<lb/>
Antwort, sie liebe niemand nußer ihrem Gemahl. Dieser aber vermag sich<lb/>
uicht dabei zu beruhigen, sondern wendet sich nu einen erfahrenen Kleriker mit<lb/>
der Bitte, er möge ihm doch helfen, der Sache auf den Grund zu kommen.<lb/>
Dieser sagt, er müsse zuvor die Dame sehen und mit ihr sprechen, worauf ihn<lb/>
dann der Ritter zum Mahle einladet und ihm seinen Platz unmittelbar neben<lb/>
seiner Hausfrau anweist. Nun bringt der kluge Berater allmählich das Ge¬<lb/>
spräch auf deu angeblichen Geliebten der Dame. Ziigleich ergreift er ihre<lb/>
Hand und merkt, daß der Puls während der Dauer des zuletzt begonnenen<lb/>
Gespräches durch seinen lebhafteren Gang die freudige Erregung der Frau<lb/>
bekundet. Er macht aber auch die Gegenprobe, indem er unmerklich das Ge¬<lb/>
spräch ans den Gatten lenkt und nun wahrnimmt, wie die Wallungen sich<lb/>
legen und der Puls zu seinem gleichmäßigen Gange zurückkehrt. Da erkennt<lb/>
er denn, daß seine Tischnnchbarin den andern, mit dem sie ins Gerede ge¬<lb/>
kommen ist, wirklich mehr liebt als' deu eignen Gemahl, und so erfährt nun<lb/>
mich dieser, was er zu Nüssen begehrt.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_901" next="#ID_902"> Natürlich hat sich auch Boccaccio den dankbaren Stoff nicht entgehen<lb/>
lassen. Die achte Novelle des siebenten Buches bringt das Motiv der Puls¬<lb/>
fühlung in einer Form, die wieder mehr an die Geschichte des Antiochos er-<lb/>
innert. Der Graf von Angers muß infolge von allerlei Hofkabalen mit seineu<lb/>
Kindern ans Frankreich fliehen, kommt nach England und irrt hier lange un¬<lb/>
erkannt umher. Er hat das Glück, daß seine Tochter von einer reichen Dame<lb/>
als Pflegekind angenommen wird. Als sie Herangewachsen ist, entbrennt der<lb/>
einzige Sohn des Hauses in heftiger Liebe zu dem blühenden Mädchen , will<lb/>
seiue Neigung aber uicht eingestehen, weil er den Widerstand seiner Eltern<lb/>
fürchten muß. Die Folge ist eine nuscheinend hoffnungslose Erkrankung des<lb/>
Jünglings. Da kommt zufällig ein junger, gelehrter Arzt zugereist. Er unter¬<lb/>
sucht den Zustand des Kranken und hält gerade dessen Hand im der seinigen,<lb/>
Um den Pulsschlag zu beobachten, als plötzlich Jeanette &#x2014; so heißt die heimlich<lb/>
geliebte &#x2014; in das Zumner tritt. Sofort beginnt der Puls des Kranken hef¬<lb/>
tiger zu schlagen und beruhigt sich erst nach der, Entfernung des Mädchens.<lb/>
Um jedoch sicher zu gehen, wiederholt der Arzt den Versuch. Er läßt das Mädchen<lb/>
unter irgend einem beliebigen Vorwnnde rufen: das Ergebnis ist dasselbe. Nun<lb/>
macht er den Eltern die Biitteilung von seiner Entdeckung, und sie geben nach<lb/>
vielen Schwierigkeiten notgedrungen ihre Einwilligung' zu- der Vermählung des</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0277] ?>le Geschichte von dein kranken Aönigssohne Hauptsache wohl gegen das Ende des dreizehnten Jahrhunderts entstanden ist, findet mau das Motiv der Avieenuälegende wieder, aber in einer Fassung, die zeigt, daß die Geschichte vorher schon durch viele Hände gegangen war. Die Szene ist gründlich verändert, und das Ganze nach dem Geschmack der höfischen Gesellschaft jener Tage zurecht gemacht. Ein Ritter — heißt es im 40. Kapitel — hat seine Gemahlin im Verdacht, daß sie einen andern mehr liebe als ihn. Er sagt ihr dies mehrmals geradezu, erhält aber stets die Antwort, sie liebe niemand nußer ihrem Gemahl. Dieser aber vermag sich uicht dabei zu beruhigen, sondern wendet sich nu einen erfahrenen Kleriker mit der Bitte, er möge ihm doch helfen, der Sache auf den Grund zu kommen. Dieser sagt, er müsse zuvor die Dame sehen und mit ihr sprechen, worauf ihn dann der Ritter zum Mahle einladet und ihm seinen Platz unmittelbar neben seiner Hausfrau anweist. Nun bringt der kluge Berater allmählich das Ge¬ spräch auf deu angeblichen Geliebten der Dame. Ziigleich ergreift er ihre Hand und merkt, daß der Puls während der Dauer des zuletzt begonnenen Gespräches durch seinen lebhafteren Gang die freudige Erregung der Frau bekundet. Er macht aber auch die Gegenprobe, indem er unmerklich das Ge¬ spräch ans den Gatten lenkt und nun wahrnimmt, wie die Wallungen sich legen und der Puls zu seinem gleichmäßigen Gange zurückkehrt. Da erkennt er denn, daß seine Tischnnchbarin den andern, mit dem sie ins Gerede ge¬ kommen ist, wirklich mehr liebt als' deu eignen Gemahl, und so erfährt nun mich dieser, was er zu Nüssen begehrt. Natürlich hat sich auch Boccaccio den dankbaren Stoff nicht entgehen lassen. Die achte Novelle des siebenten Buches bringt das Motiv der Puls¬ fühlung in einer Form, die wieder mehr an die Geschichte des Antiochos er- innert. Der Graf von Angers muß infolge von allerlei Hofkabalen mit seineu Kindern ans Frankreich fliehen, kommt nach England und irrt hier lange un¬ erkannt umher. Er hat das Glück, daß seine Tochter von einer reichen Dame als Pflegekind angenommen wird. Als sie Herangewachsen ist, entbrennt der einzige Sohn des Hauses in heftiger Liebe zu dem blühenden Mädchen , will seiue Neigung aber uicht eingestehen, weil er den Widerstand seiner Eltern fürchten muß. Die Folge ist eine nuscheinend hoffnungslose Erkrankung des Jünglings. Da kommt zufällig ein junger, gelehrter Arzt zugereist. Er unter¬ sucht den Zustand des Kranken und hält gerade dessen Hand im der seinigen, Um den Pulsschlag zu beobachten, als plötzlich Jeanette — so heißt die heimlich geliebte — in das Zumner tritt. Sofort beginnt der Puls des Kranken hef¬ tiger zu schlagen und beruhigt sich erst nach der, Entfernung des Mädchens. Um jedoch sicher zu gehen, wiederholt der Arzt den Versuch. Er läßt das Mädchen unter irgend einem beliebigen Vorwnnde rufen: das Ergebnis ist dasselbe. Nun macht er den Eltern die Biitteilung von seiner Entdeckung, und sie geben nach vielen Schwierigkeiten notgedrungen ihre Einwilligung' zu- der Vermählung des

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341849_204088
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341849_204088/277
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341849_204088/277>, abgerufen am 26.06.2024.