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Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Erstes Vierteljahr.

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jungen Paares, Sie thun auch wohl daran, denn schließlich erscheint der Graf
von Angers unerkannt im Hanse der eignen Tochter, um in die Dienste seines
Eidams zu treten, und es erfolgt dann eine Erkennung, die lebhaft an Goethes
Ballade vom vertriebenen und zurückkehrenden Grafen erinnert.

Erkennt mau aus deu mitgeteilten Erzählungen dentlich, eine wie weite
Verbreitung wenigstens das Grundmotiv unsrer Geschichte gefunden hat, so
erscheint sie in wesentlich neuer Beleuchtung. Indem sie in den Zusammen¬
hang mit der griechischen Novellistik und der Märchenwelt des Orients tritt,
drängt sich die Frage nach ihrer Echtheit von neuem auf. Die Entdeckung
eines seelischen Leidens durch die Beobachtung des Pulsschlages ist an sich
nichts außerordentliches und mag in Wirklichkeit mehr als einmal vorgekommen
sein. Aber auffallend ist es, daß die ungewöhnliche Art, wie dem Kranken
das Geheimnis entlockt wird, in so vielen Erzählungen wiederkehrt und von
drei berühmten Ärzten berichtet wird. Unter diesen Umständen liegt der Ge¬
danke an Entlehnung nahe genug. Von dieser Erkenntnis ausgehend gelangt
Rohde zu der Vermutung, die Geschichte sei vom Erasitratos wie auf den
Hippokrates, so anch auf deu Avicenun übertragen worden, dann in die Mär¬
chen des Orients übergegangen und ans diesem Wege schließlich in das Abend¬
land gelangt, wobei er unentschieden laßt, ob der geschilderte Hergang auf
Thatsachen beruhe oder ins Bereich der Dichtung zu verweisen sei. Doch
könnte der Prozeß der Entlehnung auch in umgekehrter Weise verlaufen sein.
Denn wenn auch die griechische Erzählung über tausend Jahre älter ist als
die älteste der uns bekannten orientalischen Fassungen, so ist das doch an sich
noch keineswegs ein Beweis für ihre Priorität. Es könnte auch hier, wie so
oft, ein altes orientalisches Nvvellenmotiv, das sich dann am reinsten in der
Avieennalegende erhalten hätte, mit der Geschichte von der Erkrankung und
der Heilung des Autivchvs verkuppelt sein. Wie dem aber auch sei, der Glaube
an ihre geschichtliche Wahrheit in allen einzelnen Zügen steht auf schwacher
Unterlage. Sicher ist es, daß Autiochos den Osten des Seleueidenreiches noch
bei Lebzeiten seines Vaters als Statthalter verwaltete; wahrscheinlich, daß Se-
leukos ihm die Stratonike, seine jugendliche Gemahlin, als Gattin überließ.
Unbedenklich darf man ferner annehmen, daß Antiochos aus schwerer Krank¬
heit durch die Kunst des Erasistrntos gerettet worden sei. Ob aber diese Krank¬
heit in Verbindung mit der Leidenschaft für seine Stiefmutter gestanden hat,
ist nicht mehr auszumachen, und was von der Art der Heilung erzählt wird,
mag schmückendes Rankenwerk sein, das die geschäftige Sage aus sich selbst
heraus oder mit fremder Hilfe um den Vorgang gesponnen hat.

Daß auch die bildende Kunst sich des Vorwurfs bemächtigt habe, möchte
man von vornherein bezweifeln. Ein Leiden, so scheint es, dessen Ursache man
nicht kennt, ist durch den Pinsel schwer auszudrücken. Und doch ist es geschehen.
G6rard de Lairesse, ein Niederländer französischer Abstammung, dessen Blütezeit


jungen Paares, Sie thun auch wohl daran, denn schließlich erscheint der Graf
von Angers unerkannt im Hanse der eignen Tochter, um in die Dienste seines
Eidams zu treten, und es erfolgt dann eine Erkennung, die lebhaft an Goethes
Ballade vom vertriebenen und zurückkehrenden Grafen erinnert.

Erkennt mau aus deu mitgeteilten Erzählungen dentlich, eine wie weite
Verbreitung wenigstens das Grundmotiv unsrer Geschichte gefunden hat, so
erscheint sie in wesentlich neuer Beleuchtung. Indem sie in den Zusammen¬
hang mit der griechischen Novellistik und der Märchenwelt des Orients tritt,
drängt sich die Frage nach ihrer Echtheit von neuem auf. Die Entdeckung
eines seelischen Leidens durch die Beobachtung des Pulsschlages ist an sich
nichts außerordentliches und mag in Wirklichkeit mehr als einmal vorgekommen
sein. Aber auffallend ist es, daß die ungewöhnliche Art, wie dem Kranken
das Geheimnis entlockt wird, in so vielen Erzählungen wiederkehrt und von
drei berühmten Ärzten berichtet wird. Unter diesen Umständen liegt der Ge¬
danke an Entlehnung nahe genug. Von dieser Erkenntnis ausgehend gelangt
Rohde zu der Vermutung, die Geschichte sei vom Erasitratos wie auf den
Hippokrates, so anch auf deu Avicenun übertragen worden, dann in die Mär¬
chen des Orients übergegangen und ans diesem Wege schließlich in das Abend¬
land gelangt, wobei er unentschieden laßt, ob der geschilderte Hergang auf
Thatsachen beruhe oder ins Bereich der Dichtung zu verweisen sei. Doch
könnte der Prozeß der Entlehnung auch in umgekehrter Weise verlaufen sein.
Denn wenn auch die griechische Erzählung über tausend Jahre älter ist als
die älteste der uns bekannten orientalischen Fassungen, so ist das doch an sich
noch keineswegs ein Beweis für ihre Priorität. Es könnte auch hier, wie so
oft, ein altes orientalisches Nvvellenmotiv, das sich dann am reinsten in der
Avieennalegende erhalten hätte, mit der Geschichte von der Erkrankung und
der Heilung des Autivchvs verkuppelt sein. Wie dem aber auch sei, der Glaube
an ihre geschichtliche Wahrheit in allen einzelnen Zügen steht auf schwacher
Unterlage. Sicher ist es, daß Autiochos den Osten des Seleueidenreiches noch
bei Lebzeiten seines Vaters als Statthalter verwaltete; wahrscheinlich, daß Se-
leukos ihm die Stratonike, seine jugendliche Gemahlin, als Gattin überließ.
Unbedenklich darf man ferner annehmen, daß Antiochos aus schwerer Krank¬
heit durch die Kunst des Erasistrntos gerettet worden sei. Ob aber diese Krank¬
heit in Verbindung mit der Leidenschaft für seine Stiefmutter gestanden hat,
ist nicht mehr auszumachen, und was von der Art der Heilung erzählt wird,
mag schmückendes Rankenwerk sein, das die geschäftige Sage aus sich selbst
heraus oder mit fremder Hilfe um den Vorgang gesponnen hat.

Daß auch die bildende Kunst sich des Vorwurfs bemächtigt habe, möchte
man von vornherein bezweifeln. Ein Leiden, so scheint es, dessen Ursache man
nicht kennt, ist durch den Pinsel schwer auszudrücken. Und doch ist es geschehen.
G6rard de Lairesse, ein Niederländer französischer Abstammung, dessen Blütezeit


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[0278] jungen Paares, Sie thun auch wohl daran, denn schließlich erscheint der Graf von Angers unerkannt im Hanse der eignen Tochter, um in die Dienste seines Eidams zu treten, und es erfolgt dann eine Erkennung, die lebhaft an Goethes Ballade vom vertriebenen und zurückkehrenden Grafen erinnert. Erkennt mau aus deu mitgeteilten Erzählungen dentlich, eine wie weite Verbreitung wenigstens das Grundmotiv unsrer Geschichte gefunden hat, so erscheint sie in wesentlich neuer Beleuchtung. Indem sie in den Zusammen¬ hang mit der griechischen Novellistik und der Märchenwelt des Orients tritt, drängt sich die Frage nach ihrer Echtheit von neuem auf. Die Entdeckung eines seelischen Leidens durch die Beobachtung des Pulsschlages ist an sich nichts außerordentliches und mag in Wirklichkeit mehr als einmal vorgekommen sein. Aber auffallend ist es, daß die ungewöhnliche Art, wie dem Kranken das Geheimnis entlockt wird, in so vielen Erzählungen wiederkehrt und von drei berühmten Ärzten berichtet wird. Unter diesen Umständen liegt der Ge¬ danke an Entlehnung nahe genug. Von dieser Erkenntnis ausgehend gelangt Rohde zu der Vermutung, die Geschichte sei vom Erasitratos wie auf den Hippokrates, so anch auf deu Avicenun übertragen worden, dann in die Mär¬ chen des Orients übergegangen und ans diesem Wege schließlich in das Abend¬ land gelangt, wobei er unentschieden laßt, ob der geschilderte Hergang auf Thatsachen beruhe oder ins Bereich der Dichtung zu verweisen sei. Doch könnte der Prozeß der Entlehnung auch in umgekehrter Weise verlaufen sein. Denn wenn auch die griechische Erzählung über tausend Jahre älter ist als die älteste der uns bekannten orientalischen Fassungen, so ist das doch an sich noch keineswegs ein Beweis für ihre Priorität. Es könnte auch hier, wie so oft, ein altes orientalisches Nvvellenmotiv, das sich dann am reinsten in der Avieennalegende erhalten hätte, mit der Geschichte von der Erkrankung und der Heilung des Autivchvs verkuppelt sein. Wie dem aber auch sei, der Glaube an ihre geschichtliche Wahrheit in allen einzelnen Zügen steht auf schwacher Unterlage. Sicher ist es, daß Autiochos den Osten des Seleueidenreiches noch bei Lebzeiten seines Vaters als Statthalter verwaltete; wahrscheinlich, daß Se- leukos ihm die Stratonike, seine jugendliche Gemahlin, als Gattin überließ. Unbedenklich darf man ferner annehmen, daß Antiochos aus schwerer Krank¬ heit durch die Kunst des Erasistrntos gerettet worden sei. Ob aber diese Krank¬ heit in Verbindung mit der Leidenschaft für seine Stiefmutter gestanden hat, ist nicht mehr auszumachen, und was von der Art der Heilung erzählt wird, mag schmückendes Rankenwerk sein, das die geschäftige Sage aus sich selbst heraus oder mit fremder Hilfe um den Vorgang gesponnen hat. Daß auch die bildende Kunst sich des Vorwurfs bemächtigt habe, möchte man von vornherein bezweifeln. Ein Leiden, so scheint es, dessen Ursache man nicht kennt, ist durch den Pinsel schwer auszudrücken. Und doch ist es geschehen. G6rard de Lairesse, ein Niederländer französischer Abstammung, dessen Blütezeit

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341849_204088/278>, abgerufen am 26.06.2024.