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Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Erstes Vierteljahr.

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trage" hat. Viel mürb daraus ankommen, welchen Gebrauch er von seinem
Mandate machen wird. Er wird jetzt Farbe zu bekennen, aus dein Nebel
vorwiegend negativer Phrasen herauszutreten und positive Vorschläge zu machen
haben, wenn er nicht über kurz oder lang genötigt sein will, sich für bankerott
zu erklären. Mit der bloßen Kritik, so berechtigt sie scheinen mag, mit der
bloßen Opposition geht es nicht weiter, so sehr sie auch in Paris wie fast in
allen größeren Städten beliebt, ja das eigentliche Charaktermerkmal und der
Politische Grundtrieb derselben ist. Nicht weniger wichtig ist, was die herr¬
schenden Parteien, die Republikaner, in der nächsten Zukunft thun werden.
Wir nannten rücksichtslose Energie das beste Hilfsmittel, aber Nur sehen bis
jetzt nur Bestürzung, Uneinigkeit und Unentschlossenheit nach der Niederlage,
die deu Abfall eines großen Teils ihrer Wählerschaft herbeiführte. An Rat¬
schlägen fehlte es bei den seitdem fast unausgesetzten Verhandlungen der Partei¬
führer nicht, nur erwiesen sie sich bei näherer Beleuchtung allesamt entweder
als unausführbar oder ooch als unzureichend. Gewaltmaßregeln gegen den
Agitator zu ergreifen, scheint nicht mehr an der Zeit. Noch vor Jahresfrist
hätte mau ihn damit unschädlich machen können, wenn man nicht zu zimper¬
lich und zu feig gewesen wäre, die augenblickliche Unzufriedenheit des Publikums
über scharfes Einschreiten und Zugreifen mit dem Gleichmut des Klügeren
und Gereifteren austoben zu lassen, bis sie ruhig Blut gewann und zahm
wurde. Jetzt scheint das zu spät, und nnn soll Rückkehr von. der Listenwahl
zur Arrondissementswahl das Kraut fett machen. Wir halten die letzteren
für die unzweifelhaft besseren und natürlicheren von beiden, da sie den kleineren
Bezirken erlauben, Leute, die hier wohlbekannt sind, Vertrauensmänner des
Kreises, als Kandidaten aufzustellen, und sie nicht nötigen, eine in Paris 0vn
den Führern politischer Klüngel und Gesinnnngsgevatterschasten entworfene
Liste blindlings anzunehmen, weil sie also eine Emanzipation von der Obmacht
und Bevormundung der Pariser, ein Bruch mit der unheilvollen Zentralisation
wenigstens in Wahlsachen siud. Allein es ist doch die Frage, ob Boulangers
Agitation damit viel Abbruch geschehen wird.

Zuletzt uoch eins, was Nur oben nur berührten. Die Lust am Wechsel
in der Politik ist verwandt mit der Selbstsucht, die dem Regierenden znrnfti
"Steh auf, damit ich mich setzen kann," und mit der Sucht zum Widersprüche
unter allen Umständen, die sich als Mannesstolz betrachtet sehen möchte, der
niemals jn sagen darf, wenn Hochstehende, auch solche, denen man selbst empor¬
geholfen hat, etwas thun oder verlangen. Die Radikalen in Paris machen
jetzt die Erfahrung, daß sich dieser Mannesstolz gegen sie kehrt wie früher
gegen Napoleon und vorher gegen Ludwig Philipp und seine Minister. Die
Regierung ist stets schuld an jedem Mißgeschick und muß darum durch eine
andre ersetzt werden. Dasselbe gilt von dein gerade herrschenden System.
Von diesem Standpunkte betrachtet muß jetzt in Frankreich die heutige Republik


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trage» hat. Viel mürb daraus ankommen, welchen Gebrauch er von seinem
Mandate machen wird. Er wird jetzt Farbe zu bekennen, aus dein Nebel
vorwiegend negativer Phrasen herauszutreten und positive Vorschläge zu machen
haben, wenn er nicht über kurz oder lang genötigt sein will, sich für bankerott
zu erklären. Mit der bloßen Kritik, so berechtigt sie scheinen mag, mit der
bloßen Opposition geht es nicht weiter, so sehr sie auch in Paris wie fast in
allen größeren Städten beliebt, ja das eigentliche Charaktermerkmal und der
Politische Grundtrieb derselben ist. Nicht weniger wichtig ist, was die herr¬
schenden Parteien, die Republikaner, in der nächsten Zukunft thun werden.
Wir nannten rücksichtslose Energie das beste Hilfsmittel, aber Nur sehen bis
jetzt nur Bestürzung, Uneinigkeit und Unentschlossenheit nach der Niederlage,
die deu Abfall eines großen Teils ihrer Wählerschaft herbeiführte. An Rat¬
schlägen fehlte es bei den seitdem fast unausgesetzten Verhandlungen der Partei¬
führer nicht, nur erwiesen sie sich bei näherer Beleuchtung allesamt entweder
als unausführbar oder ooch als unzureichend. Gewaltmaßregeln gegen den
Agitator zu ergreifen, scheint nicht mehr an der Zeit. Noch vor Jahresfrist
hätte mau ihn damit unschädlich machen können, wenn man nicht zu zimper¬
lich und zu feig gewesen wäre, die augenblickliche Unzufriedenheit des Publikums
über scharfes Einschreiten und Zugreifen mit dem Gleichmut des Klügeren
und Gereifteren austoben zu lassen, bis sie ruhig Blut gewann und zahm
wurde. Jetzt scheint das zu spät, und nnn soll Rückkehr von. der Listenwahl
zur Arrondissementswahl das Kraut fett machen. Wir halten die letzteren
für die unzweifelhaft besseren und natürlicheren von beiden, da sie den kleineren
Bezirken erlauben, Leute, die hier wohlbekannt sind, Vertrauensmänner des
Kreises, als Kandidaten aufzustellen, und sie nicht nötigen, eine in Paris 0vn
den Führern politischer Klüngel und Gesinnnngsgevatterschasten entworfene
Liste blindlings anzunehmen, weil sie also eine Emanzipation von der Obmacht
und Bevormundung der Pariser, ein Bruch mit der unheilvollen Zentralisation
wenigstens in Wahlsachen siud. Allein es ist doch die Frage, ob Boulangers
Agitation damit viel Abbruch geschehen wird.

Zuletzt uoch eins, was Nur oben nur berührten. Die Lust am Wechsel
in der Politik ist verwandt mit der Selbstsucht, die dem Regierenden znrnfti
„Steh auf, damit ich mich setzen kann," und mit der Sucht zum Widersprüche
unter allen Umständen, die sich als Mannesstolz betrachtet sehen möchte, der
niemals jn sagen darf, wenn Hochstehende, auch solche, denen man selbst empor¬
geholfen hat, etwas thun oder verlangen. Die Radikalen in Paris machen
jetzt die Erfahrung, daß sich dieser Mannesstolz gegen sie kehrt wie früher
gegen Napoleon und vorher gegen Ludwig Philipp und seine Minister. Die
Regierung ist stets schuld an jedem Mißgeschick und muß darum durch eine
andre ersetzt werden. Dasselbe gilt von dein gerade herrschenden System.
Von diesem Standpunkte betrachtet muß jetzt in Frankreich die heutige Republik


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[0263] Die letzten Wahlen in ^>aris trage» hat. Viel mürb daraus ankommen, welchen Gebrauch er von seinem Mandate machen wird. Er wird jetzt Farbe zu bekennen, aus dein Nebel vorwiegend negativer Phrasen herauszutreten und positive Vorschläge zu machen haben, wenn er nicht über kurz oder lang genötigt sein will, sich für bankerott zu erklären. Mit der bloßen Kritik, so berechtigt sie scheinen mag, mit der bloßen Opposition geht es nicht weiter, so sehr sie auch in Paris wie fast in allen größeren Städten beliebt, ja das eigentliche Charaktermerkmal und der Politische Grundtrieb derselben ist. Nicht weniger wichtig ist, was die herr¬ schenden Parteien, die Republikaner, in der nächsten Zukunft thun werden. Wir nannten rücksichtslose Energie das beste Hilfsmittel, aber Nur sehen bis jetzt nur Bestürzung, Uneinigkeit und Unentschlossenheit nach der Niederlage, die deu Abfall eines großen Teils ihrer Wählerschaft herbeiführte. An Rat¬ schlägen fehlte es bei den seitdem fast unausgesetzten Verhandlungen der Partei¬ führer nicht, nur erwiesen sie sich bei näherer Beleuchtung allesamt entweder als unausführbar oder ooch als unzureichend. Gewaltmaßregeln gegen den Agitator zu ergreifen, scheint nicht mehr an der Zeit. Noch vor Jahresfrist hätte mau ihn damit unschädlich machen können, wenn man nicht zu zimper¬ lich und zu feig gewesen wäre, die augenblickliche Unzufriedenheit des Publikums über scharfes Einschreiten und Zugreifen mit dem Gleichmut des Klügeren und Gereifteren austoben zu lassen, bis sie ruhig Blut gewann und zahm wurde. Jetzt scheint das zu spät, und nnn soll Rückkehr von. der Listenwahl zur Arrondissementswahl das Kraut fett machen. Wir halten die letzteren für die unzweifelhaft besseren und natürlicheren von beiden, da sie den kleineren Bezirken erlauben, Leute, die hier wohlbekannt sind, Vertrauensmänner des Kreises, als Kandidaten aufzustellen, und sie nicht nötigen, eine in Paris 0vn den Führern politischer Klüngel und Gesinnnngsgevatterschasten entworfene Liste blindlings anzunehmen, weil sie also eine Emanzipation von der Obmacht und Bevormundung der Pariser, ein Bruch mit der unheilvollen Zentralisation wenigstens in Wahlsachen siud. Allein es ist doch die Frage, ob Boulangers Agitation damit viel Abbruch geschehen wird. Zuletzt uoch eins, was Nur oben nur berührten. Die Lust am Wechsel in der Politik ist verwandt mit der Selbstsucht, die dem Regierenden znrnfti „Steh auf, damit ich mich setzen kann," und mit der Sucht zum Widersprüche unter allen Umständen, die sich als Mannesstolz betrachtet sehen möchte, der niemals jn sagen darf, wenn Hochstehende, auch solche, denen man selbst empor¬ geholfen hat, etwas thun oder verlangen. Die Radikalen in Paris machen jetzt die Erfahrung, daß sich dieser Mannesstolz gegen sie kehrt wie früher gegen Napoleon und vorher gegen Ludwig Philipp und seine Minister. Die Regierung ist stets schuld an jedem Mißgeschick und muß darum durch eine andre ersetzt werden. Dasselbe gilt von dein gerade herrschenden System. Von diesem Standpunkte betrachtet muß jetzt in Frankreich die heutige Republik

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341849_204088/263>, abgerufen am 26.06.2024.