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Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Erstes Vierteljahr.

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Die letzten Wahlen in Paris

wird, erhöhe lind verstärke. Sodann war Jacques ein im Vergleich mit
Boulanger sehr wenig bekannter Name. Konnte die Regierung dem wählenden
Publikum neben Boulanger keinen Mann von Ruf vorführe", so mußte ihr
Kandidat wenigstens irgend eine Eigenschaft, die auf die Menge wirkt, be¬
sitzen, ein derber Kraftmensch, ein populärer Redner sein, wie sie die Demo¬
kraten verlangen. Aber Jacques konnte auch mit diesen Tugenden nicht dienen,
und ebenso wellig ließ sich aus dem trocknen, nüchternen Manne ein Ideal
machen, was sich bei Boulanger mit einiger Aufwendung von Phantasie ganz
wohl bewerkstelligen ließ, zumal da das Vermögen, Helden der Schaubühne
von wirklichen zu unterscheiden, bei den Parisern nicht sehr stark ausgebildet
ist, und man einen von der letztern Art vorläufig gar nicht verlangt. Die
Wähler Boulangers wollen mit ihrem Votum in ihrer Mehrzahl keinen Krieg,
keinen zweiten Versuch, uach Berlin zu marschiren, vorbereiten, und ebenso
wenig hat der von ihnen gewählte gegenwärtig kriegerische Absichten oder sonst
Neigung, die Ruhe zu stören. Jedenfalls hat er sich dagegen verwahrt, und
nicht nur die Börse glaubt ihm, sondern auch wir, und zwar deshalb, weil
er mit solcher Neigung gegen sein eignes Interesse verstoßen, weil heute, am
Vorabende der Weltallsstellung, derartige Pläne hegen der helle Wahnsinn
sein würde, ganz abgesehen davon, daß Boulanger sich bei einiger Selbst¬
erkenntnis unmöglich für ein napoleonisches Genie halten kann, das allem
hoffen dürfte, aus einem Kampfe mit dem Deutschen Reiche oder aus einem
Staatsstreiche als Sieger, als Diktator und zuletzt als Kaiser hervorzugehen.
Bessere Aussichten haben er und sein Anhang, wenn sie auf dem bisherigen
friedlichen Wege weitergehen, auf der Bahn von Plebisziten in einzelnen Wahl¬
orten, die ein allgemeines Plebiszit vorbereiten, das nach Abänderung der
Verfassung von ihm oder einem seiner Genossen beantragt werden wird. Ans
diesen Weg verweist ihn, wie er andeutet, sein Gewissen, sein Pflichtgefühl
gegenüber dein Vaterlande, noch mehr aber, wie wir nach seiner ganzen Ver¬
gangenheit schließen müssen, die Stimme kluger Selbstsucht.

Es wäre nicht billig und nicht zu beweisen, wenn matt behaupten wollte,
Paris habe sich bei der letzten Wahl für eine bestimmte Regierungsform ent¬
schieden; es hat aber allerdings damit eine Erklärung abgegeben, ob es die
Art und Weise, wie die bestehenden republikanischen Einrichtungen bisher ge¬
handhabt worden silld, gut heißt oder mißbilligt. Die, welche für Boulanger
stimmten, wurden, wie gesagt, von sehr verschiedenen Beweggründen dazu ver¬
anlaßt. Aber der wichtigste derselben war unzweifelhaft und unbestritten
Mißvergnügen und Verdruß über die Lage, in der sich Frankreich nach
achtzehnjähriger parlamentarischer Regierung befindet, Unzufriedenheit mit
den Parteien, die diese Regierung führten. Nicht Anhänger der Parteien,
sondern eine andre Klasse von Staatsbürgern, die hier wie anderwärts selten
zu Worte kommt, hat gesprochen und den Ausschlag gegeben, eine Klasse,


Die letzten Wahlen in Paris

wird, erhöhe lind verstärke. Sodann war Jacques ein im Vergleich mit
Boulanger sehr wenig bekannter Name. Konnte die Regierung dem wählenden
Publikum neben Boulanger keinen Mann von Ruf vorführe», so mußte ihr
Kandidat wenigstens irgend eine Eigenschaft, die auf die Menge wirkt, be¬
sitzen, ein derber Kraftmensch, ein populärer Redner sein, wie sie die Demo¬
kraten verlangen. Aber Jacques konnte auch mit diesen Tugenden nicht dienen,
und ebenso wellig ließ sich aus dem trocknen, nüchternen Manne ein Ideal
machen, was sich bei Boulanger mit einiger Aufwendung von Phantasie ganz
wohl bewerkstelligen ließ, zumal da das Vermögen, Helden der Schaubühne
von wirklichen zu unterscheiden, bei den Parisern nicht sehr stark ausgebildet
ist, und man einen von der letztern Art vorläufig gar nicht verlangt. Die
Wähler Boulangers wollen mit ihrem Votum in ihrer Mehrzahl keinen Krieg,
keinen zweiten Versuch, uach Berlin zu marschiren, vorbereiten, und ebenso
wenig hat der von ihnen gewählte gegenwärtig kriegerische Absichten oder sonst
Neigung, die Ruhe zu stören. Jedenfalls hat er sich dagegen verwahrt, und
nicht nur die Börse glaubt ihm, sondern auch wir, und zwar deshalb, weil
er mit solcher Neigung gegen sein eignes Interesse verstoßen, weil heute, am
Vorabende der Weltallsstellung, derartige Pläne hegen der helle Wahnsinn
sein würde, ganz abgesehen davon, daß Boulanger sich bei einiger Selbst¬
erkenntnis unmöglich für ein napoleonisches Genie halten kann, das allem
hoffen dürfte, aus einem Kampfe mit dem Deutschen Reiche oder aus einem
Staatsstreiche als Sieger, als Diktator und zuletzt als Kaiser hervorzugehen.
Bessere Aussichten haben er und sein Anhang, wenn sie auf dem bisherigen
friedlichen Wege weitergehen, auf der Bahn von Plebisziten in einzelnen Wahl¬
orten, die ein allgemeines Plebiszit vorbereiten, das nach Abänderung der
Verfassung von ihm oder einem seiner Genossen beantragt werden wird. Ans
diesen Weg verweist ihn, wie er andeutet, sein Gewissen, sein Pflichtgefühl
gegenüber dein Vaterlande, noch mehr aber, wie wir nach seiner ganzen Ver¬
gangenheit schließen müssen, die Stimme kluger Selbstsucht.

Es wäre nicht billig und nicht zu beweisen, wenn matt behaupten wollte,
Paris habe sich bei der letzten Wahl für eine bestimmte Regierungsform ent¬
schieden; es hat aber allerdings damit eine Erklärung abgegeben, ob es die
Art und Weise, wie die bestehenden republikanischen Einrichtungen bisher ge¬
handhabt worden silld, gut heißt oder mißbilligt. Die, welche für Boulanger
stimmten, wurden, wie gesagt, von sehr verschiedenen Beweggründen dazu ver¬
anlaßt. Aber der wichtigste derselben war unzweifelhaft und unbestritten
Mißvergnügen und Verdruß über die Lage, in der sich Frankreich nach
achtzehnjähriger parlamentarischer Regierung befindet, Unzufriedenheit mit
den Parteien, die diese Regierung führten. Nicht Anhänger der Parteien,
sondern eine andre Klasse von Staatsbürgern, die hier wie anderwärts selten
zu Worte kommt, hat gesprochen und den Ausschlag gegeben, eine Klasse,


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[0260] Die letzten Wahlen in Paris wird, erhöhe lind verstärke. Sodann war Jacques ein im Vergleich mit Boulanger sehr wenig bekannter Name. Konnte die Regierung dem wählenden Publikum neben Boulanger keinen Mann von Ruf vorführe», so mußte ihr Kandidat wenigstens irgend eine Eigenschaft, die auf die Menge wirkt, be¬ sitzen, ein derber Kraftmensch, ein populärer Redner sein, wie sie die Demo¬ kraten verlangen. Aber Jacques konnte auch mit diesen Tugenden nicht dienen, und ebenso wellig ließ sich aus dem trocknen, nüchternen Manne ein Ideal machen, was sich bei Boulanger mit einiger Aufwendung von Phantasie ganz wohl bewerkstelligen ließ, zumal da das Vermögen, Helden der Schaubühne von wirklichen zu unterscheiden, bei den Parisern nicht sehr stark ausgebildet ist, und man einen von der letztern Art vorläufig gar nicht verlangt. Die Wähler Boulangers wollen mit ihrem Votum in ihrer Mehrzahl keinen Krieg, keinen zweiten Versuch, uach Berlin zu marschiren, vorbereiten, und ebenso wenig hat der von ihnen gewählte gegenwärtig kriegerische Absichten oder sonst Neigung, die Ruhe zu stören. Jedenfalls hat er sich dagegen verwahrt, und nicht nur die Börse glaubt ihm, sondern auch wir, und zwar deshalb, weil er mit solcher Neigung gegen sein eignes Interesse verstoßen, weil heute, am Vorabende der Weltallsstellung, derartige Pläne hegen der helle Wahnsinn sein würde, ganz abgesehen davon, daß Boulanger sich bei einiger Selbst¬ erkenntnis unmöglich für ein napoleonisches Genie halten kann, das allem hoffen dürfte, aus einem Kampfe mit dem Deutschen Reiche oder aus einem Staatsstreiche als Sieger, als Diktator und zuletzt als Kaiser hervorzugehen. Bessere Aussichten haben er und sein Anhang, wenn sie auf dem bisherigen friedlichen Wege weitergehen, auf der Bahn von Plebisziten in einzelnen Wahl¬ orten, die ein allgemeines Plebiszit vorbereiten, das nach Abänderung der Verfassung von ihm oder einem seiner Genossen beantragt werden wird. Ans diesen Weg verweist ihn, wie er andeutet, sein Gewissen, sein Pflichtgefühl gegenüber dein Vaterlande, noch mehr aber, wie wir nach seiner ganzen Ver¬ gangenheit schließen müssen, die Stimme kluger Selbstsucht. Es wäre nicht billig und nicht zu beweisen, wenn matt behaupten wollte, Paris habe sich bei der letzten Wahl für eine bestimmte Regierungsform ent¬ schieden; es hat aber allerdings damit eine Erklärung abgegeben, ob es die Art und Weise, wie die bestehenden republikanischen Einrichtungen bisher ge¬ handhabt worden silld, gut heißt oder mißbilligt. Die, welche für Boulanger stimmten, wurden, wie gesagt, von sehr verschiedenen Beweggründen dazu ver¬ anlaßt. Aber der wichtigste derselben war unzweifelhaft und unbestritten Mißvergnügen und Verdruß über die Lage, in der sich Frankreich nach achtzehnjähriger parlamentarischer Regierung befindet, Unzufriedenheit mit den Parteien, die diese Regierung führten. Nicht Anhänger der Parteien, sondern eine andre Klasse von Staatsbürgern, die hier wie anderwärts selten zu Worte kommt, hat gesprochen und den Ausschlag gegeben, eine Klasse,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341849_204088/260>, abgerufen am 26.06.2024.