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Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Erstes Vierteljahr.

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wirken die Folgen, welche die exakten Wissenschaften auf phantasiebegabte Geister,
wie Taine, Leeonte de Liste uiw Flaubert, ausgeübt haben, wirken die sozialen
Kämpfe, die zwischen den demokratischen Tendenzen und unsrer Überkultur
immer offner und mächtiger hervorbrechen, wirkt schließlich die niederschmetternde
Erkenntnis von der Hoffnungslosigkeit und Unzulänglichkeit des menschlichen
Geistes. Erkennen heißt leiden -- wo soll das enden?

So wird der Schopenhauersche Pessimismus für Paul Bourget der Hinter¬
grund für seine "egvtistische" Kritik. Die tragische Morgenröte des Pessimis¬
mus (1'g.nov tragia.v.6 an xessiinisine,), ruft Bourget aus, steigt empor, diese
Morgenröte aus Blut und Thränen; wie das Licht eines erwachenden Tages,
so berührt sie leise nach und nach mit ihren roten Farbentönen die erhabensten
Geister unsers Jahrhunderts, die den Gipfel bilden, zu denen die Angen der
kommenden Menschen sich andachtsvoll erheben.

Es ist in der Geschichte der litterarischen Kritik in Frankreich eine eigen¬
tümliche und sehr beachtenswerte Erscheinung, daß keine philosophische Strö¬
mung vorübergegangen ist, ohne auf die ästhetische Beurteilung einen be¬
stimmenden Einfluß ausgeübt zu haben -- ein Beweis mehr, wie unrichtig
es ist, von einer Nutzlosigkeit, Ohnmacht oder Unzulänglichkeit der Philosophie
für das moderne Leben zu reden.

Auch Schopenhauer gewinnt, nachdem der Comtesche Positivismus ab¬
gewirtschaftet hat, immer mehr an Boden. Seitdem Caro in feinem Buche
1^6 ?ö8Ann8M6 g.n XI X siövlL und Ribot in dein seinigen ?lui08oxlliö av
Lewpönlmnör zum Teil gegen ihren Willen die Philosophie des Frankfurter
Weisen jenseits des Rheines bekannt gemacht haben, üben die originellen Er¬
gebnisse Schopenhauers, besonders seine Metaphysik der Geschlechtsliebe, einen
bedeutenden Einfluß auf die Litteratur Frankreichs ans. Selbst seine Willens-
wetaphysik, die durch Cataenzmics Übersetzung: Monclo ooinnrs volont" se
Minunz rövrvsönwtion dem größern Publikum näher gebracht worden ist, hat
sub bereits viele Anhänger erworben, so daß die Uövuo des äenx Nanäss
das Geständnis macht: II xonrrM visu, ^no Sollonöiümnor Me um ^our,
u-pee I)g,iwo, 1'lloiruruz Aare los iävö8 auront exerev 8ur ostts um as siövls ig.
?in8 xwtvnäs inllumxo (1. Oktober 188ö). Es fehlt nur noch, daß ein
^anzvsischer Kritiker Hartmanns Phänvmenologische Behandlungsweise ans
nimmt und die ganze Litteratur aus dem Entwicklungsgange der Geschichte
und aus der Organisation und deu Bedürfnissen des menschlichen Geistes
ableitet.

Jedenfalls hat Paul Bourget mit seiner psychologischen Methode einen
schritt weiter gethan als Nisard, Sniute-Beuve und Taine; seine Bedeutung
"und anerkannt werden, wenn er auch naturgemäß wenig Nachfolger zählen
^ird. Um so zahlreicher sind die Anhänger jener drei Kunstrichter. An Nisard
schließt sich in den Hauptzügen die ganze doktrinär-klassische Gruppe mit Scherer,


wirken die Folgen, welche die exakten Wissenschaften auf phantasiebegabte Geister,
wie Taine, Leeonte de Liste uiw Flaubert, ausgeübt haben, wirken die sozialen
Kämpfe, die zwischen den demokratischen Tendenzen und unsrer Überkultur
immer offner und mächtiger hervorbrechen, wirkt schließlich die niederschmetternde
Erkenntnis von der Hoffnungslosigkeit und Unzulänglichkeit des menschlichen
Geistes. Erkennen heißt leiden — wo soll das enden?

So wird der Schopenhauersche Pessimismus für Paul Bourget der Hinter¬
grund für seine „egvtistische" Kritik. Die tragische Morgenröte des Pessimis¬
mus (1'g.nov tragia.v.6 an xessiinisine,), ruft Bourget aus, steigt empor, diese
Morgenröte aus Blut und Thränen; wie das Licht eines erwachenden Tages,
so berührt sie leise nach und nach mit ihren roten Farbentönen die erhabensten
Geister unsers Jahrhunderts, die den Gipfel bilden, zu denen die Angen der
kommenden Menschen sich andachtsvoll erheben.

Es ist in der Geschichte der litterarischen Kritik in Frankreich eine eigen¬
tümliche und sehr beachtenswerte Erscheinung, daß keine philosophische Strö¬
mung vorübergegangen ist, ohne auf die ästhetische Beurteilung einen be¬
stimmenden Einfluß ausgeübt zu haben — ein Beweis mehr, wie unrichtig
es ist, von einer Nutzlosigkeit, Ohnmacht oder Unzulänglichkeit der Philosophie
für das moderne Leben zu reden.

Auch Schopenhauer gewinnt, nachdem der Comtesche Positivismus ab¬
gewirtschaftet hat, immer mehr an Boden. Seitdem Caro in feinem Buche
1^6 ?ö8Ann8M6 g.n XI X siövlL und Ribot in dein seinigen ?lui08oxlliö av
Lewpönlmnör zum Teil gegen ihren Willen die Philosophie des Frankfurter
Weisen jenseits des Rheines bekannt gemacht haben, üben die originellen Er¬
gebnisse Schopenhauers, besonders seine Metaphysik der Geschlechtsliebe, einen
bedeutenden Einfluß auf die Litteratur Frankreichs ans. Selbst seine Willens-
wetaphysik, die durch Cataenzmics Übersetzung: Monclo ooinnrs volont» se
Minunz rövrvsönwtion dem größern Publikum näher gebracht worden ist, hat
sub bereits viele Anhänger erworben, so daß die Uövuo des äenx Nanäss
das Geständnis macht: II xonrrM visu, ^no Sollonöiümnor Me um ^our,
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?in8 xwtvnäs inllumxo (1. Oktober 188ö). Es fehlt nur noch, daß ein
^anzvsischer Kritiker Hartmanns Phänvmenologische Behandlungsweise ans
nimmt und die ganze Litteratur aus dem Entwicklungsgange der Geschichte
und aus der Organisation und deu Bedürfnissen des menschlichen Geistes
ableitet.

Jedenfalls hat Paul Bourget mit seiner psychologischen Methode einen
schritt weiter gethan als Nisard, Sniute-Beuve und Taine; seine Bedeutung
"und anerkannt werden, wenn er auch naturgemäß wenig Nachfolger zählen
^ird. Um so zahlreicher sind die Anhänger jener drei Kunstrichter. An Nisard
schließt sich in den Hauptzügen die ganze doktrinär-klassische Gruppe mit Scherer,


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[0191] wirken die Folgen, welche die exakten Wissenschaften auf phantasiebegabte Geister, wie Taine, Leeonte de Liste uiw Flaubert, ausgeübt haben, wirken die sozialen Kämpfe, die zwischen den demokratischen Tendenzen und unsrer Überkultur immer offner und mächtiger hervorbrechen, wirkt schließlich die niederschmetternde Erkenntnis von der Hoffnungslosigkeit und Unzulänglichkeit des menschlichen Geistes. Erkennen heißt leiden — wo soll das enden? So wird der Schopenhauersche Pessimismus für Paul Bourget der Hinter¬ grund für seine „egvtistische" Kritik. Die tragische Morgenröte des Pessimis¬ mus (1'g.nov tragia.v.6 an xessiinisine,), ruft Bourget aus, steigt empor, diese Morgenröte aus Blut und Thränen; wie das Licht eines erwachenden Tages, so berührt sie leise nach und nach mit ihren roten Farbentönen die erhabensten Geister unsers Jahrhunderts, die den Gipfel bilden, zu denen die Angen der kommenden Menschen sich andachtsvoll erheben. Es ist in der Geschichte der litterarischen Kritik in Frankreich eine eigen¬ tümliche und sehr beachtenswerte Erscheinung, daß keine philosophische Strö¬ mung vorübergegangen ist, ohne auf die ästhetische Beurteilung einen be¬ stimmenden Einfluß ausgeübt zu haben — ein Beweis mehr, wie unrichtig es ist, von einer Nutzlosigkeit, Ohnmacht oder Unzulänglichkeit der Philosophie für das moderne Leben zu reden. Auch Schopenhauer gewinnt, nachdem der Comtesche Positivismus ab¬ gewirtschaftet hat, immer mehr an Boden. Seitdem Caro in feinem Buche 1^6 ?ö8Ann8M6 g.n XI X siövlL und Ribot in dein seinigen ?lui08oxlliö av Lewpönlmnör zum Teil gegen ihren Willen die Philosophie des Frankfurter Weisen jenseits des Rheines bekannt gemacht haben, üben die originellen Er¬ gebnisse Schopenhauers, besonders seine Metaphysik der Geschlechtsliebe, einen bedeutenden Einfluß auf die Litteratur Frankreichs ans. Selbst seine Willens- wetaphysik, die durch Cataenzmics Übersetzung: Monclo ooinnrs volont» se Minunz rövrvsönwtion dem größern Publikum näher gebracht worden ist, hat sub bereits viele Anhänger erworben, so daß die Uövuo des äenx Nanäss das Geständnis macht: II xonrrM visu, ^no Sollonöiümnor Me um ^our, u-pee I)g,iwo, 1'lloiruruz Aare los iävö8 auront exerev 8ur ostts um as siövls ig. ?in8 xwtvnäs inllumxo (1. Oktober 188ö). Es fehlt nur noch, daß ein ^anzvsischer Kritiker Hartmanns Phänvmenologische Behandlungsweise ans nimmt und die ganze Litteratur aus dem Entwicklungsgange der Geschichte und aus der Organisation und deu Bedürfnissen des menschlichen Geistes ableitet. Jedenfalls hat Paul Bourget mit seiner psychologischen Methode einen schritt weiter gethan als Nisard, Sniute-Beuve und Taine; seine Bedeutung "und anerkannt werden, wenn er auch naturgemäß wenig Nachfolger zählen ^ird. Um so zahlreicher sind die Anhänger jener drei Kunstrichter. An Nisard schließt sich in den Hauptzügen die ganze doktrinär-klassische Gruppe mit Scherer,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341849_204088/191>, abgerufen am 29.06.2024.