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Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Erstes Vierteljahr.

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Streifzüge durch die französische Litteratur der Gegenmart

Seezungen aus und überträgt die exakte Methode der Naturwissenschaften auf
die Erforschung des künstlerischen, geschichtlichen und philosophischen Lebens.
HattelNisard das dichterische Erzeugnis von allen seinen Wurzeln und Be¬
dingungen gelöst und es an sich als das Werk des freien menschlichen Geistes
betrachtet, so greift Taine das litterarische Objekt von der entgegengesetzten
Seite um, geht auf deu Ursprung desselben zurück und sucht die Eigentümlich¬
keiten des Kunstwerkes aus dem aus materiellen Ursachen ruhenden Wesen und
aus deu Triebkräften im^Menschen zu entwickeln, (jus los luits soisnt xllv-
sicuuzs on urorgux, it u'imuortö, it8 ont tcurfvui'8 av8 <ZM8ö8. II / <zu Ä pour
l'guibition, pour 1s eourugs, xour vöravitö, ociinurs pour ig. cliA-Lstiorl, xour
is zuouvviuöut inusoulglrs, pour is, "bulmu gunuiilL. I^s vivo se is, vertu
8vnd, 6ö8 xroÄnits oomuuz l<z vitriols se 1s suors.

Demnach ist nach Taine die ganze Litteraturgeschichte weiter nichts als
ein Problem der physiologischen und psychologischen Mechanik. Das, was
Sainte-Beuve noch an den Idealismus fesselte, die Willensfreiheit, wird von
Taine nicht anerkannt und ebenfalls auf mechanische Bedingungen zurückgeführt.
Der Geist ist nichts als ein Produkt der Gehirnsunktionen; diese hängen wieder
in ihren Wirkungen ab von der Gehirnsubstanz und dem Blutlauf; Gehirn
und Blut find aber das Endergebnis einer Reihe zusammenwirkender mecha¬
nischer Kräfte: der Nasse, des Klimas, des Bodens, der Umgebung (nnilisn sooial).

So ist denn die Maschine geheizt; es kommt nur darauf an, sie in Be¬
wegung zu setzen, und dazu nimmt Taine eine Kraft, kaoultv-MultrössL, an.
Diese i'aou1to-um!t,r"Z88ö unterscheidet den schöpferischen Geist von allen andern;
sie giebt ihm den ersten Stoß und die Richtung. Ist die bestimmte Bewegung
und die Richtung da, so bleibt der produktive Geist darin unabänderlich und
unbewußt bei allen seinen Erzeugnissen. Taine kommt also mit seiner psycho¬
logischen Mechanik zu einem krassen Determinismus. Er gelangt, vom Ma¬
terialismus ausgehend, zu Schopenhauers Formel: Das Genie produzirt ans
derselben Notwendigkeit, mit welcher der Baum seine Früchte trägt. Aber
Schopenhauer fand im Genie die absolute Loslösung des Intellekts aus dem
Banne, aus der Abhängigkeit von dem Willen, dem materiellen eigentlichen
Menschen; und eben weil der Wille der eigentliche Mensch ist, schreibt Schopen¬
hauer die willensreine Erkenntnis, die willenslvse Auffassung der Ideen einem
vom eigentlichen Menschen verschiedenen übermenschlichen Wesen zu, dem Genius.
Nur durch das Wirken des Genius, die Inspiration, entsteht ein Kunstwerk.
Bei Taine bleibt nach seiner genauen positiven Analyse des dichterischen
Geistes in der Retorte ein unlöslicher- Rest zurück, um den sich der Kritiker
nicht weiter kümmert, der aber, gerade weil er nicht "positiv" ist, das Kenn¬
zeichen des künstlerischen Geistes bildet.

Taine hat diese Lehre, deren Prinzipien er in dem Buche I/IutelliAMo"?
auseinandersetzt, zuerst in seiner These ^vutuius et 8W leblos im Jahre 1853


Streifzüge durch die französische Litteratur der Gegenmart

Seezungen aus und überträgt die exakte Methode der Naturwissenschaften auf
die Erforschung des künstlerischen, geschichtlichen und philosophischen Lebens.
HattelNisard das dichterische Erzeugnis von allen seinen Wurzeln und Be¬
dingungen gelöst und es an sich als das Werk des freien menschlichen Geistes
betrachtet, so greift Taine das litterarische Objekt von der entgegengesetzten
Seite um, geht auf deu Ursprung desselben zurück und sucht die Eigentümlich¬
keiten des Kunstwerkes aus dem aus materiellen Ursachen ruhenden Wesen und
aus deu Triebkräften im^Menschen zu entwickeln, (jus los luits soisnt xllv-
sicuuzs on urorgux, it u'imuortö, it8 ont tcurfvui'8 av8 <ZM8ö8. II / <zu Ä pour
l'guibition, pour 1s eourugs, xour vöravitö, ociinurs pour ig. cliA-Lstiorl, xour
is zuouvviuöut inusoulglrs, pour is, «bulmu gunuiilL. I^s vivo se is, vertu
8vnd, 6ö8 xroÄnits oomuuz l<z vitriols se 1s suors.

Demnach ist nach Taine die ganze Litteraturgeschichte weiter nichts als
ein Problem der physiologischen und psychologischen Mechanik. Das, was
Sainte-Beuve noch an den Idealismus fesselte, die Willensfreiheit, wird von
Taine nicht anerkannt und ebenfalls auf mechanische Bedingungen zurückgeführt.
Der Geist ist nichts als ein Produkt der Gehirnsunktionen; diese hängen wieder
in ihren Wirkungen ab von der Gehirnsubstanz und dem Blutlauf; Gehirn
und Blut find aber das Endergebnis einer Reihe zusammenwirkender mecha¬
nischer Kräfte: der Nasse, des Klimas, des Bodens, der Umgebung (nnilisn sooial).

So ist denn die Maschine geheizt; es kommt nur darauf an, sie in Be¬
wegung zu setzen, und dazu nimmt Taine eine Kraft, kaoultv-MultrössL, an.
Diese i'aou1to-um!t,r«Z88ö unterscheidet den schöpferischen Geist von allen andern;
sie giebt ihm den ersten Stoß und die Richtung. Ist die bestimmte Bewegung
und die Richtung da, so bleibt der produktive Geist darin unabänderlich und
unbewußt bei allen seinen Erzeugnissen. Taine kommt also mit seiner psycho¬
logischen Mechanik zu einem krassen Determinismus. Er gelangt, vom Ma¬
terialismus ausgehend, zu Schopenhauers Formel: Das Genie produzirt ans
derselben Notwendigkeit, mit welcher der Baum seine Früchte trägt. Aber
Schopenhauer fand im Genie die absolute Loslösung des Intellekts aus dem
Banne, aus der Abhängigkeit von dem Willen, dem materiellen eigentlichen
Menschen; und eben weil der Wille der eigentliche Mensch ist, schreibt Schopen¬
hauer die willensreine Erkenntnis, die willenslvse Auffassung der Ideen einem
vom eigentlichen Menschen verschiedenen übermenschlichen Wesen zu, dem Genius.
Nur durch das Wirken des Genius, die Inspiration, entsteht ein Kunstwerk.
Bei Taine bleibt nach seiner genauen positiven Analyse des dichterischen
Geistes in der Retorte ein unlöslicher- Rest zurück, um den sich der Kritiker
nicht weiter kümmert, der aber, gerade weil er nicht „positiv" ist, das Kenn¬
zeichen des künstlerischen Geistes bildet.

Taine hat diese Lehre, deren Prinzipien er in dem Buche I/IutelliAMo«?
auseinandersetzt, zuerst in seiner These ^vutuius et 8W leblos im Jahre 1853


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341849_204088/188>, abgerufen am 29.06.2024.