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Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Erstes Vierteljahr.

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Streiftiige durch die französische Litteratur der Gegenwart

Systeme grundfalsch, oder alle enthielten etwas von dem einen richtigen. Von
jener Auffassung, daß alle falsch seien, ging der Positivismus Auguste Comtes
uns; auf dieser Voraussetzung, daß in allen ein paar Bausteine zum richtigen
lagen, fußte der Eklektizismus Victor Cousins. Es handelte sich uur darum,
jedem System das richtige zu entnehmen, das gefundene Material zu ver¬
einigen und daraus, wie Paul Jnnet sagt, eine Mlosormie omrvilintrioe zu
konstruiren. (Vergl. lievns Ach äeux Nonäss, 1. August 1887, I^a ?llilo-
"oMg ä'^u^ufte Loiirte.)

Cousin versuchte die Begründung dieser Philosophie -- er scheiterte da¬
mit. Sninte-Beroe, sein Schüler, verpflanzte den Eklektizismus in die litte¬
rarische Kritik -- er scheiterte damit. Er wollte aus allen Tendenzen das
richtige herausheben und wurde unentschieden und kurzsichtig; er wollte bis
auf die geringsten Einzelheiten genau sein und wurde indiskret und schmäh¬
süchtig; er wollte unparteiisch sein, selbst in sittlichen Fragen, und wurde
charakterlos; er wollte überall festen Fuß fassen und verlor überall deu
Boden.

Es ist boshaft, aber uicht ganz unrichtig, wenn Paul Albert von ihm
sagt: Laints-Lsrivs ir 1'tur et'rin valet 6"z ouamvrs an grana Nommo, Ah
l'öselavz, nig,<ZL sur 1s elmr a czöt.6 av. triomxll^tour. Allein trotz seiner Fehler
hat Sainte-Beuve doch einen gewaltigen Einfluß auf die Entwicklung der
litterarischen Kritik in Frankreich ausgeübt, namentlich durch die Liauseriss An
Ininlli und die Muveaux Ilunäis.

Hier führt er Staatsmciuuer und Geistliche, Schriftsteller und Feldherren.
Fürsten und Frauengestalten, die Vergangenheit und die Gegenwart, Frankreich
und das Ausland in fesselnden Wandelbildern vor. Um ein derartiges, viel¬
seitiges Werk zu Staude zu bringen -- sagt Chauvin -- das sich uns alle
Zeiten und alle Länder bezog, war eine genaue und ungeheure Belesenheit not¬
wendig, eine hartnäckige Arbeit, eine unvergleichliche Diagnostik, eine Ge¬
schmeidigkeit des Talents, sich an alle Formen anzuschmiegen, für so viele
verschiedenartige Berühmtheiten den richtigen Maßstab zu finden, eine Fruchtbarkeit
des Pinsels, eine Feinheit des Tones und des Striches, um die unendlich
Zielen Eigenheiten aller jener Gestalten wiederzugeben, endlich eine Sprache,
^e reich und bestimmt, klar und farbig, edel und vertraulich sein kann . . .
Sein Werk ist eine unerschöpfliche Quelle der Belehrung, mehr als dies, eine
unvergleichliche Gallerie, in der zur hohen Freude gebildeter Geister wunder¬
bare Gestalten der Litteratur und Geschichte Wiederaufleben, interessante Per¬
sönlichkeiten, die unter dem Staube der Vergangenheit begraben zu sein schienen.

Die niLtuoäö naturelle, die Sainte-Beuve mit der Sicherheit eines Vir¬
tuosen anwendete, suchte Taine wissenschaftlich zu begründen. Taine steht im
schärfsten Gegensatz zu Nisard. Während.dieser die Litteraturgeschichte dog-
Matisch-spiritualistisch behandelt, geht Taine von rein materialistischen Voraus-


Streiftiige durch die französische Litteratur der Gegenwart

Systeme grundfalsch, oder alle enthielten etwas von dem einen richtigen. Von
jener Auffassung, daß alle falsch seien, ging der Positivismus Auguste Comtes
uns; auf dieser Voraussetzung, daß in allen ein paar Bausteine zum richtigen
lagen, fußte der Eklektizismus Victor Cousins. Es handelte sich uur darum,
jedem System das richtige zu entnehmen, das gefundene Material zu ver¬
einigen und daraus, wie Paul Jnnet sagt, eine Mlosormie omrvilintrioe zu
konstruiren. (Vergl. lievns Ach äeux Nonäss, 1. August 1887, I^a ?llilo-
«oMg ä'^u^ufte Loiirte.)

Cousin versuchte die Begründung dieser Philosophie — er scheiterte da¬
mit. Sninte-Beroe, sein Schüler, verpflanzte den Eklektizismus in die litte¬
rarische Kritik — er scheiterte damit. Er wollte aus allen Tendenzen das
richtige herausheben und wurde unentschieden und kurzsichtig; er wollte bis
auf die geringsten Einzelheiten genau sein und wurde indiskret und schmäh¬
süchtig; er wollte unparteiisch sein, selbst in sittlichen Fragen, und wurde
charakterlos; er wollte überall festen Fuß fassen und verlor überall deu
Boden.

Es ist boshaft, aber uicht ganz unrichtig, wenn Paul Albert von ihm
sagt: Laints-Lsrivs ir 1'tur et'rin valet 6«z ouamvrs an grana Nommo, Ah
l'öselavz, nig,<ZL sur 1s elmr a czöt.6 av. triomxll^tour. Allein trotz seiner Fehler
hat Sainte-Beuve doch einen gewaltigen Einfluß auf die Entwicklung der
litterarischen Kritik in Frankreich ausgeübt, namentlich durch die Liauseriss An
Ininlli und die Muveaux Ilunäis.

Hier führt er Staatsmciuuer und Geistliche, Schriftsteller und Feldherren.
Fürsten und Frauengestalten, die Vergangenheit und die Gegenwart, Frankreich
und das Ausland in fesselnden Wandelbildern vor. Um ein derartiges, viel¬
seitiges Werk zu Staude zu bringen — sagt Chauvin — das sich uns alle
Zeiten und alle Länder bezog, war eine genaue und ungeheure Belesenheit not¬
wendig, eine hartnäckige Arbeit, eine unvergleichliche Diagnostik, eine Ge¬
schmeidigkeit des Talents, sich an alle Formen anzuschmiegen, für so viele
verschiedenartige Berühmtheiten den richtigen Maßstab zu finden, eine Fruchtbarkeit
des Pinsels, eine Feinheit des Tones und des Striches, um die unendlich
Zielen Eigenheiten aller jener Gestalten wiederzugeben, endlich eine Sprache,
^e reich und bestimmt, klar und farbig, edel und vertraulich sein kann . . .
Sein Werk ist eine unerschöpfliche Quelle der Belehrung, mehr als dies, eine
unvergleichliche Gallerie, in der zur hohen Freude gebildeter Geister wunder¬
bare Gestalten der Litteratur und Geschichte Wiederaufleben, interessante Per¬
sönlichkeiten, die unter dem Staube der Vergangenheit begraben zu sein schienen.

Die niLtuoäö naturelle, die Sainte-Beuve mit der Sicherheit eines Vir¬
tuosen anwendete, suchte Taine wissenschaftlich zu begründen. Taine steht im
schärfsten Gegensatz zu Nisard. Während.dieser die Litteraturgeschichte dog-
Matisch-spiritualistisch behandelt, geht Taine von rein materialistischen Voraus-


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[0187] Streiftiige durch die französische Litteratur der Gegenwart Systeme grundfalsch, oder alle enthielten etwas von dem einen richtigen. Von jener Auffassung, daß alle falsch seien, ging der Positivismus Auguste Comtes uns; auf dieser Voraussetzung, daß in allen ein paar Bausteine zum richtigen lagen, fußte der Eklektizismus Victor Cousins. Es handelte sich uur darum, jedem System das richtige zu entnehmen, das gefundene Material zu ver¬ einigen und daraus, wie Paul Jnnet sagt, eine Mlosormie omrvilintrioe zu konstruiren. (Vergl. lievns Ach äeux Nonäss, 1. August 1887, I^a ?llilo- «oMg ä'^u^ufte Loiirte.) Cousin versuchte die Begründung dieser Philosophie — er scheiterte da¬ mit. Sninte-Beroe, sein Schüler, verpflanzte den Eklektizismus in die litte¬ rarische Kritik — er scheiterte damit. Er wollte aus allen Tendenzen das richtige herausheben und wurde unentschieden und kurzsichtig; er wollte bis auf die geringsten Einzelheiten genau sein und wurde indiskret und schmäh¬ süchtig; er wollte unparteiisch sein, selbst in sittlichen Fragen, und wurde charakterlos; er wollte überall festen Fuß fassen und verlor überall deu Boden. Es ist boshaft, aber uicht ganz unrichtig, wenn Paul Albert von ihm sagt: Laints-Lsrivs ir 1'tur et'rin valet 6«z ouamvrs an grana Nommo, Ah l'öselavz, nig,<ZL sur 1s elmr a czöt.6 av. triomxll^tour. Allein trotz seiner Fehler hat Sainte-Beuve doch einen gewaltigen Einfluß auf die Entwicklung der litterarischen Kritik in Frankreich ausgeübt, namentlich durch die Liauseriss An Ininlli und die Muveaux Ilunäis. Hier führt er Staatsmciuuer und Geistliche, Schriftsteller und Feldherren. Fürsten und Frauengestalten, die Vergangenheit und die Gegenwart, Frankreich und das Ausland in fesselnden Wandelbildern vor. Um ein derartiges, viel¬ seitiges Werk zu Staude zu bringen — sagt Chauvin — das sich uns alle Zeiten und alle Länder bezog, war eine genaue und ungeheure Belesenheit not¬ wendig, eine hartnäckige Arbeit, eine unvergleichliche Diagnostik, eine Ge¬ schmeidigkeit des Talents, sich an alle Formen anzuschmiegen, für so viele verschiedenartige Berühmtheiten den richtigen Maßstab zu finden, eine Fruchtbarkeit des Pinsels, eine Feinheit des Tones und des Striches, um die unendlich Zielen Eigenheiten aller jener Gestalten wiederzugeben, endlich eine Sprache, ^e reich und bestimmt, klar und farbig, edel und vertraulich sein kann . . . Sein Werk ist eine unerschöpfliche Quelle der Belehrung, mehr als dies, eine unvergleichliche Gallerie, in der zur hohen Freude gebildeter Geister wunder¬ bare Gestalten der Litteratur und Geschichte Wiederaufleben, interessante Per¬ sönlichkeiten, die unter dem Staube der Vergangenheit begraben zu sein schienen. Die niLtuoäö naturelle, die Sainte-Beuve mit der Sicherheit eines Vir¬ tuosen anwendete, suchte Taine wissenschaftlich zu begründen. Taine steht im schärfsten Gegensatz zu Nisard. Während.dieser die Litteraturgeschichte dog- Matisch-spiritualistisch behandelt, geht Taine von rein materialistischen Voraus-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341849_204088/187>, abgerufen am 29.06.2024.