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Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Erstes Vierteljahr.

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Streifziige durch die französische Literatur der Gegenwart

Körner las es, las es sehr genau! Gab ihm auch Budina die geschicht¬
liche Stütze, so doch erst Werthes' Werk die poetische Anregung und vielfach
neue Gedanken. Einige Literarhistoriker haben denn auch geahnt, daß dieses
Stück möglicherweise Einfluß auf Körners Zriny ausgeübt habe. So deckt
sich der neueste Herausgeber des "Zriny", Professor Tvmanetz (1887) hinter
der Bemerkung, Körner habe die Daten nicht aus Reusner selbst, sondern aus
zweiter Hand kennen gelernt. Dicht vor der Entdeckung stand K. Geiger, als
er (Schmorrs Archiv III, 339) meinte: "Sollte Körner Werthes die Anregung
zu seinem Zriny verdanken?" So ist es in der That.

(Schluß folgt)




^treifzüge durch die französische Litteratur
der Gegenwart
von E. I- Groth 3

aimee-Beroe hätte bei seinem beispiellosen Wissen und bei dieser
klaren Methode der erste Kritiker unsers Jahrhunderts werden
können, allein hierzu fehlten ihm die notwendigsten Eigenschaften:
ein bestimmter Charakter und sittliche Grundsätze. Kein Schrift¬
steller hat so viel Wandlungen durchgemacht wie Sainte-Beuve,
keiner hat sich mit ähnlicher Bereitwilligkeit allen geistigen Strömungen des
Jahrhunderts überlassen; er ist nach einander Materialist, Romantiker, Spiri¬
tualist, Sainte-Simvnist, Kalviuist, Jausenist, orthodoxer Katholik, Skeptiker,
Atheist und Positivist gewesen. Er behauptete zwar, daß er bei allen System¬
änderungen doch immer derselbe geblieben sei, daß er sich immer nur der
Speckschwarte genähert habe, aber sich niemals in der Rattenfalle habe fangen
lassen, aber er ist doch ehrlich genug, die Selbsterkenntnis auszusprechen: -lo
suis l'Wprit, I<z plus roiuxu se 1o xlus drisö g,ux wetiunorxliosss.

Die Erklärung für diese seltsame Erscheinung liegt nicht fern. Die meisten
französische>l Denker waren im Anfang unsers Jahrhunderts darüber einig,
daß keines unter allen philosophische" Systemen das richtige sei; ja man hatte
allmählich jeden Versuch ausgegeben, uach dem richtigen überhaupt noch zu forschein
So blieben denn nur noch zwei Möglichkeiten übrig: entweder waren alle


Streifziige durch die französische Literatur der Gegenwart

Körner las es, las es sehr genau! Gab ihm auch Budina die geschicht¬
liche Stütze, so doch erst Werthes' Werk die poetische Anregung und vielfach
neue Gedanken. Einige Literarhistoriker haben denn auch geahnt, daß dieses
Stück möglicherweise Einfluß auf Körners Zriny ausgeübt habe. So deckt
sich der neueste Herausgeber des „Zriny", Professor Tvmanetz (1887) hinter
der Bemerkung, Körner habe die Daten nicht aus Reusner selbst, sondern aus
zweiter Hand kennen gelernt. Dicht vor der Entdeckung stand K. Geiger, als
er (Schmorrs Archiv III, 339) meinte: „Sollte Körner Werthes die Anregung
zu seinem Zriny verdanken?" So ist es in der That.

(Schluß folgt)




^treifzüge durch die französische Litteratur
der Gegenwart
von E. I- Groth 3

aimee-Beroe hätte bei seinem beispiellosen Wissen und bei dieser
klaren Methode der erste Kritiker unsers Jahrhunderts werden
können, allein hierzu fehlten ihm die notwendigsten Eigenschaften:
ein bestimmter Charakter und sittliche Grundsätze. Kein Schrift¬
steller hat so viel Wandlungen durchgemacht wie Sainte-Beuve,
keiner hat sich mit ähnlicher Bereitwilligkeit allen geistigen Strömungen des
Jahrhunderts überlassen; er ist nach einander Materialist, Romantiker, Spiri¬
tualist, Sainte-Simvnist, Kalviuist, Jausenist, orthodoxer Katholik, Skeptiker,
Atheist und Positivist gewesen. Er behauptete zwar, daß er bei allen System¬
änderungen doch immer derselbe geblieben sei, daß er sich immer nur der
Speckschwarte genähert habe, aber sich niemals in der Rattenfalle habe fangen
lassen, aber er ist doch ehrlich genug, die Selbsterkenntnis auszusprechen: -lo
suis l'Wprit, I<z plus roiuxu se 1o xlus drisö g,ux wetiunorxliosss.

Die Erklärung für diese seltsame Erscheinung liegt nicht fern. Die meisten
französische>l Denker waren im Anfang unsers Jahrhunderts darüber einig,
daß keines unter allen philosophische» Systemen das richtige sei; ja man hatte
allmählich jeden Versuch ausgegeben, uach dem richtigen überhaupt noch zu forschein
So blieben denn nur noch zwei Möglichkeiten übrig: entweder waren alle


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[0186] Streifziige durch die französische Literatur der Gegenwart Körner las es, las es sehr genau! Gab ihm auch Budina die geschicht¬ liche Stütze, so doch erst Werthes' Werk die poetische Anregung und vielfach neue Gedanken. Einige Literarhistoriker haben denn auch geahnt, daß dieses Stück möglicherweise Einfluß auf Körners Zriny ausgeübt habe. So deckt sich der neueste Herausgeber des „Zriny", Professor Tvmanetz (1887) hinter der Bemerkung, Körner habe die Daten nicht aus Reusner selbst, sondern aus zweiter Hand kennen gelernt. Dicht vor der Entdeckung stand K. Geiger, als er (Schmorrs Archiv III, 339) meinte: „Sollte Körner Werthes die Anregung zu seinem Zriny verdanken?" So ist es in der That. (Schluß folgt) ^treifzüge durch die französische Litteratur der Gegenwart von E. I- Groth 3 aimee-Beroe hätte bei seinem beispiellosen Wissen und bei dieser klaren Methode der erste Kritiker unsers Jahrhunderts werden können, allein hierzu fehlten ihm die notwendigsten Eigenschaften: ein bestimmter Charakter und sittliche Grundsätze. Kein Schrift¬ steller hat so viel Wandlungen durchgemacht wie Sainte-Beuve, keiner hat sich mit ähnlicher Bereitwilligkeit allen geistigen Strömungen des Jahrhunderts überlassen; er ist nach einander Materialist, Romantiker, Spiri¬ tualist, Sainte-Simvnist, Kalviuist, Jausenist, orthodoxer Katholik, Skeptiker, Atheist und Positivist gewesen. Er behauptete zwar, daß er bei allen System¬ änderungen doch immer derselbe geblieben sei, daß er sich immer nur der Speckschwarte genähert habe, aber sich niemals in der Rattenfalle habe fangen lassen, aber er ist doch ehrlich genug, die Selbsterkenntnis auszusprechen: -lo suis l'Wprit, I<z plus roiuxu se 1o xlus drisö g,ux wetiunorxliosss. Die Erklärung für diese seltsame Erscheinung liegt nicht fern. Die meisten französische>l Denker waren im Anfang unsers Jahrhunderts darüber einig, daß keines unter allen philosophische» Systemen das richtige sei; ja man hatte allmählich jeden Versuch ausgegeben, uach dem richtigen überhaupt noch zu forschein So blieben denn nur noch zwei Möglichkeiten übrig: entweder waren alle

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341849_204088/186>, abgerufen am 29.06.2024.