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Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Erstes Vierteljahr.

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Streifziige durch die französische Litteratur der Gegenwart

Allem wo auf der einen Seite Ermattung, auf der andern Anmaßung,
überall aber Verwirrung erscheint, da eröffnet sich für kritische Wassergänge
ein fruchtbares Feld, und fo finden wir denn in der jüngsten Zeit nicht allein
den eigenartigen, aber interessanten Versuch, eine französische Litteraturgeschichte
zusammenzustellen, in der die zeitgenössischen Kritiker zu Worte kommen und
mit ihre" Grundsätzen, Anschauungen und Urteilen ein seltsames Mosaik bilden:
I,A> 1ne6r"eure trsnyÄiso leg vritiques oontsmxorains, rooneM8 xsr (ZdMvin
et I^s IZiäois (Paris, 1887--1888), sondern wir sehen auch eine beständig
wachsende Reihe von alten und jungen Necken sich oft mit wenig Witz und
viel Behagen auf dem kritischen Kampfring tummeln.

Nach Paul Alberts Ausspruch gehört die litterarische Kritik in Frankreich
mit zu den Ruhmesthaten unsers Jahrhunderts: mi Zsurs <M n'"Z3t pas une
des inoinäi'W gloii'W Zu XIX ° siövlö. Sie ist, wie die ganze französische
Romantik -- 1e romantisms -- anzusehen als ein Erzeugnis und eine Rück¬
wirkung des eklektische" Geistes, der in den zwanziger Jahren gegen die ein¬
seitige Verrannthcit des Klassizismus auftrat und in Victor Cousins philo¬
sophischen Theorien seinen allgemeinen Ausdruck erhielt.

Infolge der Napoleonischen Heerfahrten durch Europa, infolge der längeren
Berührung und Bekanntschaft mit andern Völkern und deren Kulturleben war
bei den Franzosen das Bestreben immer mächtiger geworden, alle geistigen
Ströme der zivilisirten Welt in die französische Litteratur hineinzuleiten. Wie
die Römer aus den eroberten Ländern sämtliche Schätze, Kunstwerke und
Götzenbilder nach Italien schleppten, so brachten die Franzosen aus ihren
Kriegszügen und Verbannungen viele geistigen Errungenschaften, Eigentümlich¬
keiten und Stimmungen fremder Nationen in ihr Vaterland mit. Daher ist
auch die ganze französische Romantik nach Form und Inhalt weiter nichts als
ein großartiger Reinignngssee, worin sich alle philosophischen, künstlerischen
und dichterischen Strömungen der europäischen Völkerschaften mit französischem
Grundwasser vereinigten. Gegen Schiller und Goethe, Calderon und Shakespeare,
Byron und Scott, Alfieri und Manzoni, Puschkin und die Skandinavier gab
es keine Kontinentalsperre. Zwar schrieen noch im Jahre 1823 die doktrinären
Kritiker: ^ 1ins Klmicssvog-rö! O'sse, un glas as (Zg.rnx ä<z "Ugllin^ton! Aber
die Rufer zum Streite waren ohnmächtig geworden; eine neue Schule, von
eklektischen Geiste erfüllt, hatte sich gebildet, an ihrer Spitze die Mitarbeiter
des eilodö: Vitet, Magnin, Dubois und Scnute-Beuve.


bruns u. a. dank der politischen Kannegießerei eine Frauenlitteratur geworden, die nur für
Frauen und zum größten Teil auch von Frauen geschrieben wird. Ein Staatsbürger, der
um Kneiptisch ernsthaft genommen werden will, muß genau wissen, wie viel Wahlstimmeu
dieser und jeuer Abgeordnete erhalten hat, aber er würde mitleidig belächelt werden, wollte
er sein Interesse für litterarisches oder wissenschaftliches Leben zeigen oder in der Litteratur
und Wissenschaft etwas andres sehen als ein bloßes Geschäft.
Streifziige durch die französische Litteratur der Gegenwart

Allem wo auf der einen Seite Ermattung, auf der andern Anmaßung,
überall aber Verwirrung erscheint, da eröffnet sich für kritische Wassergänge
ein fruchtbares Feld, und fo finden wir denn in der jüngsten Zeit nicht allein
den eigenartigen, aber interessanten Versuch, eine französische Litteraturgeschichte
zusammenzustellen, in der die zeitgenössischen Kritiker zu Worte kommen und
mit ihre» Grundsätzen, Anschauungen und Urteilen ein seltsames Mosaik bilden:
I,A> 1ne6r»eure trsnyÄiso leg vritiques oontsmxorains, rooneM8 xsr (ZdMvin
et I^s IZiäois (Paris, 1887—1888), sondern wir sehen auch eine beständig
wachsende Reihe von alten und jungen Necken sich oft mit wenig Witz und
viel Behagen auf dem kritischen Kampfring tummeln.

Nach Paul Alberts Ausspruch gehört die litterarische Kritik in Frankreich
mit zu den Ruhmesthaten unsers Jahrhunderts: mi Zsurs <M n'«Z3t pas une
des inoinäi'W gloii'W Zu XIX ° siövlö. Sie ist, wie die ganze französische
Romantik — 1e romantisms — anzusehen als ein Erzeugnis und eine Rück¬
wirkung des eklektische» Geistes, der in den zwanziger Jahren gegen die ein¬
seitige Verrannthcit des Klassizismus auftrat und in Victor Cousins philo¬
sophischen Theorien seinen allgemeinen Ausdruck erhielt.

Infolge der Napoleonischen Heerfahrten durch Europa, infolge der längeren
Berührung und Bekanntschaft mit andern Völkern und deren Kulturleben war
bei den Franzosen das Bestreben immer mächtiger geworden, alle geistigen
Ströme der zivilisirten Welt in die französische Litteratur hineinzuleiten. Wie
die Römer aus den eroberten Ländern sämtliche Schätze, Kunstwerke und
Götzenbilder nach Italien schleppten, so brachten die Franzosen aus ihren
Kriegszügen und Verbannungen viele geistigen Errungenschaften, Eigentümlich¬
keiten und Stimmungen fremder Nationen in ihr Vaterland mit. Daher ist
auch die ganze französische Romantik nach Form und Inhalt weiter nichts als
ein großartiger Reinignngssee, worin sich alle philosophischen, künstlerischen
und dichterischen Strömungen der europäischen Völkerschaften mit französischem
Grundwasser vereinigten. Gegen Schiller und Goethe, Calderon und Shakespeare,
Byron und Scott, Alfieri und Manzoni, Puschkin und die Skandinavier gab
es keine Kontinentalsperre. Zwar schrieen noch im Jahre 1823 die doktrinären
Kritiker: ^ 1ins Klmicssvog-rö! O'sse, un glas as (Zg.rnx ä<z "Ugllin^ton! Aber
die Rufer zum Streite waren ohnmächtig geworden; eine neue Schule, von
eklektischen Geiste erfüllt, hatte sich gebildet, an ihrer Spitze die Mitarbeiter
des eilodö: Vitet, Magnin, Dubois und Scnute-Beuve.


bruns u. a. dank der politischen Kannegießerei eine Frauenlitteratur geworden, die nur für
Frauen und zum größten Teil auch von Frauen geschrieben wird. Ein Staatsbürger, der
um Kneiptisch ernsthaft genommen werden will, muß genau wissen, wie viel Wahlstimmeu
dieser und jeuer Abgeordnete erhalten hat, aber er würde mitleidig belächelt werden, wollte
er sein Interesse für litterarisches oder wissenschaftliches Leben zeigen oder in der Litteratur
und Wissenschaft etwas andres sehen als ein bloßes Geschäft.
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341849_204088/152>, abgerufen am 29.06.2024.