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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Drittes Vierteljahr.

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Tagebuchblätter eines Sonntagsphilosophen.

goldnen Zeiten des Paradieses aus Kinderjahren her der Phantasie zeigten.
Das Genie sollte nicht bloß schöne Verse zu Wege bringen, mit denen der
Deutsche nun vor Aristoteles, Horaz, Boileau u. s. w. als die Lehrer hin¬
treten könnte, um auch endlich einmal die erste Censur zu erhalten: es sollte
in und mit ihnen Leben schaffen, ein neues Leben, das des Wortes wert
wäre, und alle unsre großen Dichter des vorigen Jahrhunderts und
nicht nur die großen haben dafür als ihr letztes Ziel gearbeitet. Haller fand
das goldne Zeitalter in den Alpen wieder, in der Einfachheit des Gebirgs-
lebens, noch im Schoße der Natur: "Ihr Schüler der Natur, ihr kennt noch
güldne Zeiten," und nun sucht sich jeder gebildete Städter, jeder Schüler der
Cultur jährlich einmal einen Abschein davon, Sommerfrische genannt, im Ge¬
birge, auf dem Lande, findet da auch paradiesische Thäler u. s. w. Aber die
goldne Zeit sollte auch in der Stadt selbst wieder einkehren, mitten in der Cultur
und Übercultur, so hoch stieg der ahnende Mut der jungen Bewegung. Man
hatte das Herz gleichsam wieder entdeckt als ewige Quelle alles guten und
schönen Lebens, die Kunst und das Schöne in ihrer Wirkung auf Herz und
Sinn mußten nun auch im Leben draußen ein neues schönes Leben herstellen,
wie es von Haus aus von Gott und Natur gemeint war. In diesem Sinne
ist gerade in der Frühlingszeit unsrer großen Litteraturbewegung von der
Wiederkehr des goldnen Zeitalters entschieden die Rede, recht im Gegensatz zu
dem politischen Jammer, dessen Empfindung aber gerade jenen Aufschwung des
Gemütes verstärkte. Ein begeisterter Schüler Gellerts prophezeit sie in einer
entzückten Stunde für das folgende Jahrhundert als Wirkung seines Meisters,
der zu früh verstorbene I. W. von Brawe in einem Briefe von 1757 eben
an Gellert selbst, in dem er seine Vision ausmalt, darin: "Seine Gedichte halfen
das goldne Weltalter wieder herstellen" (A. Sauer. I. W. von Brawe, Stra߬
burg 1878, S. 14). Und wenn uns solches jetzt recht kindlich anwehe und
zum Lächeln oder Spötteln reizt, so haben wir doch nicht ganz recht damit,
wir sind solchen Gedanken gegenüber gar zu nüchtern geworden. Es ist damit
wie mit der Sonne, die wir, wie sie ist, auch nicht brauchen könnten im Zimmer
oder Garten, aber ihre Wirkung brauchen wir. Uns fehlt eigentlich eine solche
Sonne am Gedankenhimmel, der uns recht verwölkt ist, eine Sonne, die alles
Leben nach oben zieht und alles Einzelne mit ihrem Licht und ihrer Wärme
umfangend zu einem Ganzen macht.

Das treue Arbeiten unsrer Dichter und Philosophen, die dabei als Helfer
nicht zu vergessen sind, leuchtete bald mit glänzenden Erfolgen, auch über die
Grenzen hinaus, nach Osten und Norden, selbst nach Westen, wo uns wieder¬
holt das Genie zur Kunst abgesprochen worden war. Im Jahre 1770 schon
las man im Leipziger Almanach der deutschen Musen eine begeisterte Auslas¬
sung über die Leistungen unsrer Dichter von einem Franzosen. Dorat, in einer
lass as Is. xovsis allLMMäo, als Einleitung zu einer frei übersetzten Schrift


Tagebuchblätter eines Sonntagsphilosophen.

goldnen Zeiten des Paradieses aus Kinderjahren her der Phantasie zeigten.
Das Genie sollte nicht bloß schöne Verse zu Wege bringen, mit denen der
Deutsche nun vor Aristoteles, Horaz, Boileau u. s. w. als die Lehrer hin¬
treten könnte, um auch endlich einmal die erste Censur zu erhalten: es sollte
in und mit ihnen Leben schaffen, ein neues Leben, das des Wortes wert
wäre, und alle unsre großen Dichter des vorigen Jahrhunderts und
nicht nur die großen haben dafür als ihr letztes Ziel gearbeitet. Haller fand
das goldne Zeitalter in den Alpen wieder, in der Einfachheit des Gebirgs-
lebens, noch im Schoße der Natur: „Ihr Schüler der Natur, ihr kennt noch
güldne Zeiten," und nun sucht sich jeder gebildete Städter, jeder Schüler der
Cultur jährlich einmal einen Abschein davon, Sommerfrische genannt, im Ge¬
birge, auf dem Lande, findet da auch paradiesische Thäler u. s. w. Aber die
goldne Zeit sollte auch in der Stadt selbst wieder einkehren, mitten in der Cultur
und Übercultur, so hoch stieg der ahnende Mut der jungen Bewegung. Man
hatte das Herz gleichsam wieder entdeckt als ewige Quelle alles guten und
schönen Lebens, die Kunst und das Schöne in ihrer Wirkung auf Herz und
Sinn mußten nun auch im Leben draußen ein neues schönes Leben herstellen,
wie es von Haus aus von Gott und Natur gemeint war. In diesem Sinne
ist gerade in der Frühlingszeit unsrer großen Litteraturbewegung von der
Wiederkehr des goldnen Zeitalters entschieden die Rede, recht im Gegensatz zu
dem politischen Jammer, dessen Empfindung aber gerade jenen Aufschwung des
Gemütes verstärkte. Ein begeisterter Schüler Gellerts prophezeit sie in einer
entzückten Stunde für das folgende Jahrhundert als Wirkung seines Meisters,
der zu früh verstorbene I. W. von Brawe in einem Briefe von 1757 eben
an Gellert selbst, in dem er seine Vision ausmalt, darin: „Seine Gedichte halfen
das goldne Weltalter wieder herstellen" (A. Sauer. I. W. von Brawe, Stra߬
burg 1878, S. 14). Und wenn uns solches jetzt recht kindlich anwehe und
zum Lächeln oder Spötteln reizt, so haben wir doch nicht ganz recht damit,
wir sind solchen Gedanken gegenüber gar zu nüchtern geworden. Es ist damit
wie mit der Sonne, die wir, wie sie ist, auch nicht brauchen könnten im Zimmer
oder Garten, aber ihre Wirkung brauchen wir. Uns fehlt eigentlich eine solche
Sonne am Gedankenhimmel, der uns recht verwölkt ist, eine Sonne, die alles
Leben nach oben zieht und alles Einzelne mit ihrem Licht und ihrer Wärme
umfangend zu einem Ganzen macht.

Das treue Arbeiten unsrer Dichter und Philosophen, die dabei als Helfer
nicht zu vergessen sind, leuchtete bald mit glänzenden Erfolgen, auch über die
Grenzen hinaus, nach Osten und Norden, selbst nach Westen, wo uns wieder¬
holt das Genie zur Kunst abgesprochen worden war. Im Jahre 1770 schon
las man im Leipziger Almanach der deutschen Musen eine begeisterte Auslas¬
sung über die Leistungen unsrer Dichter von einem Franzosen. Dorat, in einer
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[0077] Tagebuchblätter eines Sonntagsphilosophen. goldnen Zeiten des Paradieses aus Kinderjahren her der Phantasie zeigten. Das Genie sollte nicht bloß schöne Verse zu Wege bringen, mit denen der Deutsche nun vor Aristoteles, Horaz, Boileau u. s. w. als die Lehrer hin¬ treten könnte, um auch endlich einmal die erste Censur zu erhalten: es sollte in und mit ihnen Leben schaffen, ein neues Leben, das des Wortes wert wäre, und alle unsre großen Dichter des vorigen Jahrhunderts und nicht nur die großen haben dafür als ihr letztes Ziel gearbeitet. Haller fand das goldne Zeitalter in den Alpen wieder, in der Einfachheit des Gebirgs- lebens, noch im Schoße der Natur: „Ihr Schüler der Natur, ihr kennt noch güldne Zeiten," und nun sucht sich jeder gebildete Städter, jeder Schüler der Cultur jährlich einmal einen Abschein davon, Sommerfrische genannt, im Ge¬ birge, auf dem Lande, findet da auch paradiesische Thäler u. s. w. Aber die goldne Zeit sollte auch in der Stadt selbst wieder einkehren, mitten in der Cultur und Übercultur, so hoch stieg der ahnende Mut der jungen Bewegung. Man hatte das Herz gleichsam wieder entdeckt als ewige Quelle alles guten und schönen Lebens, die Kunst und das Schöne in ihrer Wirkung auf Herz und Sinn mußten nun auch im Leben draußen ein neues schönes Leben herstellen, wie es von Haus aus von Gott und Natur gemeint war. In diesem Sinne ist gerade in der Frühlingszeit unsrer großen Litteraturbewegung von der Wiederkehr des goldnen Zeitalters entschieden die Rede, recht im Gegensatz zu dem politischen Jammer, dessen Empfindung aber gerade jenen Aufschwung des Gemütes verstärkte. Ein begeisterter Schüler Gellerts prophezeit sie in einer entzückten Stunde für das folgende Jahrhundert als Wirkung seines Meisters, der zu früh verstorbene I. W. von Brawe in einem Briefe von 1757 eben an Gellert selbst, in dem er seine Vision ausmalt, darin: „Seine Gedichte halfen das goldne Weltalter wieder herstellen" (A. Sauer. I. W. von Brawe, Stra߬ burg 1878, S. 14). Und wenn uns solches jetzt recht kindlich anwehe und zum Lächeln oder Spötteln reizt, so haben wir doch nicht ganz recht damit, wir sind solchen Gedanken gegenüber gar zu nüchtern geworden. Es ist damit wie mit der Sonne, die wir, wie sie ist, auch nicht brauchen könnten im Zimmer oder Garten, aber ihre Wirkung brauchen wir. Uns fehlt eigentlich eine solche Sonne am Gedankenhimmel, der uns recht verwölkt ist, eine Sonne, die alles Leben nach oben zieht und alles Einzelne mit ihrem Licht und ihrer Wärme umfangend zu einem Ganzen macht. Das treue Arbeiten unsrer Dichter und Philosophen, die dabei als Helfer nicht zu vergessen sind, leuchtete bald mit glänzenden Erfolgen, auch über die Grenzen hinaus, nach Osten und Norden, selbst nach Westen, wo uns wieder¬ holt das Genie zur Kunst abgesprochen worden war. Im Jahre 1770 schon las man im Leipziger Almanach der deutschen Musen eine begeisterte Auslas¬ sung über die Leistungen unsrer Dichter von einem Franzosen. Dorat, in einer lass as Is. xovsis allLMMäo, als Einleitung zu einer frei übersetzten Schrift

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_289122/77>, abgerufen am 22.07.2024.