Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Drittes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Droht in Italien ein Kulturkampf?

zogen wird, bewegt sich das Volk im Zuschauerraume in der ungezwungensten
Weise. Mütter mit ihren Säuglingen auf dem Arme wandeln ans und nieder
und halten es nicht für unpassend, dem Kinde innerhalb der Kirche die Brust
zu bieten. Größere Kinder tummeln sich mit ihrem Spielzeug, Mäuner haben
ihre Hunde mitgebracht, oder die Hunde sind auch allein hereingelaufen. Geringe
Leute haben ihre Lasten auf dem Rücken, Soldaten lassen ihre Säbel auf den
Boden aufklirren, zärtliche Paare sitzen in entfernteren Ecken, Fremde mit dem
Baedeker in der Hand kommen in lautem Gespräche mit dem begleitenden
Lohndiener, schlüsselrassclndc Kirchendiener erbieten sich zur Vorzeigung der
Merkwürdigkeiten der Kirche; in einer Ecke (in Mailand) steht ein Zahltisch,
an dem man das Eintrittsgeld zum Domdache entrichtet und Photographien
kauft. Von Andacht, von Gemütserhebung ist hier kaum die Rede. Selbst die
wenigen, die hie und da in entfernten Winkeln oder an den Stufen eines
Scitenaltars knieen, vermögen doch wohl in diesem Getümmel kaum sich innerlich
zu sammeln und den Geist vom Irdischen zum Ewigen zu erheben.

So durchdringt, ja beherrscht das Volksleben die Kirche, wir meinen das
Kirchengebäude. Selbst Chor und Sakristei sind, wie in Santa Maria del
Fiore und Santa Maria Novella in Florenz, offen und jedermann zugänglich.
Die Kirche ihrerseits aber, als Anstalt, durchdringt ebenso das Volksleben,
und indem sie vom Volke nichts verlangt als Gehorsam, ihm aber gar vieles
darbietet und gewährt, wie Schulen, Asyle, Spitäler, Kunstwerke, Musik, Pracht,
Gepränge, selbst Beleuchtungen und Feuerwerke, ist sie dem Volke wert, will¬
kommen, ja unentbehrlich. Die Geistlichen bilden nicht, wie bei uns, eine ab¬
geschlossene Kaste, die sich vom Volke fernhält; sie tragen nicht, wie bei uns,
jene ernsten, zuweilen finstern und kampfbereiten Züge; man findet sie vielmehr
überall mitten unter dem Volke, am Vergnügungsort, im Kaffeehaus, in der
Osteria, im Omnibus und auf der Pferdebahn, bei Kegel- und Ballspiel; ihre
Gesichtszüge sind unbefangen und natürlich; der eine sieht ernst aus, der andre
heiter, dieser macht den Eindruck eines Sanguinikers, jener den eines Cholerikers,
kurz, sie erscheinen wie andre Menschen, als Individuen, nicht als Stand.

Um diese gegenseitige Durchdringung von Volk und Kirche, .von Kirche
und Volk recht zu verstehen, dazu waren die Oktobertage 1882 recht geeignet.
Man beging damals das siebenhundertjährige Jubelfest des heiligen Franz
von Assisi. In Assisi selbst hatte man dem Heiligen ein mächtiges Standbild
errichtet, das unter allgemeiner Teilnahme enthüllt wurde. Die Presse, selbst
die radikale, brachte lobredende Artikel, die den Heiligen als einen der großen
Männer Italiens priesen; die Kirchen, insbesondre natürlich die zu Franzis¬
kanerklöstern gehörigen, gaben Feste, zum Teil, wie Ognissanti in Florenz, mit
unerhörter Pracht. Und wie dabei das Volk der Kirche seine Reverenz machte,
so umgekehrt die Kirche dem Volke, indem sie seinem Nationalstolze schmeichelte.
Die Kirche Ognissanti hatte riesige Anschlagzettel an ihre Thüren und Mauern


Droht in Italien ein Kulturkampf?

zogen wird, bewegt sich das Volk im Zuschauerraume in der ungezwungensten
Weise. Mütter mit ihren Säuglingen auf dem Arme wandeln ans und nieder
und halten es nicht für unpassend, dem Kinde innerhalb der Kirche die Brust
zu bieten. Größere Kinder tummeln sich mit ihrem Spielzeug, Mäuner haben
ihre Hunde mitgebracht, oder die Hunde sind auch allein hereingelaufen. Geringe
Leute haben ihre Lasten auf dem Rücken, Soldaten lassen ihre Säbel auf den
Boden aufklirren, zärtliche Paare sitzen in entfernteren Ecken, Fremde mit dem
Baedeker in der Hand kommen in lautem Gespräche mit dem begleitenden
Lohndiener, schlüsselrassclndc Kirchendiener erbieten sich zur Vorzeigung der
Merkwürdigkeiten der Kirche; in einer Ecke (in Mailand) steht ein Zahltisch,
an dem man das Eintrittsgeld zum Domdache entrichtet und Photographien
kauft. Von Andacht, von Gemütserhebung ist hier kaum die Rede. Selbst die
wenigen, die hie und da in entfernten Winkeln oder an den Stufen eines
Scitenaltars knieen, vermögen doch wohl in diesem Getümmel kaum sich innerlich
zu sammeln und den Geist vom Irdischen zum Ewigen zu erheben.

So durchdringt, ja beherrscht das Volksleben die Kirche, wir meinen das
Kirchengebäude. Selbst Chor und Sakristei sind, wie in Santa Maria del
Fiore und Santa Maria Novella in Florenz, offen und jedermann zugänglich.
Die Kirche ihrerseits aber, als Anstalt, durchdringt ebenso das Volksleben,
und indem sie vom Volke nichts verlangt als Gehorsam, ihm aber gar vieles
darbietet und gewährt, wie Schulen, Asyle, Spitäler, Kunstwerke, Musik, Pracht,
Gepränge, selbst Beleuchtungen und Feuerwerke, ist sie dem Volke wert, will¬
kommen, ja unentbehrlich. Die Geistlichen bilden nicht, wie bei uns, eine ab¬
geschlossene Kaste, die sich vom Volke fernhält; sie tragen nicht, wie bei uns,
jene ernsten, zuweilen finstern und kampfbereiten Züge; man findet sie vielmehr
überall mitten unter dem Volke, am Vergnügungsort, im Kaffeehaus, in der
Osteria, im Omnibus und auf der Pferdebahn, bei Kegel- und Ballspiel; ihre
Gesichtszüge sind unbefangen und natürlich; der eine sieht ernst aus, der andre
heiter, dieser macht den Eindruck eines Sanguinikers, jener den eines Cholerikers,
kurz, sie erscheinen wie andre Menschen, als Individuen, nicht als Stand.

Um diese gegenseitige Durchdringung von Volk und Kirche, .von Kirche
und Volk recht zu verstehen, dazu waren die Oktobertage 1882 recht geeignet.
Man beging damals das siebenhundertjährige Jubelfest des heiligen Franz
von Assisi. In Assisi selbst hatte man dem Heiligen ein mächtiges Standbild
errichtet, das unter allgemeiner Teilnahme enthüllt wurde. Die Presse, selbst
die radikale, brachte lobredende Artikel, die den Heiligen als einen der großen
Männer Italiens priesen; die Kirchen, insbesondre natürlich die zu Franzis¬
kanerklöstern gehörigen, gaben Feste, zum Teil, wie Ognissanti in Florenz, mit
unerhörter Pracht. Und wie dabei das Volk der Kirche seine Reverenz machte,
so umgekehrt die Kirche dem Volke, indem sie seinem Nationalstolze schmeichelte.
Die Kirche Ognissanti hatte riesige Anschlagzettel an ihre Thüren und Mauern


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0062" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/289185"/>
          <fw type="header" place="top"> Droht in Italien ein Kulturkampf?</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_238" prev="#ID_237"> zogen wird, bewegt sich das Volk im Zuschauerraume in der ungezwungensten<lb/>
Weise. Mütter mit ihren Säuglingen auf dem Arme wandeln ans und nieder<lb/>
und halten es nicht für unpassend, dem Kinde innerhalb der Kirche die Brust<lb/>
zu bieten. Größere Kinder tummeln sich mit ihrem Spielzeug, Mäuner haben<lb/>
ihre Hunde mitgebracht, oder die Hunde sind auch allein hereingelaufen. Geringe<lb/>
Leute haben ihre Lasten auf dem Rücken, Soldaten lassen ihre Säbel auf den<lb/>
Boden aufklirren, zärtliche Paare sitzen in entfernteren Ecken, Fremde mit dem<lb/>
Baedeker in der Hand kommen in lautem Gespräche mit dem begleitenden<lb/>
Lohndiener, schlüsselrassclndc Kirchendiener erbieten sich zur Vorzeigung der<lb/>
Merkwürdigkeiten der Kirche; in einer Ecke (in Mailand) steht ein Zahltisch,<lb/>
an dem man das Eintrittsgeld zum Domdache entrichtet und Photographien<lb/>
kauft. Von Andacht, von Gemütserhebung ist hier kaum die Rede. Selbst die<lb/>
wenigen, die hie und da in entfernten Winkeln oder an den Stufen eines<lb/>
Scitenaltars knieen, vermögen doch wohl in diesem Getümmel kaum sich innerlich<lb/>
zu sammeln und den Geist vom Irdischen zum Ewigen zu erheben.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_239"> So durchdringt, ja beherrscht das Volksleben die Kirche, wir meinen das<lb/>
Kirchengebäude. Selbst Chor und Sakristei sind, wie in Santa Maria del<lb/>
Fiore und Santa Maria Novella in Florenz, offen und jedermann zugänglich.<lb/>
Die Kirche ihrerseits aber, als Anstalt, durchdringt ebenso das Volksleben,<lb/>
und indem sie vom Volke nichts verlangt als Gehorsam, ihm aber gar vieles<lb/>
darbietet und gewährt, wie Schulen, Asyle, Spitäler, Kunstwerke, Musik, Pracht,<lb/>
Gepränge, selbst Beleuchtungen und Feuerwerke, ist sie dem Volke wert, will¬<lb/>
kommen, ja unentbehrlich. Die Geistlichen bilden nicht, wie bei uns, eine ab¬<lb/>
geschlossene Kaste, die sich vom Volke fernhält; sie tragen nicht, wie bei uns,<lb/>
jene ernsten, zuweilen finstern und kampfbereiten Züge; man findet sie vielmehr<lb/>
überall mitten unter dem Volke, am Vergnügungsort, im Kaffeehaus, in der<lb/>
Osteria, im Omnibus und auf der Pferdebahn, bei Kegel- und Ballspiel; ihre<lb/>
Gesichtszüge sind unbefangen und natürlich; der eine sieht ernst aus, der andre<lb/>
heiter, dieser macht den Eindruck eines Sanguinikers, jener den eines Cholerikers,<lb/>
kurz, sie erscheinen wie andre Menschen, als Individuen, nicht als Stand.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_240" next="#ID_241"> Um diese gegenseitige Durchdringung von Volk und Kirche, .von Kirche<lb/>
und Volk recht zu verstehen, dazu waren die Oktobertage 1882 recht geeignet.<lb/>
Man beging damals das siebenhundertjährige Jubelfest des heiligen Franz<lb/>
von Assisi. In Assisi selbst hatte man dem Heiligen ein mächtiges Standbild<lb/>
errichtet, das unter allgemeiner Teilnahme enthüllt wurde. Die Presse, selbst<lb/>
die radikale, brachte lobredende Artikel, die den Heiligen als einen der großen<lb/>
Männer Italiens priesen; die Kirchen, insbesondre natürlich die zu Franzis¬<lb/>
kanerklöstern gehörigen, gaben Feste, zum Teil, wie Ognissanti in Florenz, mit<lb/>
unerhörter Pracht. Und wie dabei das Volk der Kirche seine Reverenz machte,<lb/>
so umgekehrt die Kirche dem Volke, indem sie seinem Nationalstolze schmeichelte.<lb/>
Die Kirche Ognissanti hatte riesige Anschlagzettel an ihre Thüren und Mauern</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0062] Droht in Italien ein Kulturkampf? zogen wird, bewegt sich das Volk im Zuschauerraume in der ungezwungensten Weise. Mütter mit ihren Säuglingen auf dem Arme wandeln ans und nieder und halten es nicht für unpassend, dem Kinde innerhalb der Kirche die Brust zu bieten. Größere Kinder tummeln sich mit ihrem Spielzeug, Mäuner haben ihre Hunde mitgebracht, oder die Hunde sind auch allein hereingelaufen. Geringe Leute haben ihre Lasten auf dem Rücken, Soldaten lassen ihre Säbel auf den Boden aufklirren, zärtliche Paare sitzen in entfernteren Ecken, Fremde mit dem Baedeker in der Hand kommen in lautem Gespräche mit dem begleitenden Lohndiener, schlüsselrassclndc Kirchendiener erbieten sich zur Vorzeigung der Merkwürdigkeiten der Kirche; in einer Ecke (in Mailand) steht ein Zahltisch, an dem man das Eintrittsgeld zum Domdache entrichtet und Photographien kauft. Von Andacht, von Gemütserhebung ist hier kaum die Rede. Selbst die wenigen, die hie und da in entfernten Winkeln oder an den Stufen eines Scitenaltars knieen, vermögen doch wohl in diesem Getümmel kaum sich innerlich zu sammeln und den Geist vom Irdischen zum Ewigen zu erheben. So durchdringt, ja beherrscht das Volksleben die Kirche, wir meinen das Kirchengebäude. Selbst Chor und Sakristei sind, wie in Santa Maria del Fiore und Santa Maria Novella in Florenz, offen und jedermann zugänglich. Die Kirche ihrerseits aber, als Anstalt, durchdringt ebenso das Volksleben, und indem sie vom Volke nichts verlangt als Gehorsam, ihm aber gar vieles darbietet und gewährt, wie Schulen, Asyle, Spitäler, Kunstwerke, Musik, Pracht, Gepränge, selbst Beleuchtungen und Feuerwerke, ist sie dem Volke wert, will¬ kommen, ja unentbehrlich. Die Geistlichen bilden nicht, wie bei uns, eine ab¬ geschlossene Kaste, die sich vom Volke fernhält; sie tragen nicht, wie bei uns, jene ernsten, zuweilen finstern und kampfbereiten Züge; man findet sie vielmehr überall mitten unter dem Volke, am Vergnügungsort, im Kaffeehaus, in der Osteria, im Omnibus und auf der Pferdebahn, bei Kegel- und Ballspiel; ihre Gesichtszüge sind unbefangen und natürlich; der eine sieht ernst aus, der andre heiter, dieser macht den Eindruck eines Sanguinikers, jener den eines Cholerikers, kurz, sie erscheinen wie andre Menschen, als Individuen, nicht als Stand. Um diese gegenseitige Durchdringung von Volk und Kirche, .von Kirche und Volk recht zu verstehen, dazu waren die Oktobertage 1882 recht geeignet. Man beging damals das siebenhundertjährige Jubelfest des heiligen Franz von Assisi. In Assisi selbst hatte man dem Heiligen ein mächtiges Standbild errichtet, das unter allgemeiner Teilnahme enthüllt wurde. Die Presse, selbst die radikale, brachte lobredende Artikel, die den Heiligen als einen der großen Männer Italiens priesen; die Kirchen, insbesondre natürlich die zu Franzis¬ kanerklöstern gehörigen, gaben Feste, zum Teil, wie Ognissanti in Florenz, mit unerhörter Pracht. Und wie dabei das Volk der Kirche seine Reverenz machte, so umgekehrt die Kirche dem Volke, indem sie seinem Nationalstolze schmeichelte. Die Kirche Ognissanti hatte riesige Anschlagzettel an ihre Thüren und Mauern

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_289122
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_289122/62
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_289122/62>, abgerufen am 29.06.2024.