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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Drittes Vierteljahr.

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Ricks Lyhne.
I. P. Jacobsen. Roman von
Aus dem Dänischen übersetzt von Mathilde Mann.
(Fortsetzung.)

adame Otero verbrachte schon den siebenten Monat in Riva, um
sich in völliger Ruhe von den Nachwehen eines Halsleidens zu
erhole", das ihre Stimme bedroht hatte. Der Arzt hatte es ihr
streng befohlen, ein ganzes Jahr lang nicht zu singen, ja er
hatte ihr sogar jegliche Musik verboten, um sie nicht in Ver¬
suchung zu führen. Erst wenn das Jahr verstrichen wäre, wollte er ihr ge¬
statten, einen Versuch zu machen, und wenn sich dann herausstellte, daß sich
nicht die geringste Müdigkeit darnach bemerkbar machte, sollte sie als völlig
geheilt zu betrachten sein.

Ricks gewann eine Art bildenden Einflusses auf Madame Otero, die eine
heftige, feurige Natur war.

Es war ja für sie ein furchtbarer Schlag gewesen, als sie erfuhr, daß sie
ein ganzes Jahr in aller Stille hinleben sollte, fern von Bewunderung und
Vergötterung. Im Anfange war sie ganz verzweifelt gewesen und hatte wie
gelähmt vor Schreck in diese vor ihr liegenden zwölf Monate hinaus gestarrt,
als wären sie ein tiefes, schwarzes Grab, in das sie lebendig gelegt werden
sollte, sie hatte geglaubt, von allen Menschen darauf angesehen zu werden.
Das hatte sie nicht ertragen, und eines schönen Morgens war sie plötzlich nach
Riva entflohen. Sie hätte ebenso gut einen lebhafteren, besuchteren Ort wählen
können, aber das wollte sie gerade nicht. Sie schämte sich, wie gesagt, und es
war ihr zu Mute, als hätte sie ein äußeres Gebrechen, wegen dessen die Leute
sie bemitleideten und von dem sie mit einander sprächen. Darum hatte sie an
ihrem neuen Aufenthaltsorte jeglichen Umgang vermieden und meistens auf
ihren Zimmern gelebt, deren Wände viele Verwünschungen hinnehmen mußten,




Ricks Lyhne.
I. P. Jacobsen. Roman von
Aus dem Dänischen übersetzt von Mathilde Mann.
(Fortsetzung.)

adame Otero verbrachte schon den siebenten Monat in Riva, um
sich in völliger Ruhe von den Nachwehen eines Halsleidens zu
erhole», das ihre Stimme bedroht hatte. Der Arzt hatte es ihr
streng befohlen, ein ganzes Jahr lang nicht zu singen, ja er
hatte ihr sogar jegliche Musik verboten, um sie nicht in Ver¬
suchung zu führen. Erst wenn das Jahr verstrichen wäre, wollte er ihr ge¬
statten, einen Versuch zu machen, und wenn sich dann herausstellte, daß sich
nicht die geringste Müdigkeit darnach bemerkbar machte, sollte sie als völlig
geheilt zu betrachten sein.

Ricks gewann eine Art bildenden Einflusses auf Madame Otero, die eine
heftige, feurige Natur war.

Es war ja für sie ein furchtbarer Schlag gewesen, als sie erfuhr, daß sie
ein ganzes Jahr in aller Stille hinleben sollte, fern von Bewunderung und
Vergötterung. Im Anfange war sie ganz verzweifelt gewesen und hatte wie
gelähmt vor Schreck in diese vor ihr liegenden zwölf Monate hinaus gestarrt,
als wären sie ein tiefes, schwarzes Grab, in das sie lebendig gelegt werden
sollte, sie hatte geglaubt, von allen Menschen darauf angesehen zu werden.
Das hatte sie nicht ertragen, und eines schönen Morgens war sie plötzlich nach
Riva entflohen. Sie hätte ebenso gut einen lebhafteren, besuchteren Ort wählen
können, aber das wollte sie gerade nicht. Sie schämte sich, wie gesagt, und es
war ihr zu Mute, als hätte sie ein äußeres Gebrechen, wegen dessen die Leute
sie bemitleideten und von dem sie mit einander sprächen. Darum hatte sie an
ihrem neuen Aufenthaltsorte jeglichen Umgang vermieden und meistens auf
ihren Zimmern gelebt, deren Wände viele Verwünschungen hinnehmen mußten,


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[0524] [Abbildung] Ricks Lyhne. I. P. Jacobsen. Roman von Aus dem Dänischen übersetzt von Mathilde Mann. (Fortsetzung.) adame Otero verbrachte schon den siebenten Monat in Riva, um sich in völliger Ruhe von den Nachwehen eines Halsleidens zu erhole», das ihre Stimme bedroht hatte. Der Arzt hatte es ihr streng befohlen, ein ganzes Jahr lang nicht zu singen, ja er hatte ihr sogar jegliche Musik verboten, um sie nicht in Ver¬ suchung zu führen. Erst wenn das Jahr verstrichen wäre, wollte er ihr ge¬ statten, einen Versuch zu machen, und wenn sich dann herausstellte, daß sich nicht die geringste Müdigkeit darnach bemerkbar machte, sollte sie als völlig geheilt zu betrachten sein. Ricks gewann eine Art bildenden Einflusses auf Madame Otero, die eine heftige, feurige Natur war. Es war ja für sie ein furchtbarer Schlag gewesen, als sie erfuhr, daß sie ein ganzes Jahr in aller Stille hinleben sollte, fern von Bewunderung und Vergötterung. Im Anfange war sie ganz verzweifelt gewesen und hatte wie gelähmt vor Schreck in diese vor ihr liegenden zwölf Monate hinaus gestarrt, als wären sie ein tiefes, schwarzes Grab, in das sie lebendig gelegt werden sollte, sie hatte geglaubt, von allen Menschen darauf angesehen zu werden. Das hatte sie nicht ertragen, und eines schönen Morgens war sie plötzlich nach Riva entflohen. Sie hätte ebenso gut einen lebhafteren, besuchteren Ort wählen können, aber das wollte sie gerade nicht. Sie schämte sich, wie gesagt, und es war ihr zu Mute, als hätte sie ein äußeres Gebrechen, wegen dessen die Leute sie bemitleideten und von dem sie mit einander sprächen. Darum hatte sie an ihrem neuen Aufenthaltsorte jeglichen Umgang vermieden und meistens auf ihren Zimmern gelebt, deren Wände viele Verwünschungen hinnehmen mußten,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_289122/524>, abgerufen am 22.07.2024.