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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Drittes Vierteljahr.

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Ricks Lyhne.

als rationalistisch und weniger als atheistisch war, wenn man nicht, was auch
vorkommen konnte, indifferent oder mystisch war. Man fand in diesen übrigens
sehr verschieden abgestuften Kreisen die Ansicht, daß Holstein dem Herzen wenig¬
stens ebenso nahe stehe als Jütland, man hatte kein Verwandtschaftsgefühl mit
Schweden und war nicht unbedingt für das Dänentum in seinen neudänischen
Formen. Schließlich kannte man Moliere gründlicher als Öhlenschlciger und
war, was den Kunstgeschmack betraf, vielleicht ein wenig süßlich.

Unter Einwirkung von solchen oder doch nahe verwandten Anschauungen und
Sympathien hatte sich Hjerrild entwickelt.

Er saß da und sah Ricks mit einem unsichern Blicke an, wie dieser ihm
seine Beobachtungen, die andern Gäste betreffend, mitteilte und besondern Nach¬
druck darauf legte, daß dieselben sich beinahe schämten, nicht ein Heim oder eine
heimische Stätte zu haben, welche sie an diesem Abende hätte zu sich ziehen
können.

Ja, das kann ich nur zu gut verstehen, sagte Hjerrild laut, beinahe ab¬
weisend. Man kommt am Weihnachtsabende nicht von freien Stücken hierher,
und das demütigende Gefühl, so ausgeschlossen zu sein, mag es nun freiwillig
oder durch andre geschehen, kann nicht ausbleiben. Wollen Sie mir sagen,
weswegen Sie hier sind? Wenn Sie es nicht wollen, so sagen Sie nur nein!

Ricks antwortete, daß er den letzten Weihnachtsabend mit seiner verstorbenen
Mutter verlebt habe.

Ich bitte Sie um Verzeihung, sagte Hjerrild, es war sehr liebenswürdig
von Ihnen, mir zu antworten, aber Sie müssen es mir nicht übel nehmen, ich
bin sehr mißtrauisch. Ich will Ihnen sagen, daß man sich Leute denken könnte,
welche hierher kommen, nur um dem Weihnachtsfeste einen jugendlichen Fußtritt
zu geben, und ich selber, müssen Sie wissen, befinde mich hier aus lauter Re¬
spekt vor der Weihnachtsfeier der andern. Es ist dies der erste Weihnachts¬
abend, den ich nicht in einer liebenswürdigen Familie verlebt habe, die ich aus
meiner Vaterstadt kenne, aber es ist mir so vorgekommen, als ob ich ihnen im
Wege wäre, wenn sie ihre Weihnachtslieder singen. Nicht gerade, daß sie sich
genirt hätten, dazu waren sie viel zu brav, aber es berührte sie unangenehm,
daß jemand zwischen ihnen saß, für den diese Lieder nur in die Luft gesungen
wurden -- wenigstens glaube ich das.

Ricks und Hjerrild nahmen ihre Mahlzeit fast schweigend ein, zündeten
dann ihre Zigarren an und beschlossen, in ein andres Lokal zu gehen, um dort
ihren Toddy zu trinken. Keiner von ihnen hatte Lust, heute Abend die ver¬
goldeten Spiegelrahmen und roten Sofas anzusehen, die sie Tag für Tag das
ganze Jahr hindurch vor Augen hatten, deswegen begaben sie sich in ein kleines
Cafe, in welchem sie sonst nie verkehrten.

Sie sahen aber bald, daß hier keine bleibende Stätte war. Der Wirt, die
Kellner und ein paar Freunde saßen im Hintergrunde der Stube und spielten


Ricks Lyhne.

als rationalistisch und weniger als atheistisch war, wenn man nicht, was auch
vorkommen konnte, indifferent oder mystisch war. Man fand in diesen übrigens
sehr verschieden abgestuften Kreisen die Ansicht, daß Holstein dem Herzen wenig¬
stens ebenso nahe stehe als Jütland, man hatte kein Verwandtschaftsgefühl mit
Schweden und war nicht unbedingt für das Dänentum in seinen neudänischen
Formen. Schließlich kannte man Moliere gründlicher als Öhlenschlciger und
war, was den Kunstgeschmack betraf, vielleicht ein wenig süßlich.

Unter Einwirkung von solchen oder doch nahe verwandten Anschauungen und
Sympathien hatte sich Hjerrild entwickelt.

Er saß da und sah Ricks mit einem unsichern Blicke an, wie dieser ihm
seine Beobachtungen, die andern Gäste betreffend, mitteilte und besondern Nach¬
druck darauf legte, daß dieselben sich beinahe schämten, nicht ein Heim oder eine
heimische Stätte zu haben, welche sie an diesem Abende hätte zu sich ziehen
können.

Ja, das kann ich nur zu gut verstehen, sagte Hjerrild laut, beinahe ab¬
weisend. Man kommt am Weihnachtsabende nicht von freien Stücken hierher,
und das demütigende Gefühl, so ausgeschlossen zu sein, mag es nun freiwillig
oder durch andre geschehen, kann nicht ausbleiben. Wollen Sie mir sagen,
weswegen Sie hier sind? Wenn Sie es nicht wollen, so sagen Sie nur nein!

Ricks antwortete, daß er den letzten Weihnachtsabend mit seiner verstorbenen
Mutter verlebt habe.

Ich bitte Sie um Verzeihung, sagte Hjerrild, es war sehr liebenswürdig
von Ihnen, mir zu antworten, aber Sie müssen es mir nicht übel nehmen, ich
bin sehr mißtrauisch. Ich will Ihnen sagen, daß man sich Leute denken könnte,
welche hierher kommen, nur um dem Weihnachtsfeste einen jugendlichen Fußtritt
zu geben, und ich selber, müssen Sie wissen, befinde mich hier aus lauter Re¬
spekt vor der Weihnachtsfeier der andern. Es ist dies der erste Weihnachts¬
abend, den ich nicht in einer liebenswürdigen Familie verlebt habe, die ich aus
meiner Vaterstadt kenne, aber es ist mir so vorgekommen, als ob ich ihnen im
Wege wäre, wenn sie ihre Weihnachtslieder singen. Nicht gerade, daß sie sich
genirt hätten, dazu waren sie viel zu brav, aber es berührte sie unangenehm,
daß jemand zwischen ihnen saß, für den diese Lieder nur in die Luft gesungen
wurden — wenigstens glaube ich das.

Ricks und Hjerrild nahmen ihre Mahlzeit fast schweigend ein, zündeten
dann ihre Zigarren an und beschlossen, in ein andres Lokal zu gehen, um dort
ihren Toddy zu trinken. Keiner von ihnen hatte Lust, heute Abend die ver¬
goldeten Spiegelrahmen und roten Sofas anzusehen, die sie Tag für Tag das
ganze Jahr hindurch vor Augen hatten, deswegen begaben sie sich in ein kleines
Cafe, in welchem sie sonst nie verkehrten.

Sie sahen aber bald, daß hier keine bleibende Stätte war. Der Wirt, die
Kellner und ein paar Freunde saßen im Hintergrunde der Stube und spielten


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_289122/52>, abgerufen am 28.09.2024.