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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Drittes Vierteljahr.

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Ricks Lyhne.

einer alten Zeitungsbeilage die Leute, welche eintraten. Es waren fast aus¬
schließlich junge Menschen; einige von ihnen kamen allein, mit herausfordernder
Haltung, als wollten sie die Anwesenden verhindern, sie für Leidensgenossin
anzusehen, andre konnten es gar nicht verbergen, daß es ihnen peinlich war,
an einem solchen Abend nicht eingeladen zu sein, alle aber hatten sie eine aus¬
geprägte Vorliebe für einsame Ecken und abseitsstehende Tische. Viele kamen
paarweise, und den meisten von diesen Paaren konnte man es ansehen, daß sie
Brüder waren; Ricks hatte niemals so viele Brüder auf einmal gesehen; oft
waren sie sehr verschieden in Kleidung und Wesen, und noch deutlicher zeugten
ihre Hunde davon, wie verschiedenartig oft ihre Lebensstellungen waren. Es war
fast eine Seltenheit, sowohl wenn sie kamen, wie auch spater, wenn sie saßen und
mit einander sprachen, ein wirklich vertrauliches Verhältnis zwischen ihnen zu
entdecken: bald war der eine der überlegene und der andre der bewundernde,
bald war der eine entgegenkommend und der andre zurückweisend; hier herrschte
eine wachsame Vorsichtigkeit auf beiden Seiten, dort, was noch schlimmer war,
eine stillschweigende Geringschätzung der gegenseitigen Ziele, Hoffnungen und
Mittel. Für die allermeisten bedürfte es offenbar eines solchen heiligen
Abends und damit verbunden einer gewissen Verlassenheit, um sie an ihre ge¬
meinsame Herkunft zu erinnern, sie mit einander zu vereinigen.

Während Ricks dasaß und hierüber nachdachte, wie auch über die Geduld,
mit der alle diese Menschen warteten und weder klingelten noch laut nach den
Kellnern riefen, als wollten sie nach stillschweigender Übereinkunft das Restau-
rationsgeprägc, so gut es ging, fernhalten, während er an alles dachte, sah er
einen seiner Bekannten eintreten, und dieser plötzliche Anblick eines bekannten
Gesichtes nach allen den fremden kam ihm so überraschend, daß er sich nicht
enthalten konnte, aufzustehen und den eintretenden mit einem freudigen, aber
zugleich verwunderten Guten Abend! zu begrüßen.

Warten Sie auf jemand? fragte der andre, und fah sich nach einem Haken
für seinen Überrock um.

Nein, solo!

Das trifft sich ja ausgezeichnet!

Der Neuangekommene war ein Doktor Hjerrild, ein junger Mann, den Ricks
zuweilen bei dem Etatsrat getroffen hatte und von dem er wußte, zwar nicht
aus seinem eignen Munde, sondern durch neckende Äußerungen der Etatsrätin,
daß er in religiöser Hinsicht sehr frei sei. Aus seinem eignen Munde dagegen
wußte er, daß Hjerrild in politischer Beziehung ganz das Gegenteil war.

Dieser Art Menschen begegnete man sonst eigentlich nicht bei Etatsrath
die sowohl kirchlich wie liberal waren, und der Doktor gehörte auch im Grunde
vermöge seiner Anschauungen wie durch seine verstorbene Mutter zu einem jener
damals nicht seltenen Kreise, wo man die neue Freiheit teils mit zweifelnden,
teils mit feindlichen Blicken betrachtete, und wo man in religiöser Hinsicht mehr


Ricks Lyhne.

einer alten Zeitungsbeilage die Leute, welche eintraten. Es waren fast aus¬
schließlich junge Menschen; einige von ihnen kamen allein, mit herausfordernder
Haltung, als wollten sie die Anwesenden verhindern, sie für Leidensgenossin
anzusehen, andre konnten es gar nicht verbergen, daß es ihnen peinlich war,
an einem solchen Abend nicht eingeladen zu sein, alle aber hatten sie eine aus¬
geprägte Vorliebe für einsame Ecken und abseitsstehende Tische. Viele kamen
paarweise, und den meisten von diesen Paaren konnte man es ansehen, daß sie
Brüder waren; Ricks hatte niemals so viele Brüder auf einmal gesehen; oft
waren sie sehr verschieden in Kleidung und Wesen, und noch deutlicher zeugten
ihre Hunde davon, wie verschiedenartig oft ihre Lebensstellungen waren. Es war
fast eine Seltenheit, sowohl wenn sie kamen, wie auch spater, wenn sie saßen und
mit einander sprachen, ein wirklich vertrauliches Verhältnis zwischen ihnen zu
entdecken: bald war der eine der überlegene und der andre der bewundernde,
bald war der eine entgegenkommend und der andre zurückweisend; hier herrschte
eine wachsame Vorsichtigkeit auf beiden Seiten, dort, was noch schlimmer war,
eine stillschweigende Geringschätzung der gegenseitigen Ziele, Hoffnungen und
Mittel. Für die allermeisten bedürfte es offenbar eines solchen heiligen
Abends und damit verbunden einer gewissen Verlassenheit, um sie an ihre ge¬
meinsame Herkunft zu erinnern, sie mit einander zu vereinigen.

Während Ricks dasaß und hierüber nachdachte, wie auch über die Geduld,
mit der alle diese Menschen warteten und weder klingelten noch laut nach den
Kellnern riefen, als wollten sie nach stillschweigender Übereinkunft das Restau-
rationsgeprägc, so gut es ging, fernhalten, während er an alles dachte, sah er
einen seiner Bekannten eintreten, und dieser plötzliche Anblick eines bekannten
Gesichtes nach allen den fremden kam ihm so überraschend, daß er sich nicht
enthalten konnte, aufzustehen und den eintretenden mit einem freudigen, aber
zugleich verwunderten Guten Abend! zu begrüßen.

Warten Sie auf jemand? fragte der andre, und fah sich nach einem Haken
für seinen Überrock um.

Nein, solo!

Das trifft sich ja ausgezeichnet!

Der Neuangekommene war ein Doktor Hjerrild, ein junger Mann, den Ricks
zuweilen bei dem Etatsrat getroffen hatte und von dem er wußte, zwar nicht
aus seinem eignen Munde, sondern durch neckende Äußerungen der Etatsrätin,
daß er in religiöser Hinsicht sehr frei sei. Aus seinem eignen Munde dagegen
wußte er, daß Hjerrild in politischer Beziehung ganz das Gegenteil war.

Dieser Art Menschen begegnete man sonst eigentlich nicht bei Etatsrath
die sowohl kirchlich wie liberal waren, und der Doktor gehörte auch im Grunde
vermöge seiner Anschauungen wie durch seine verstorbene Mutter zu einem jener
damals nicht seltenen Kreise, wo man die neue Freiheit teils mit zweifelnden,
teils mit feindlichen Blicken betrachtete, und wo man in religiöser Hinsicht mehr


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[0051] Ricks Lyhne. einer alten Zeitungsbeilage die Leute, welche eintraten. Es waren fast aus¬ schließlich junge Menschen; einige von ihnen kamen allein, mit herausfordernder Haltung, als wollten sie die Anwesenden verhindern, sie für Leidensgenossin anzusehen, andre konnten es gar nicht verbergen, daß es ihnen peinlich war, an einem solchen Abend nicht eingeladen zu sein, alle aber hatten sie eine aus¬ geprägte Vorliebe für einsame Ecken und abseitsstehende Tische. Viele kamen paarweise, und den meisten von diesen Paaren konnte man es ansehen, daß sie Brüder waren; Ricks hatte niemals so viele Brüder auf einmal gesehen; oft waren sie sehr verschieden in Kleidung und Wesen, und noch deutlicher zeugten ihre Hunde davon, wie verschiedenartig oft ihre Lebensstellungen waren. Es war fast eine Seltenheit, sowohl wenn sie kamen, wie auch spater, wenn sie saßen und mit einander sprachen, ein wirklich vertrauliches Verhältnis zwischen ihnen zu entdecken: bald war der eine der überlegene und der andre der bewundernde, bald war der eine entgegenkommend und der andre zurückweisend; hier herrschte eine wachsame Vorsichtigkeit auf beiden Seiten, dort, was noch schlimmer war, eine stillschweigende Geringschätzung der gegenseitigen Ziele, Hoffnungen und Mittel. Für die allermeisten bedürfte es offenbar eines solchen heiligen Abends und damit verbunden einer gewissen Verlassenheit, um sie an ihre ge¬ meinsame Herkunft zu erinnern, sie mit einander zu vereinigen. Während Ricks dasaß und hierüber nachdachte, wie auch über die Geduld, mit der alle diese Menschen warteten und weder klingelten noch laut nach den Kellnern riefen, als wollten sie nach stillschweigender Übereinkunft das Restau- rationsgeprägc, so gut es ging, fernhalten, während er an alles dachte, sah er einen seiner Bekannten eintreten, und dieser plötzliche Anblick eines bekannten Gesichtes nach allen den fremden kam ihm so überraschend, daß er sich nicht enthalten konnte, aufzustehen und den eintretenden mit einem freudigen, aber zugleich verwunderten Guten Abend! zu begrüßen. Warten Sie auf jemand? fragte der andre, und fah sich nach einem Haken für seinen Überrock um. Nein, solo! Das trifft sich ja ausgezeichnet! Der Neuangekommene war ein Doktor Hjerrild, ein junger Mann, den Ricks zuweilen bei dem Etatsrat getroffen hatte und von dem er wußte, zwar nicht aus seinem eignen Munde, sondern durch neckende Äußerungen der Etatsrätin, daß er in religiöser Hinsicht sehr frei sei. Aus seinem eignen Munde dagegen wußte er, daß Hjerrild in politischer Beziehung ganz das Gegenteil war. Dieser Art Menschen begegnete man sonst eigentlich nicht bei Etatsrath die sowohl kirchlich wie liberal waren, und der Doktor gehörte auch im Grunde vermöge seiner Anschauungen wie durch seine verstorbene Mutter zu einem jener damals nicht seltenen Kreise, wo man die neue Freiheit teils mit zweifelnden, teils mit feindlichen Blicken betrachtete, und wo man in religiöser Hinsicht mehr

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_289122/51>, abgerufen am 22.07.2024.