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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Drittes Vierteljahr.

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Das bürgerliche Gesetzbuch und die Zukunft der deutschen Rechtsprechung.

Natur sei. Es führt dies zu einer falschen Auffassung vom Wesen des Rechtes.
Man hält es durchweg für eine willkürliche Schöpfung. Überall tritt in erster
Linie der Buchstabe auf und verlangt respektirt zu werden. Die geistige Auf¬
fassung der Rechtsregeln tritt mehr und mehr zurück, und eine mechanische tritt
an die Stelle. Man gewöhnt sich daran, es gleichgiltig zu finden, ob man Ver¬
standiges oder Unverständiges aus dem Gesetze herausliest. Die Rechtswissen¬
schaft verkümmert. Die Rechtsprechung wird zum bloßen Handwerk.

Ich will hier einige Vergleiche ziehen, von denen ich jedoch von vornherein
zugestehe, daß sie nicht in vollem Maße zutreffen. Gesetzt, es sagte jemand:
Wir haben es jetzt in der ärztlichen Kunst so herrlich weit gebracht, daß wir
über alle Krankheiten einen Kodex aufstellen wollen, nach dem sämtliche Ärzte
verpflichtet werden, ihre Kranken zu behandeln. Was würde man dazu sagen?
Und was würde man sagen, wenn jemand vorschlüge, eine Akademie der bil¬
denden Künste solle einen Kodex aufstellen, wonach alle Künstler ihre Bildwerke
schaffen müßten? Diese Vergleiche hinken allerdings insofern, als, wie ich bereits
anerkannte, das Recht bis zu einem gewissen Maße der positiven Gestaltung bedarf.
Aber für gewisse Teile des Rechtes paßt der Vergleich, weil für sie die Auf¬
stellung von Regeln mit dem Scheine absoluter Geltung ganz so wirkt, als ob
man für die ärztliche Wissenschaft oder für die bildende Kunst absolute Regeln
aufstellen wollte. Man könnte die Sache auch damit vergleichen, daß jemand
auf den Gedanken käme, um der zoologischen Wissenschaft aufzuhelfen, eine große
Anzahl Tiere einzufangen und in Küsten zu sperren, dergestalt, daß nun die
Zoologen auf diese Tiere ihr Studium zu beschränken hätten. Ein Gesetzbuch
ist eine solche Sammlung eingefangener Rechtsgedanken, die man in Paragraphen
gesperrt hat, und in manchem derselben sitzt vielleicht nicht einmal ein lebendiges
Tier, sondern nur ein ausgestopftes.

Das Gesagte wird noch klarer werden, wenn wir einen Blick auf die bei
uns bestehenden Rechtszustände werfen.

Das römische Recht, das vor Zeiten in ganz Deutschland galt und auch
jetzt noch in einem erheblichen Teile unsers Vaterlandes die unmittelbare Grund¬
lage der Rechtsprechung bildet, hat den großen Vorzug, daß es keine Kodi¬
fikation im modernen Sinne ist. Der umfangreichste und wichtigste Teil der
römischen Rechtsbücher, die Pandekten, ist eine Sammlung von Aussprüchen
römischer Rechtsgelehrten, welche mit einer bewunderungswürdigen Kunst es
verstanden, mit verhältnismäßig wenigen Grundsätzen ein das Leben in hohem
Maße befriedigendes Recht zu entwickeln. Ein weiterer Teil, der Kodex, ent¬
hält vorzugsweise Kaiserreskripte, d. h. Entscheidungen einzelner Rechtsfälle, und
bildet so eine Art Präjudiziensammlung. Die Institutionen sind ein kurzgefaßtes
Lehrbuch des Rechtes, vom Standpunkte der Zeit Kaiser Justinians geschrieben.
Eigentliche Gesetze, Kaiserkonstitutionen, die im Kodex und in den Novellen ent¬
halten sind und meist positive Rechtsbildungen zum Gegenstande haben, bilden


Das bürgerliche Gesetzbuch und die Zukunft der deutschen Rechtsprechung.

Natur sei. Es führt dies zu einer falschen Auffassung vom Wesen des Rechtes.
Man hält es durchweg für eine willkürliche Schöpfung. Überall tritt in erster
Linie der Buchstabe auf und verlangt respektirt zu werden. Die geistige Auf¬
fassung der Rechtsregeln tritt mehr und mehr zurück, und eine mechanische tritt
an die Stelle. Man gewöhnt sich daran, es gleichgiltig zu finden, ob man Ver¬
standiges oder Unverständiges aus dem Gesetze herausliest. Die Rechtswissen¬
schaft verkümmert. Die Rechtsprechung wird zum bloßen Handwerk.

Ich will hier einige Vergleiche ziehen, von denen ich jedoch von vornherein
zugestehe, daß sie nicht in vollem Maße zutreffen. Gesetzt, es sagte jemand:
Wir haben es jetzt in der ärztlichen Kunst so herrlich weit gebracht, daß wir
über alle Krankheiten einen Kodex aufstellen wollen, nach dem sämtliche Ärzte
verpflichtet werden, ihre Kranken zu behandeln. Was würde man dazu sagen?
Und was würde man sagen, wenn jemand vorschlüge, eine Akademie der bil¬
denden Künste solle einen Kodex aufstellen, wonach alle Künstler ihre Bildwerke
schaffen müßten? Diese Vergleiche hinken allerdings insofern, als, wie ich bereits
anerkannte, das Recht bis zu einem gewissen Maße der positiven Gestaltung bedarf.
Aber für gewisse Teile des Rechtes paßt der Vergleich, weil für sie die Auf¬
stellung von Regeln mit dem Scheine absoluter Geltung ganz so wirkt, als ob
man für die ärztliche Wissenschaft oder für die bildende Kunst absolute Regeln
aufstellen wollte. Man könnte die Sache auch damit vergleichen, daß jemand
auf den Gedanken käme, um der zoologischen Wissenschaft aufzuhelfen, eine große
Anzahl Tiere einzufangen und in Küsten zu sperren, dergestalt, daß nun die
Zoologen auf diese Tiere ihr Studium zu beschränken hätten. Ein Gesetzbuch
ist eine solche Sammlung eingefangener Rechtsgedanken, die man in Paragraphen
gesperrt hat, und in manchem derselben sitzt vielleicht nicht einmal ein lebendiges
Tier, sondern nur ein ausgestopftes.

Das Gesagte wird noch klarer werden, wenn wir einen Blick auf die bei
uns bestehenden Rechtszustände werfen.

Das römische Recht, das vor Zeiten in ganz Deutschland galt und auch
jetzt noch in einem erheblichen Teile unsers Vaterlandes die unmittelbare Grund¬
lage der Rechtsprechung bildet, hat den großen Vorzug, daß es keine Kodi¬
fikation im modernen Sinne ist. Der umfangreichste und wichtigste Teil der
römischen Rechtsbücher, die Pandekten, ist eine Sammlung von Aussprüchen
römischer Rechtsgelehrten, welche mit einer bewunderungswürdigen Kunst es
verstanden, mit verhältnismäßig wenigen Grundsätzen ein das Leben in hohem
Maße befriedigendes Recht zu entwickeln. Ein weiterer Teil, der Kodex, ent¬
hält vorzugsweise Kaiserreskripte, d. h. Entscheidungen einzelner Rechtsfälle, und
bildet so eine Art Präjudiziensammlung. Die Institutionen sind ein kurzgefaßtes
Lehrbuch des Rechtes, vom Standpunkte der Zeit Kaiser Justinians geschrieben.
Eigentliche Gesetze, Kaiserkonstitutionen, die im Kodex und in den Novellen ent¬
halten sind und meist positive Rechtsbildungen zum Gegenstande haben, bilden


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_289122/460>, abgerufen am 24.08.2024.