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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Drittes Vierteljahr.

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Das bürgerliche Gesetzbuch und die Zukunft der deutschen Rechtsprechung.

den geringsten und am wenigsten wertvollen Teil der ganzen Zusammenstellung.
In dem römischen Rechte ist uns hiernach weniger ein Gesetzbuch, als eine leben¬
dige Rechtswissenschaft erhalten geblieben und zum Gebrauche überliefert worden,
und wir müssen uns zu einer geistigen Verwertung des uns Überlieferten umso
mehr aufgefordert fühlen, als ja die veränderten Verhältnisse eine wörtliche An¬
wendung desselben vielfach unmöglich machen.

Die römischen Juristen waren sich auch bewußt,' daß die von ihnen auf¬
gestellten Regeln keine absolute Natur haben. Gleich im Eingange des Titels
"Von den Rechtsregeln" findet sich ein hierauf bezüglicher Ausspruch von dem
geistvollsten römischen Juristen, Julius Paulus. Eine Nechtsregel, sagt er, will
nur das kurz ausdrücken, was im Rechte besteht. Wir müssen also nicht das
Recht aus der Regel, sondern die Regel aus dem Rechte erklären. Und daraus
folgt, daß die Regel ihre Bedeutung verliert, sobald sie im Sinne des ihr zu
Grunde liegenden Rechts geocinkens nicht mehr paßt.

Gleichwohl ist nicht zu leugnen, daß seit Eindringen des römischen Rechtes
in Deutschland bis heute in dessen Anwendung zwei verschiedne Richtungen sich
geltend gemacht haben; Richtungen, die ich hier in ihrem Gegensatze scharf
zeichnen will, obgleich sie, wie ich ausdrücklich betonen muß, im wirklichen Leben
nicht in dieser vollen Schärfe auseinandergehen.

Die eine dieser Richtungen geht dahin, die römischen Rechtsbücher ganz
wie ein paragraphirtes Gesetzbuch zu behandeln. Was sagt diese Stelle? Was
jene? Wie ist dieses Wort, wie jenes zu verstehen? So wird aus den einzelnen
Sätzen und Worten mühsam, wie ein Geduldspiel, das Recht zusammen¬
gelegt. Ein weiteres Recht als das, was aus den Buchstaben des Lorxus
^uris herausgelesen werden kann, giebt es nicht. Für die Praktiker, die dieser
Richtung angehören, tritt an die Stelle des Oorxus ^uri8 meist irgend ein Lehr¬
buch (in neuerer Zeit "Windscheid"), dessen Sätze das Alpha und Omega ihrer
Weisheit sind. Man kann sie deshalb die Lehrbuchsjuristen nennen. Die Be¬
thätigung dieser Richtung ist es gewesen, was seit der Zeit, wo Goethe seinen
Olearius reden läßt, bis auf den heutigen Tag die Juristen in der Volks-
meinung vielfach fatal gemacht und die Annahme verbreitet hat, daß die Ein¬
führung des römischen Rechtes in Deutschland ein nationales Unglück gewesen
sei. Leider neigt auch Windscheid selbst, weniger seinem Herzen als seinen
geistigen Regungen nach, dieser Richtung zu. Und deshalb hat sein sonst so
verdienstliches Lehrbuch für die Praxis nicht den Wert gehabt, den man ihm
gewöhnlich beilegt. Es ist das Orakel der geistlosen Mittelmäßigkeit geworden.

Dieser Richtung steht eine andre gegenüber, die nicht minder zahlreiche
Vertreter hat. Es sind das diejenigen Juristen, welche das römische Recht
seinem geistigen Inhalte nach zu erfassen und diesen, frei von Wortklauberei,
den heutigen Verhältnissen entsprechend anzuwenden bestrebt sind. Daß eine
solche Anwendung möglich ist, dafür kann ich mich auf eine Autorität ersten


Das bürgerliche Gesetzbuch und die Zukunft der deutschen Rechtsprechung.

den geringsten und am wenigsten wertvollen Teil der ganzen Zusammenstellung.
In dem römischen Rechte ist uns hiernach weniger ein Gesetzbuch, als eine leben¬
dige Rechtswissenschaft erhalten geblieben und zum Gebrauche überliefert worden,
und wir müssen uns zu einer geistigen Verwertung des uns Überlieferten umso
mehr aufgefordert fühlen, als ja die veränderten Verhältnisse eine wörtliche An¬
wendung desselben vielfach unmöglich machen.

Die römischen Juristen waren sich auch bewußt,' daß die von ihnen auf¬
gestellten Regeln keine absolute Natur haben. Gleich im Eingange des Titels
„Von den Rechtsregeln" findet sich ein hierauf bezüglicher Ausspruch von dem
geistvollsten römischen Juristen, Julius Paulus. Eine Nechtsregel, sagt er, will
nur das kurz ausdrücken, was im Rechte besteht. Wir müssen also nicht das
Recht aus der Regel, sondern die Regel aus dem Rechte erklären. Und daraus
folgt, daß die Regel ihre Bedeutung verliert, sobald sie im Sinne des ihr zu
Grunde liegenden Rechts geocinkens nicht mehr paßt.

Gleichwohl ist nicht zu leugnen, daß seit Eindringen des römischen Rechtes
in Deutschland bis heute in dessen Anwendung zwei verschiedne Richtungen sich
geltend gemacht haben; Richtungen, die ich hier in ihrem Gegensatze scharf
zeichnen will, obgleich sie, wie ich ausdrücklich betonen muß, im wirklichen Leben
nicht in dieser vollen Schärfe auseinandergehen.

Die eine dieser Richtungen geht dahin, die römischen Rechtsbücher ganz
wie ein paragraphirtes Gesetzbuch zu behandeln. Was sagt diese Stelle? Was
jene? Wie ist dieses Wort, wie jenes zu verstehen? So wird aus den einzelnen
Sätzen und Worten mühsam, wie ein Geduldspiel, das Recht zusammen¬
gelegt. Ein weiteres Recht als das, was aus den Buchstaben des Lorxus
^uris herausgelesen werden kann, giebt es nicht. Für die Praktiker, die dieser
Richtung angehören, tritt an die Stelle des Oorxus ^uri8 meist irgend ein Lehr¬
buch (in neuerer Zeit „Windscheid"), dessen Sätze das Alpha und Omega ihrer
Weisheit sind. Man kann sie deshalb die Lehrbuchsjuristen nennen. Die Be¬
thätigung dieser Richtung ist es gewesen, was seit der Zeit, wo Goethe seinen
Olearius reden läßt, bis auf den heutigen Tag die Juristen in der Volks-
meinung vielfach fatal gemacht und die Annahme verbreitet hat, daß die Ein¬
führung des römischen Rechtes in Deutschland ein nationales Unglück gewesen
sei. Leider neigt auch Windscheid selbst, weniger seinem Herzen als seinen
geistigen Regungen nach, dieser Richtung zu. Und deshalb hat sein sonst so
verdienstliches Lehrbuch für die Praxis nicht den Wert gehabt, den man ihm
gewöhnlich beilegt. Es ist das Orakel der geistlosen Mittelmäßigkeit geworden.

Dieser Richtung steht eine andre gegenüber, die nicht minder zahlreiche
Vertreter hat. Es sind das diejenigen Juristen, welche das römische Recht
seinem geistigen Inhalte nach zu erfassen und diesen, frei von Wortklauberei,
den heutigen Verhältnissen entsprechend anzuwenden bestrebt sind. Daß eine
solche Anwendung möglich ist, dafür kann ich mich auf eine Autorität ersten


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_289122/461>, abgerufen am 22.07.2024.