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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Drittes Vierteljahr.

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Das bürgerliche Gesetzbuch und die Zukunft der deutschen Rechtsprechung.

aber diese Zeitdauer unbestimmt lassen, so würde dadurch die größte Unsicherheit
des Rechtes entstehen. Das Gesetz greift also ein und bestimmt Fristen, inner¬
halb deren jeder Anspruch verfolgt werden muß -- die Verjährungslehre. Es
ist ein natürlicher Rechtsgedanke, daß jeder befugt sei, für den Fall seines
Todes über sein Vermögen Verfügung zu treffen. Aber wie soll festgestellt
werden, was er gewollt hat, wenn er selbst nicht mehr Zeugnis darüber geben
kann? Auch hier greift das Gesetz ein und ordnet bestimmte Formen an, unter
denen letztwillige Verfügungen getroffen werden können -- die Testamenten¬
ordnung. Es ist ein natürlicher Gedanke, daß derjenige, welcher nicht letzt¬
willig verfügt hat, sein Vermögen seinen nächsten Angehörigen habe hinterlassen
wollen. Aber wer sind die nächsten Angehörigen? Um darüber jeden Zweifel
abzuschneiden, bestimmt das Gesetz eine feste Ordnung für die Jntestaterbfolge.

So giebt es noch eine Menge von Vorschriften, durch die das Gesetz mit
einer gewissen Willkür dem Rechte eine feste Gestalt gegeben hat. Hier ent¬
scheidet also auch der Buchstabe des Gesetzes. Weil man nun vielen solchen
Vorschriften im Rechte begegnet, glaubt man, daß alles Recht auf solchen
Vorschriften beruhe. Darin liegt aber ein Irrtum. Noch keine juristische Kunst
und keine menschliche Sprache hat es vermocht, ein das menschliche Bedürfnis
befriedigendes Recht dergestalt auf feste Regeln zurückzuführen, daß sich mit
solchen mechanisch, nur nach dem Buchstaben, operiren ließe. Zwar suchen wir
alles Recht in Regeln zu fassen, und in dieser Form wird uns die Rechts¬
wissenschaft gelehrt. Aber viele solcher Regeln haben nicht die Natur einer
positiven Feststellung oder Begrenzung des Rechtsgedankens, sondern sie wollen
nnr den Rechtsgedanken selbst, der einer positiven Feststellung weder fähig noch
bedürftig ist, zum Ausdruck bringen. In diesen Rechtsregeln ist also nicht der
Buchstabe das Entscheidende, sondern das geistige Element, das sie in sich tragen
und das für ihre Anwendung auch wieder geistig erfaßt sein will. Auch er¬
schöpfen ja die so aufgestellten Rechtsregeln nicht das Recht. Immer neue
Regeln leiten sich ab aus der Konsequenz des Rechtsgedankens und aus der
Natur der Sache. Das Recht bildet ein geistiges Fluidum, einen Körper, dessen
innere Substanz durchdrungen sei" will, während die Rechtsregel nur eine
Außenfläche desselben bloßlegt. In dieser Weise die Rechtsregeln in ihrer
Wahrheit zu erkennen, ist die Aufgabe der Rechtswissenschaft. Während diese
da, wo sie mit Vorschriften rein positiver Natur zu thun hat, nur eine unter¬
geordnete Thätigkeit übt, erwächst ihr auf dem Gebiete der Rechtsregeln letzt¬
gedachter Art eine höhere geistige Aufgabe. Man kann ihre Übung eine Kunst
nennen, in gleichem Sinne, wie Fürst Bismarck ausgesprochen hat, daß die
Politik eine Kunst sei.

Schafft man nun aber ein Gesetzbuch, welches das gesamte Recht in sich
aufnehmen foll, so werden in dieses die Rechtsregeln ohne Unterschied in Reih
und Glied gestellt. Daraus erwächst der Schein, als ob alles Recht positiver


Das bürgerliche Gesetzbuch und die Zukunft der deutschen Rechtsprechung.

aber diese Zeitdauer unbestimmt lassen, so würde dadurch die größte Unsicherheit
des Rechtes entstehen. Das Gesetz greift also ein und bestimmt Fristen, inner¬
halb deren jeder Anspruch verfolgt werden muß — die Verjährungslehre. Es
ist ein natürlicher Rechtsgedanke, daß jeder befugt sei, für den Fall seines
Todes über sein Vermögen Verfügung zu treffen. Aber wie soll festgestellt
werden, was er gewollt hat, wenn er selbst nicht mehr Zeugnis darüber geben
kann? Auch hier greift das Gesetz ein und ordnet bestimmte Formen an, unter
denen letztwillige Verfügungen getroffen werden können — die Testamenten¬
ordnung. Es ist ein natürlicher Gedanke, daß derjenige, welcher nicht letzt¬
willig verfügt hat, sein Vermögen seinen nächsten Angehörigen habe hinterlassen
wollen. Aber wer sind die nächsten Angehörigen? Um darüber jeden Zweifel
abzuschneiden, bestimmt das Gesetz eine feste Ordnung für die Jntestaterbfolge.

So giebt es noch eine Menge von Vorschriften, durch die das Gesetz mit
einer gewissen Willkür dem Rechte eine feste Gestalt gegeben hat. Hier ent¬
scheidet also auch der Buchstabe des Gesetzes. Weil man nun vielen solchen
Vorschriften im Rechte begegnet, glaubt man, daß alles Recht auf solchen
Vorschriften beruhe. Darin liegt aber ein Irrtum. Noch keine juristische Kunst
und keine menschliche Sprache hat es vermocht, ein das menschliche Bedürfnis
befriedigendes Recht dergestalt auf feste Regeln zurückzuführen, daß sich mit
solchen mechanisch, nur nach dem Buchstaben, operiren ließe. Zwar suchen wir
alles Recht in Regeln zu fassen, und in dieser Form wird uns die Rechts¬
wissenschaft gelehrt. Aber viele solcher Regeln haben nicht die Natur einer
positiven Feststellung oder Begrenzung des Rechtsgedankens, sondern sie wollen
nnr den Rechtsgedanken selbst, der einer positiven Feststellung weder fähig noch
bedürftig ist, zum Ausdruck bringen. In diesen Rechtsregeln ist also nicht der
Buchstabe das Entscheidende, sondern das geistige Element, das sie in sich tragen
und das für ihre Anwendung auch wieder geistig erfaßt sein will. Auch er¬
schöpfen ja die so aufgestellten Rechtsregeln nicht das Recht. Immer neue
Regeln leiten sich ab aus der Konsequenz des Rechtsgedankens und aus der
Natur der Sache. Das Recht bildet ein geistiges Fluidum, einen Körper, dessen
innere Substanz durchdrungen sei» will, während die Rechtsregel nur eine
Außenfläche desselben bloßlegt. In dieser Weise die Rechtsregeln in ihrer
Wahrheit zu erkennen, ist die Aufgabe der Rechtswissenschaft. Während diese
da, wo sie mit Vorschriften rein positiver Natur zu thun hat, nur eine unter¬
geordnete Thätigkeit übt, erwächst ihr auf dem Gebiete der Rechtsregeln letzt¬
gedachter Art eine höhere geistige Aufgabe. Man kann ihre Übung eine Kunst
nennen, in gleichem Sinne, wie Fürst Bismarck ausgesprochen hat, daß die
Politik eine Kunst sei.

Schafft man nun aber ein Gesetzbuch, welches das gesamte Recht in sich
aufnehmen foll, so werden in dieses die Rechtsregeln ohne Unterschied in Reih
und Glied gestellt. Daraus erwächst der Schein, als ob alles Recht positiver


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_289122/459>, abgerufen am 22.07.2024.