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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Drittes Vierteljahr.

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Gefahren in der Geschichtswissenschaft.

und was nicht. Das fingerfertige Beurteilen ist geradezu eine Krankheit vieler
Modernen, die Zahl ist zwar mächtig, doch nicht allmächtig. Die Lehre vom
steten Fortschritt der Menschheit klingt so schön, daß sie schon deswegen nicht
richtig sein kann.

Wie schwer und wechselnd ist schon das Urteil bei objektiven Werken des
Geistes, wo es auf der Hand liegen sollte: Schillers wirkungsvollstes Stück,
Kabale und Liebe, wurde von der Kritik schonungslos heruntergerissen, und
Neben hielt Rankes Bücher nicht für geeignet, in der Marburger Universitäts¬
bibliothek angeschafft zu werden. Manches Werk, das in Leipzig gelobt wird,
wird in Berlin getadelt, und doch ist es so nahe von Leipzig bis nach Berlin.

Bei Griechen und Römern hat die Geschichte viel stärkern Einfluß gehabt
als jetzt. Die Wirkung Luteus war wesentlich größer als die Giesebrechts,
obwohl das Werk Giesebrechts dem Ludenschen durchaus überlegen ist, und
seine Verbreitung reicht noch weit im Vergleiche mit der der Jahrbücher des
deutschen Reiches. So verhält sichs trotz der Thatsache, daß von Luden bis
auf die Jahrbücher die Zahl der Fachmänner für Geschichte ungemein an¬
gewachsen ist, man also ein gesteigertes Interesse erwarten sollte. Wie mag
sich das erklären? Teilweise dadurch, daß Luden in einer Zeit patriotischer
Aufregung ein patriotisch durchwärmtes Buch schrieb, Giesebrecht in einer op¬
positionell frondirenden ein romantisches; teilweise wird die Beantwortung aber
doch auch wohl lauten müssen, daß wir noch an dem Übel kranken, welches
schon Lessing rügte, daß wir zu sehr in gelehrte Fachleute und in Darsteller
fürs Volk zerfallen. Jene, dem Drange deutscher Natur auf Zunftumgrenzung
nachgebend, arbeiten rein für die Wissenschaft ohne Rücksicht auf die Bedürfnisse
der Menge, durch die ihre Thätigkeit doch erst wirklichen Wert erhielte und
vom Sport zum Erziehungsmittel werden könnte. Auf der andern Seite stehen
Darsteller "fürs Volk," für dessen halb- und mittelgebildete Klassen, häufig
Dilettanten und Litteraten, Leute, die zwar ihren Doktortitel ergatterten, die
unendlich viel schreiben, aber keine oder doch nur eine blasse Ahnung von ernsten
Studien besitzen, denen solche Dinge auch viel zu unbequem sind. Es konnte
dahin kommen, daß sich Wissenschaft und Darstellung bisweilen auf ganz ver¬
schiedener Stufe befanden, daß die wichtigsten Ergebnisse der erstem für die
letztere nicht vorhanden waren.

Auch die Frage ist schon aufgeworfen worden, ob man nicht im Aufstöbern, im
Herausgeben jedes Wahns- und Kehrichtzettels zu weit gehe? Jakob Burckhardt
sagte einmal: "Anstatt dem Himmel zu danken, wenn man nicht zu erforschen
braucht, wie und mit welchen Kämpfen ein Dichter das Unvergängliche aus
seiner Umgebung und aus seinem armen Leben heraus ins Sichere brachte, hat
man gleichwohl auch für Petrarca aus den wenigen "Reliquien" solcher Art
eine Lebensgeschichte zusammengestellt, welche einer Anklageakte ähnlich sieht.
Übrigens mag sich der Dichter trösten; wenn das Drucken und Verarbeiten


Gefahren in der Geschichtswissenschaft.

und was nicht. Das fingerfertige Beurteilen ist geradezu eine Krankheit vieler
Modernen, die Zahl ist zwar mächtig, doch nicht allmächtig. Die Lehre vom
steten Fortschritt der Menschheit klingt so schön, daß sie schon deswegen nicht
richtig sein kann.

Wie schwer und wechselnd ist schon das Urteil bei objektiven Werken des
Geistes, wo es auf der Hand liegen sollte: Schillers wirkungsvollstes Stück,
Kabale und Liebe, wurde von der Kritik schonungslos heruntergerissen, und
Neben hielt Rankes Bücher nicht für geeignet, in der Marburger Universitäts¬
bibliothek angeschafft zu werden. Manches Werk, das in Leipzig gelobt wird,
wird in Berlin getadelt, und doch ist es so nahe von Leipzig bis nach Berlin.

Bei Griechen und Römern hat die Geschichte viel stärkern Einfluß gehabt
als jetzt. Die Wirkung Luteus war wesentlich größer als die Giesebrechts,
obwohl das Werk Giesebrechts dem Ludenschen durchaus überlegen ist, und
seine Verbreitung reicht noch weit im Vergleiche mit der der Jahrbücher des
deutschen Reiches. So verhält sichs trotz der Thatsache, daß von Luden bis
auf die Jahrbücher die Zahl der Fachmänner für Geschichte ungemein an¬
gewachsen ist, man also ein gesteigertes Interesse erwarten sollte. Wie mag
sich das erklären? Teilweise dadurch, daß Luden in einer Zeit patriotischer
Aufregung ein patriotisch durchwärmtes Buch schrieb, Giesebrecht in einer op¬
positionell frondirenden ein romantisches; teilweise wird die Beantwortung aber
doch auch wohl lauten müssen, daß wir noch an dem Übel kranken, welches
schon Lessing rügte, daß wir zu sehr in gelehrte Fachleute und in Darsteller
fürs Volk zerfallen. Jene, dem Drange deutscher Natur auf Zunftumgrenzung
nachgebend, arbeiten rein für die Wissenschaft ohne Rücksicht auf die Bedürfnisse
der Menge, durch die ihre Thätigkeit doch erst wirklichen Wert erhielte und
vom Sport zum Erziehungsmittel werden könnte. Auf der andern Seite stehen
Darsteller „fürs Volk," für dessen halb- und mittelgebildete Klassen, häufig
Dilettanten und Litteraten, Leute, die zwar ihren Doktortitel ergatterten, die
unendlich viel schreiben, aber keine oder doch nur eine blasse Ahnung von ernsten
Studien besitzen, denen solche Dinge auch viel zu unbequem sind. Es konnte
dahin kommen, daß sich Wissenschaft und Darstellung bisweilen auf ganz ver¬
schiedener Stufe befanden, daß die wichtigsten Ergebnisse der erstem für die
letztere nicht vorhanden waren.

Auch die Frage ist schon aufgeworfen worden, ob man nicht im Aufstöbern, im
Herausgeben jedes Wahns- und Kehrichtzettels zu weit gehe? Jakob Burckhardt
sagte einmal: „Anstatt dem Himmel zu danken, wenn man nicht zu erforschen
braucht, wie und mit welchen Kämpfen ein Dichter das Unvergängliche aus
seiner Umgebung und aus seinem armen Leben heraus ins Sichere brachte, hat
man gleichwohl auch für Petrarca aus den wenigen »Reliquien« solcher Art
eine Lebensgeschichte zusammengestellt, welche einer Anklageakte ähnlich sieht.
Übrigens mag sich der Dichter trösten; wenn das Drucken und Verarbeiten


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[0411] Gefahren in der Geschichtswissenschaft. und was nicht. Das fingerfertige Beurteilen ist geradezu eine Krankheit vieler Modernen, die Zahl ist zwar mächtig, doch nicht allmächtig. Die Lehre vom steten Fortschritt der Menschheit klingt so schön, daß sie schon deswegen nicht richtig sein kann. Wie schwer und wechselnd ist schon das Urteil bei objektiven Werken des Geistes, wo es auf der Hand liegen sollte: Schillers wirkungsvollstes Stück, Kabale und Liebe, wurde von der Kritik schonungslos heruntergerissen, und Neben hielt Rankes Bücher nicht für geeignet, in der Marburger Universitäts¬ bibliothek angeschafft zu werden. Manches Werk, das in Leipzig gelobt wird, wird in Berlin getadelt, und doch ist es so nahe von Leipzig bis nach Berlin. Bei Griechen und Römern hat die Geschichte viel stärkern Einfluß gehabt als jetzt. Die Wirkung Luteus war wesentlich größer als die Giesebrechts, obwohl das Werk Giesebrechts dem Ludenschen durchaus überlegen ist, und seine Verbreitung reicht noch weit im Vergleiche mit der der Jahrbücher des deutschen Reiches. So verhält sichs trotz der Thatsache, daß von Luden bis auf die Jahrbücher die Zahl der Fachmänner für Geschichte ungemein an¬ gewachsen ist, man also ein gesteigertes Interesse erwarten sollte. Wie mag sich das erklären? Teilweise dadurch, daß Luden in einer Zeit patriotischer Aufregung ein patriotisch durchwärmtes Buch schrieb, Giesebrecht in einer op¬ positionell frondirenden ein romantisches; teilweise wird die Beantwortung aber doch auch wohl lauten müssen, daß wir noch an dem Übel kranken, welches schon Lessing rügte, daß wir zu sehr in gelehrte Fachleute und in Darsteller fürs Volk zerfallen. Jene, dem Drange deutscher Natur auf Zunftumgrenzung nachgebend, arbeiten rein für die Wissenschaft ohne Rücksicht auf die Bedürfnisse der Menge, durch die ihre Thätigkeit doch erst wirklichen Wert erhielte und vom Sport zum Erziehungsmittel werden könnte. Auf der andern Seite stehen Darsteller „fürs Volk," für dessen halb- und mittelgebildete Klassen, häufig Dilettanten und Litteraten, Leute, die zwar ihren Doktortitel ergatterten, die unendlich viel schreiben, aber keine oder doch nur eine blasse Ahnung von ernsten Studien besitzen, denen solche Dinge auch viel zu unbequem sind. Es konnte dahin kommen, daß sich Wissenschaft und Darstellung bisweilen auf ganz ver¬ schiedener Stufe befanden, daß die wichtigsten Ergebnisse der erstem für die letztere nicht vorhanden waren. Auch die Frage ist schon aufgeworfen worden, ob man nicht im Aufstöbern, im Herausgeben jedes Wahns- und Kehrichtzettels zu weit gehe? Jakob Burckhardt sagte einmal: „Anstatt dem Himmel zu danken, wenn man nicht zu erforschen braucht, wie und mit welchen Kämpfen ein Dichter das Unvergängliche aus seiner Umgebung und aus seinem armen Leben heraus ins Sichere brachte, hat man gleichwohl auch für Petrarca aus den wenigen »Reliquien« solcher Art eine Lebensgeschichte zusammengestellt, welche einer Anklageakte ähnlich sieht. Übrigens mag sich der Dichter trösten; wenn das Drucken und Verarbeiten

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_289122/411>, abgerufen am 22.07.2024.