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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Drittes Vierteljahr.

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Gefahren in der Geschichtswissenschaft.

in dem Nnzareuer einen Religionsphilosophen, wie es deren auch andre ge¬
geben habe, nur daß er mehr Glück gehabt habe, vielleicht weil er Jude
.gewesen.

Aber nicht nur, daß verschiedne Menschen so verschieden urteilen und
denken, jeder fußt womöglich auf Quellen und liest seine Ansicht aus ihnen
heraus. Wie weit Voreingenommenheit hier wirkt, ist gar nicht abzusehen;
so erscheinen z. B. die deutschen Kaiser Heinrich II. und Heinrich IV. in allen
Farben schillernd, und jede Darstellung entnahm die ihrigen dem nämlichen
Materiale. Ein katholisches Geschichtswerk, gestutzt auf fulminante Sach¬
kenntnis, unternahm den Nachweis, daß die gedeihlichen Keime in Deutschland
durch die Reformation verkümmert oder erdrückt wurden; mancher evangelische
Schriftsteller sieht umgekehrt in der Reformation den Urquell und Durchbruch
des echt germanischen Wesens, die Entfesselung des Geistes aus den Banden
des Mittelalters.

Mit den Strömungen der Zeit ändert sich der Standpunkt, weshalb man
durch ihn nur Tageslitteratur schafft, mag sie zunächst noch so wirkungsvoll sein.
Selbst die Wirkung wird einseitig ausfallen, oder richtiger zweiseitig: es wird
gelobt und getadelt. An Stelle reinen Genusses tritt leicht Leidenschaft und
Parteilichkeit.

Sehr richtig äußerte vor kurzem Lord Acton in seiner Geschichtswissenschaft:
"Die ethische Einsicht der Menschheit ändert sich und schreitet fort; was hente
Tugend ist, war ehedem Verbrechen, und das Gesetzbuch wechselt mit dem
Breitengrade. Wenn König Jakob Hexen verbrannte, wenn Macchiavelli den
Mord als eine Kunst lehrte, wenn fromme Kreuzfahrer friedliche Juden hin¬
schlachteten, wenn Odysseus Lug und Trug trieb, so sollen wir uns der Zeit
erinnern, wo sie lebten und sie dem Urteil von ihresgleichen überlassen." Es
kann wohl keinen handgreiflicheren Beweis für die wechselnden Auffassungen
geben, als die stets sich ändernden Satzungen des Strafgesetzes.

Ein vorgefaßter Standpunkt benimmt Freiheit und Unbefangenheit, zerstört
das Grunderfordernis der Geschichte: Wahrheit und Treue. Umso gefährlicher
kann er wirken, je weniger der Betreffende weiß, daß er ihm inne wohnt, je
stärker er von der eignen Objektivität überzeugt ist -- und wie viele sind
das nicht!

Nach meinem Dafürhalten soll der Historiker sich auch hüten, zuviel
Gewicht auf die Wertergebnisfe zu legen; er ist zunächst weder Moralist noch
Philosoph, sondern Geschichtsforscher und -Darsteller; abweichend geartete Köpfe
rechnen auch abweichende Werte heraus, die Quellen sind innerlich und äußer¬
lich nicht selten so verschieden, daß sie kein zuverlässiges Maß zulassen. Außer¬
dem sind geistige Werte bei weitem schwerer erweisbar als materielle und bieten
stets dem Meinen und Vermuten Raum, sie bleiben schwankend und unbestimmt.
Bisweilen läßt sich mit bester Absicht nicht sagen, was zeitgemäß wert war


Gefahren in der Geschichtswissenschaft.

in dem Nnzareuer einen Religionsphilosophen, wie es deren auch andre ge¬
geben habe, nur daß er mehr Glück gehabt habe, vielleicht weil er Jude
.gewesen.

Aber nicht nur, daß verschiedne Menschen so verschieden urteilen und
denken, jeder fußt womöglich auf Quellen und liest seine Ansicht aus ihnen
heraus. Wie weit Voreingenommenheit hier wirkt, ist gar nicht abzusehen;
so erscheinen z. B. die deutschen Kaiser Heinrich II. und Heinrich IV. in allen
Farben schillernd, und jede Darstellung entnahm die ihrigen dem nämlichen
Materiale. Ein katholisches Geschichtswerk, gestutzt auf fulminante Sach¬
kenntnis, unternahm den Nachweis, daß die gedeihlichen Keime in Deutschland
durch die Reformation verkümmert oder erdrückt wurden; mancher evangelische
Schriftsteller sieht umgekehrt in der Reformation den Urquell und Durchbruch
des echt germanischen Wesens, die Entfesselung des Geistes aus den Banden
des Mittelalters.

Mit den Strömungen der Zeit ändert sich der Standpunkt, weshalb man
durch ihn nur Tageslitteratur schafft, mag sie zunächst noch so wirkungsvoll sein.
Selbst die Wirkung wird einseitig ausfallen, oder richtiger zweiseitig: es wird
gelobt und getadelt. An Stelle reinen Genusses tritt leicht Leidenschaft und
Parteilichkeit.

Sehr richtig äußerte vor kurzem Lord Acton in seiner Geschichtswissenschaft:
„Die ethische Einsicht der Menschheit ändert sich und schreitet fort; was hente
Tugend ist, war ehedem Verbrechen, und das Gesetzbuch wechselt mit dem
Breitengrade. Wenn König Jakob Hexen verbrannte, wenn Macchiavelli den
Mord als eine Kunst lehrte, wenn fromme Kreuzfahrer friedliche Juden hin¬
schlachteten, wenn Odysseus Lug und Trug trieb, so sollen wir uns der Zeit
erinnern, wo sie lebten und sie dem Urteil von ihresgleichen überlassen." Es
kann wohl keinen handgreiflicheren Beweis für die wechselnden Auffassungen
geben, als die stets sich ändernden Satzungen des Strafgesetzes.

Ein vorgefaßter Standpunkt benimmt Freiheit und Unbefangenheit, zerstört
das Grunderfordernis der Geschichte: Wahrheit und Treue. Umso gefährlicher
kann er wirken, je weniger der Betreffende weiß, daß er ihm inne wohnt, je
stärker er von der eignen Objektivität überzeugt ist — und wie viele sind
das nicht!

Nach meinem Dafürhalten soll der Historiker sich auch hüten, zuviel
Gewicht auf die Wertergebnisfe zu legen; er ist zunächst weder Moralist noch
Philosoph, sondern Geschichtsforscher und -Darsteller; abweichend geartete Köpfe
rechnen auch abweichende Werte heraus, die Quellen sind innerlich und äußer¬
lich nicht selten so verschieden, daß sie kein zuverlässiges Maß zulassen. Außer¬
dem sind geistige Werte bei weitem schwerer erweisbar als materielle und bieten
stets dem Meinen und Vermuten Raum, sie bleiben schwankend und unbestimmt.
Bisweilen läßt sich mit bester Absicht nicht sagen, was zeitgemäß wert war


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[0410] Gefahren in der Geschichtswissenschaft. in dem Nnzareuer einen Religionsphilosophen, wie es deren auch andre ge¬ geben habe, nur daß er mehr Glück gehabt habe, vielleicht weil er Jude .gewesen. Aber nicht nur, daß verschiedne Menschen so verschieden urteilen und denken, jeder fußt womöglich auf Quellen und liest seine Ansicht aus ihnen heraus. Wie weit Voreingenommenheit hier wirkt, ist gar nicht abzusehen; so erscheinen z. B. die deutschen Kaiser Heinrich II. und Heinrich IV. in allen Farben schillernd, und jede Darstellung entnahm die ihrigen dem nämlichen Materiale. Ein katholisches Geschichtswerk, gestutzt auf fulminante Sach¬ kenntnis, unternahm den Nachweis, daß die gedeihlichen Keime in Deutschland durch die Reformation verkümmert oder erdrückt wurden; mancher evangelische Schriftsteller sieht umgekehrt in der Reformation den Urquell und Durchbruch des echt germanischen Wesens, die Entfesselung des Geistes aus den Banden des Mittelalters. Mit den Strömungen der Zeit ändert sich der Standpunkt, weshalb man durch ihn nur Tageslitteratur schafft, mag sie zunächst noch so wirkungsvoll sein. Selbst die Wirkung wird einseitig ausfallen, oder richtiger zweiseitig: es wird gelobt und getadelt. An Stelle reinen Genusses tritt leicht Leidenschaft und Parteilichkeit. Sehr richtig äußerte vor kurzem Lord Acton in seiner Geschichtswissenschaft: „Die ethische Einsicht der Menschheit ändert sich und schreitet fort; was hente Tugend ist, war ehedem Verbrechen, und das Gesetzbuch wechselt mit dem Breitengrade. Wenn König Jakob Hexen verbrannte, wenn Macchiavelli den Mord als eine Kunst lehrte, wenn fromme Kreuzfahrer friedliche Juden hin¬ schlachteten, wenn Odysseus Lug und Trug trieb, so sollen wir uns der Zeit erinnern, wo sie lebten und sie dem Urteil von ihresgleichen überlassen." Es kann wohl keinen handgreiflicheren Beweis für die wechselnden Auffassungen geben, als die stets sich ändernden Satzungen des Strafgesetzes. Ein vorgefaßter Standpunkt benimmt Freiheit und Unbefangenheit, zerstört das Grunderfordernis der Geschichte: Wahrheit und Treue. Umso gefährlicher kann er wirken, je weniger der Betreffende weiß, daß er ihm inne wohnt, je stärker er von der eignen Objektivität überzeugt ist — und wie viele sind das nicht! Nach meinem Dafürhalten soll der Historiker sich auch hüten, zuviel Gewicht auf die Wertergebnisfe zu legen; er ist zunächst weder Moralist noch Philosoph, sondern Geschichtsforscher und -Darsteller; abweichend geartete Köpfe rechnen auch abweichende Werte heraus, die Quellen sind innerlich und äußer¬ lich nicht selten so verschieden, daß sie kein zuverlässiges Maß zulassen. Außer¬ dem sind geistige Werte bei weitem schwerer erweisbar als materielle und bieten stets dem Meinen und Vermuten Raum, sie bleiben schwankend und unbestimmt. Bisweilen läßt sich mit bester Absicht nicht sagen, was zeitgemäß wert war

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_289122/410>, abgerufen am 24.08.2024.