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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Drittes Vierteljahr.

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Gefahren in der Geschichtswissenschaft.

Von Briefwechseln berühmter Leute in Deutschland, Frankreich und England
noch fünfzig Jahre so fortgeht, so wird die Armesünderbank, auf welcher er
sitzt, allgemach die erlauchteste Gesellschaft enthalten." Wir befinden uns augen-
blicklich in einer Übergangs-, einer Sammelperiode, zusammenhängend mit vielen
andern Erscheinungen. Aber selbst in unsre erzählenden Werke ist der Mangel
an Enthaltsamkeit übergegangen; sie sind öfters breit als tief.

Es ist etwas Großes, und doch nimmt es sich eigenartig aus, wenn unsre
Wissenschaft Buch auf Buch in den Verkehr wirft: sechs Bände vom Leben
Steins und drei Dutzend deutscher Jahrbücher, wobei gerade solche ausbleiben,
wie der Gebildete, ja selbst der Gelehrte sie begehrt. Wir besitzen keine halb¬
wegs bessere, zusammenfassende Geschichte des Mittelalters, keine genügende
deutsche Geschichte, vielfach nicht einmal die einzelner Perioden, denn Giesebrechts
Kaisergeschichtc, so hoch ihr Verdienst sein mag, kann man hierher nicht zählen,
schon wegen ihrer fünf wohlbeleibten Bände. Darf da Zurückhaltung und Ent¬
wöhnung des Publikums Wunder nehmen? Es mag die Thätigkeit anstaunen,
lesen aber wird es solche Erzeugnisse nicht. Wir leben in dem leidigen Zustande,
wo Angebot und Nachfrage auseinander streben.

Nun braucht nicht verkannt zu werden, daß es eine wichtige Gruppe von
Männern gab und giebt, die nicht auf dem rein gelehrten Standpunkte ver¬
blieben, "die sich nicht zu gut gehalten haben, ihren Reichtum als frucht¬
bringendes Kapital in den Verkehr der Menschen, in den des Vaterlandes zu
werfen." Die Zahl dieser Männer nimmt zu; während der letzten Jahre hat
ein bedeutender Wandel in den Anschauungen über Geschichtschreibung be¬
gonnen. Fast will es uns dünken, als ob der Tod von Waitz hier einen
äußern Wendepunkt bezeichnete. In seiner herben, vornehmen Art hielt er die
Zügel der Quellenhistorik fest in der Hand, abgeneigt allem "Popularisiren."
Unzählige Kräfte zog er, bisweilen fast wider ihren Willen, in seinen Gedanken¬
kreis, der den untersuchend gelehrten Teil der Wissenschaft zur Mode, fast zum
Kanon machte; er bildete einen Damm gegen die ihm unliebsame Richtung,
welche schon bei seinen Lebzeiten emporzustreben begann. Kaum war er ge¬
storben, so hörten die "Forschungen" auf, die Zeitschrift seines Geistes.

Es bleibt jedoch zu beachten, daß der Umschwung nicht immer, ja vielleicht
nicht einmal wesentlich von den Gelehrten ausging, sondern daß ein andres
Element eintrat: unternehmende Buchhändler. Sie waren es, die die Lücke
am empfindlichsten in ihrem Geldbeutel verspürten, die deshalb ergiebigeren Boden
erstrebten und die populär-wissenschaftliche, meistens elegant und anmutend aus¬
gestattete Geschichtslitteratur einführten, der ein gutes Stück der Zukunft gehört.
Der Thatsache entspricht leider oft das Wesen. Wie früher bei einer "Schule,"
so erachten sich hier die gemeinsam arbeitenden nicht selten mehr oder weniger soli¬
darisch, sie loben sich gegenseitig und sind den Teilnehmern von Konkurrenznnter-
nehmungcn abgeneigt. Das Ganze wird durch den Buchhändler oder den Chef-


Gefahren in der Geschichtswissenschaft.

Von Briefwechseln berühmter Leute in Deutschland, Frankreich und England
noch fünfzig Jahre so fortgeht, so wird die Armesünderbank, auf welcher er
sitzt, allgemach die erlauchteste Gesellschaft enthalten." Wir befinden uns augen-
blicklich in einer Übergangs-, einer Sammelperiode, zusammenhängend mit vielen
andern Erscheinungen. Aber selbst in unsre erzählenden Werke ist der Mangel
an Enthaltsamkeit übergegangen; sie sind öfters breit als tief.

Es ist etwas Großes, und doch nimmt es sich eigenartig aus, wenn unsre
Wissenschaft Buch auf Buch in den Verkehr wirft: sechs Bände vom Leben
Steins und drei Dutzend deutscher Jahrbücher, wobei gerade solche ausbleiben,
wie der Gebildete, ja selbst der Gelehrte sie begehrt. Wir besitzen keine halb¬
wegs bessere, zusammenfassende Geschichte des Mittelalters, keine genügende
deutsche Geschichte, vielfach nicht einmal die einzelner Perioden, denn Giesebrechts
Kaisergeschichtc, so hoch ihr Verdienst sein mag, kann man hierher nicht zählen,
schon wegen ihrer fünf wohlbeleibten Bände. Darf da Zurückhaltung und Ent¬
wöhnung des Publikums Wunder nehmen? Es mag die Thätigkeit anstaunen,
lesen aber wird es solche Erzeugnisse nicht. Wir leben in dem leidigen Zustande,
wo Angebot und Nachfrage auseinander streben.

Nun braucht nicht verkannt zu werden, daß es eine wichtige Gruppe von
Männern gab und giebt, die nicht auf dem rein gelehrten Standpunkte ver¬
blieben, „die sich nicht zu gut gehalten haben, ihren Reichtum als frucht¬
bringendes Kapital in den Verkehr der Menschen, in den des Vaterlandes zu
werfen." Die Zahl dieser Männer nimmt zu; während der letzten Jahre hat
ein bedeutender Wandel in den Anschauungen über Geschichtschreibung be¬
gonnen. Fast will es uns dünken, als ob der Tod von Waitz hier einen
äußern Wendepunkt bezeichnete. In seiner herben, vornehmen Art hielt er die
Zügel der Quellenhistorik fest in der Hand, abgeneigt allem „Popularisiren."
Unzählige Kräfte zog er, bisweilen fast wider ihren Willen, in seinen Gedanken¬
kreis, der den untersuchend gelehrten Teil der Wissenschaft zur Mode, fast zum
Kanon machte; er bildete einen Damm gegen die ihm unliebsame Richtung,
welche schon bei seinen Lebzeiten emporzustreben begann. Kaum war er ge¬
storben, so hörten die „Forschungen" auf, die Zeitschrift seines Geistes.

Es bleibt jedoch zu beachten, daß der Umschwung nicht immer, ja vielleicht
nicht einmal wesentlich von den Gelehrten ausging, sondern daß ein andres
Element eintrat: unternehmende Buchhändler. Sie waren es, die die Lücke
am empfindlichsten in ihrem Geldbeutel verspürten, die deshalb ergiebigeren Boden
erstrebten und die populär-wissenschaftliche, meistens elegant und anmutend aus¬
gestattete Geschichtslitteratur einführten, der ein gutes Stück der Zukunft gehört.
Der Thatsache entspricht leider oft das Wesen. Wie früher bei einer „Schule,"
so erachten sich hier die gemeinsam arbeitenden nicht selten mehr oder weniger soli¬
darisch, sie loben sich gegenseitig und sind den Teilnehmern von Konkurrenznnter-
nehmungcn abgeneigt. Das Ganze wird durch den Buchhändler oder den Chef-


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[0412] Gefahren in der Geschichtswissenschaft. Von Briefwechseln berühmter Leute in Deutschland, Frankreich und England noch fünfzig Jahre so fortgeht, so wird die Armesünderbank, auf welcher er sitzt, allgemach die erlauchteste Gesellschaft enthalten." Wir befinden uns augen- blicklich in einer Übergangs-, einer Sammelperiode, zusammenhängend mit vielen andern Erscheinungen. Aber selbst in unsre erzählenden Werke ist der Mangel an Enthaltsamkeit übergegangen; sie sind öfters breit als tief. Es ist etwas Großes, und doch nimmt es sich eigenartig aus, wenn unsre Wissenschaft Buch auf Buch in den Verkehr wirft: sechs Bände vom Leben Steins und drei Dutzend deutscher Jahrbücher, wobei gerade solche ausbleiben, wie der Gebildete, ja selbst der Gelehrte sie begehrt. Wir besitzen keine halb¬ wegs bessere, zusammenfassende Geschichte des Mittelalters, keine genügende deutsche Geschichte, vielfach nicht einmal die einzelner Perioden, denn Giesebrechts Kaisergeschichtc, so hoch ihr Verdienst sein mag, kann man hierher nicht zählen, schon wegen ihrer fünf wohlbeleibten Bände. Darf da Zurückhaltung und Ent¬ wöhnung des Publikums Wunder nehmen? Es mag die Thätigkeit anstaunen, lesen aber wird es solche Erzeugnisse nicht. Wir leben in dem leidigen Zustande, wo Angebot und Nachfrage auseinander streben. Nun braucht nicht verkannt zu werden, daß es eine wichtige Gruppe von Männern gab und giebt, die nicht auf dem rein gelehrten Standpunkte ver¬ blieben, „die sich nicht zu gut gehalten haben, ihren Reichtum als frucht¬ bringendes Kapital in den Verkehr der Menschen, in den des Vaterlandes zu werfen." Die Zahl dieser Männer nimmt zu; während der letzten Jahre hat ein bedeutender Wandel in den Anschauungen über Geschichtschreibung be¬ gonnen. Fast will es uns dünken, als ob der Tod von Waitz hier einen äußern Wendepunkt bezeichnete. In seiner herben, vornehmen Art hielt er die Zügel der Quellenhistorik fest in der Hand, abgeneigt allem „Popularisiren." Unzählige Kräfte zog er, bisweilen fast wider ihren Willen, in seinen Gedanken¬ kreis, der den untersuchend gelehrten Teil der Wissenschaft zur Mode, fast zum Kanon machte; er bildete einen Damm gegen die ihm unliebsame Richtung, welche schon bei seinen Lebzeiten emporzustreben begann. Kaum war er ge¬ storben, so hörten die „Forschungen" auf, die Zeitschrift seines Geistes. Es bleibt jedoch zu beachten, daß der Umschwung nicht immer, ja vielleicht nicht einmal wesentlich von den Gelehrten ausging, sondern daß ein andres Element eintrat: unternehmende Buchhändler. Sie waren es, die die Lücke am empfindlichsten in ihrem Geldbeutel verspürten, die deshalb ergiebigeren Boden erstrebten und die populär-wissenschaftliche, meistens elegant und anmutend aus¬ gestattete Geschichtslitteratur einführten, der ein gutes Stück der Zukunft gehört. Der Thatsache entspricht leider oft das Wesen. Wie früher bei einer „Schule," so erachten sich hier die gemeinsam arbeitenden nicht selten mehr oder weniger soli¬ darisch, sie loben sich gegenseitig und sind den Teilnehmern von Konkurrenznnter- nehmungcn abgeneigt. Das Ganze wird durch den Buchhändler oder den Chef-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_289122/412>, abgerufen am 24.08.2024.