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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Drittes Vierteljahr.

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lischen Reihen. Und doch war da nur einmal an weithintragender Stelle aus¬
gesprochen worden, was jeder Kulturhistoriker fast an jedem Gegenstände seiner
Studien nachzuweisen Gelegenheit hat, und wenn er Sinn und Augenmerk für
Gegenwart nicht verliert, auch wirklich nachzuweisen pflegt. Der Gelehrte macht
davon kein Aufhebens. Denn wer kann etwas Kluges, etwas Dummes (es han¬
delt sich hier meist um das letztere) denken, das nicht die Vorwelt schon gedacht
hätte. Nur allzu großer Überhebung lohnt es sich von Zeit zu Zeit damit
einen Dämpfer aufzusetzen. Denn die Gegenwart wird sich ihr unabweisliches
Lebensrecht, die Dummheiten der Vorwelt zu wiederholen, niemals rauben lassen;
wie Papa mit einer Ergebenheit, die zwischen Triumph und Resignation
schwankt, zu bemerken pflegt, daß der Sohn genau die dummen Streiche macht,
deren er sich aus den eignen Lehr- und Wanderjahren erinnert. Die politischen
und künstlerischen Parteien bereiteten sich bereits in den letzten Jahrhunderten
vor. Die künstlerischen sind älter als die politischen, als die modernen poli¬
tischen Parteigegcnsätze, die früher eben unter andern Formen auftraten: sie be¬
ginnen bereits mit der Erhebung der Poesie zu einer selbständigen gesellschaft¬
lichen Macht im Zeitalter des Humanismus. Wir haben uns bereits früher
in diesen Blättern über diesen für das Verständnis unsrer neuesten künstlerischen
Entwicklung so wichtigen Vorgang ausgelassen. Mehr oder minder politische
und soziale Zusätze sind auch ihnen heutzutage beigemischt, oft in sehr weit¬
gehendem Maße. Die Wagnerianer stehen hier im Vordergrunde, obwohl sie
seit dem Hinzutritt besonnener Elemente zu ihren künstlerischen Bestrebungen in
dieser Beziehung nachgelassen haben. Aber sie waren die erstere in künstlerische
Partei, die als solche eine heftige sozialreformatorische Propaganda betrieb, welche
sich nnr allzusehr an den Küchenzettel, die "Bekleidungsfrage" und ähnliche
schwer diskutirbare Dinge klammerte, um ernst genommen zu werden. Die An¬
hänger Rousseaus, die Shelley, Chateaubriand, Viktor Hugo sind hier vorbe¬
reitende Erscheinungen; der Saint-Simonismus hat nachweislich auf Liszt und
wohl auch auf Wagner Einfluß gehabt. Aber diese Reform um einen künstle¬
rischen Mittelpunkt zu vereinigen, den alten Streit um das Florentiner Musik¬
drama, die Kämpfe der "Franzosen" und "Italiener" um die große Oper, der
Gluckisten und Piccinisten mit Sozialismus und Buddhismus, mit Vivisektion
und Hygieine zu verquicken, das blieb dem agitatorischen Talente Richard
Wagners vorbehalten. Jetzt wird das den Leuten schon sehr leicht, jeder neue
Dichter hat neben seinem unvollendeten Drama oder Romane seine fertige neue
Weltordnung im Pulte. Es wäre bereits sehr lohnend, in einer zusammen¬
fassenden Untersuchung die alten Origenistischen Ideen vom tausendjährigen Reiche
der Vollkommenheit auf Erden, die manichäischen und wiedertäuferischen Ge¬
lüste nach Sinnenfreiheit und Willensgleichheit in den Köpfen dieser poetischen
Weltbeglücker nachzuweisen. Dies alles nun muß man zusammennehmen und
vereinigen mit dem rein elementar erregenden Untergrunde einer orgiastischen


Bayreuth.

lischen Reihen. Und doch war da nur einmal an weithintragender Stelle aus¬
gesprochen worden, was jeder Kulturhistoriker fast an jedem Gegenstände seiner
Studien nachzuweisen Gelegenheit hat, und wenn er Sinn und Augenmerk für
Gegenwart nicht verliert, auch wirklich nachzuweisen pflegt. Der Gelehrte macht
davon kein Aufhebens. Denn wer kann etwas Kluges, etwas Dummes (es han¬
delt sich hier meist um das letztere) denken, das nicht die Vorwelt schon gedacht
hätte. Nur allzu großer Überhebung lohnt es sich von Zeit zu Zeit damit
einen Dämpfer aufzusetzen. Denn die Gegenwart wird sich ihr unabweisliches
Lebensrecht, die Dummheiten der Vorwelt zu wiederholen, niemals rauben lassen;
wie Papa mit einer Ergebenheit, die zwischen Triumph und Resignation
schwankt, zu bemerken pflegt, daß der Sohn genau die dummen Streiche macht,
deren er sich aus den eignen Lehr- und Wanderjahren erinnert. Die politischen
und künstlerischen Parteien bereiteten sich bereits in den letzten Jahrhunderten
vor. Die künstlerischen sind älter als die politischen, als die modernen poli¬
tischen Parteigegcnsätze, die früher eben unter andern Formen auftraten: sie be¬
ginnen bereits mit der Erhebung der Poesie zu einer selbständigen gesellschaft¬
lichen Macht im Zeitalter des Humanismus. Wir haben uns bereits früher
in diesen Blättern über diesen für das Verständnis unsrer neuesten künstlerischen
Entwicklung so wichtigen Vorgang ausgelassen. Mehr oder minder politische
und soziale Zusätze sind auch ihnen heutzutage beigemischt, oft in sehr weit¬
gehendem Maße. Die Wagnerianer stehen hier im Vordergrunde, obwohl sie
seit dem Hinzutritt besonnener Elemente zu ihren künstlerischen Bestrebungen in
dieser Beziehung nachgelassen haben. Aber sie waren die erstere in künstlerische
Partei, die als solche eine heftige sozialreformatorische Propaganda betrieb, welche
sich nnr allzusehr an den Küchenzettel, die „Bekleidungsfrage" und ähnliche
schwer diskutirbare Dinge klammerte, um ernst genommen zu werden. Die An¬
hänger Rousseaus, die Shelley, Chateaubriand, Viktor Hugo sind hier vorbe¬
reitende Erscheinungen; der Saint-Simonismus hat nachweislich auf Liszt und
wohl auch auf Wagner Einfluß gehabt. Aber diese Reform um einen künstle¬
rischen Mittelpunkt zu vereinigen, den alten Streit um das Florentiner Musik¬
drama, die Kämpfe der „Franzosen" und „Italiener" um die große Oper, der
Gluckisten und Piccinisten mit Sozialismus und Buddhismus, mit Vivisektion
und Hygieine zu verquicken, das blieb dem agitatorischen Talente Richard
Wagners vorbehalten. Jetzt wird das den Leuten schon sehr leicht, jeder neue
Dichter hat neben seinem unvollendeten Drama oder Romane seine fertige neue
Weltordnung im Pulte. Es wäre bereits sehr lohnend, in einer zusammen¬
fassenden Untersuchung die alten Origenistischen Ideen vom tausendjährigen Reiche
der Vollkommenheit auf Erden, die manichäischen und wiedertäuferischen Ge¬
lüste nach Sinnenfreiheit und Willensgleichheit in den Köpfen dieser poetischen
Weltbeglücker nachzuweisen. Dies alles nun muß man zusammennehmen und
vereinigen mit dem rein elementar erregenden Untergrunde einer orgiastischen


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[0371] Bayreuth. lischen Reihen. Und doch war da nur einmal an weithintragender Stelle aus¬ gesprochen worden, was jeder Kulturhistoriker fast an jedem Gegenstände seiner Studien nachzuweisen Gelegenheit hat, und wenn er Sinn und Augenmerk für Gegenwart nicht verliert, auch wirklich nachzuweisen pflegt. Der Gelehrte macht davon kein Aufhebens. Denn wer kann etwas Kluges, etwas Dummes (es han¬ delt sich hier meist um das letztere) denken, das nicht die Vorwelt schon gedacht hätte. Nur allzu großer Überhebung lohnt es sich von Zeit zu Zeit damit einen Dämpfer aufzusetzen. Denn die Gegenwart wird sich ihr unabweisliches Lebensrecht, die Dummheiten der Vorwelt zu wiederholen, niemals rauben lassen; wie Papa mit einer Ergebenheit, die zwischen Triumph und Resignation schwankt, zu bemerken pflegt, daß der Sohn genau die dummen Streiche macht, deren er sich aus den eignen Lehr- und Wanderjahren erinnert. Die politischen und künstlerischen Parteien bereiteten sich bereits in den letzten Jahrhunderten vor. Die künstlerischen sind älter als die politischen, als die modernen poli¬ tischen Parteigegcnsätze, die früher eben unter andern Formen auftraten: sie be¬ ginnen bereits mit der Erhebung der Poesie zu einer selbständigen gesellschaft¬ lichen Macht im Zeitalter des Humanismus. Wir haben uns bereits früher in diesen Blättern über diesen für das Verständnis unsrer neuesten künstlerischen Entwicklung so wichtigen Vorgang ausgelassen. Mehr oder minder politische und soziale Zusätze sind auch ihnen heutzutage beigemischt, oft in sehr weit¬ gehendem Maße. Die Wagnerianer stehen hier im Vordergrunde, obwohl sie seit dem Hinzutritt besonnener Elemente zu ihren künstlerischen Bestrebungen in dieser Beziehung nachgelassen haben. Aber sie waren die erstere in künstlerische Partei, die als solche eine heftige sozialreformatorische Propaganda betrieb, welche sich nnr allzusehr an den Küchenzettel, die „Bekleidungsfrage" und ähnliche schwer diskutirbare Dinge klammerte, um ernst genommen zu werden. Die An¬ hänger Rousseaus, die Shelley, Chateaubriand, Viktor Hugo sind hier vorbe¬ reitende Erscheinungen; der Saint-Simonismus hat nachweislich auf Liszt und wohl auch auf Wagner Einfluß gehabt. Aber diese Reform um einen künstle¬ rischen Mittelpunkt zu vereinigen, den alten Streit um das Florentiner Musik¬ drama, die Kämpfe der „Franzosen" und „Italiener" um die große Oper, der Gluckisten und Piccinisten mit Sozialismus und Buddhismus, mit Vivisektion und Hygieine zu verquicken, das blieb dem agitatorischen Talente Richard Wagners vorbehalten. Jetzt wird das den Leuten schon sehr leicht, jeder neue Dichter hat neben seinem unvollendeten Drama oder Romane seine fertige neue Weltordnung im Pulte. Es wäre bereits sehr lohnend, in einer zusammen¬ fassenden Untersuchung die alten Origenistischen Ideen vom tausendjährigen Reiche der Vollkommenheit auf Erden, die manichäischen und wiedertäuferischen Ge¬ lüste nach Sinnenfreiheit und Willensgleichheit in den Köpfen dieser poetischen Weltbeglücker nachzuweisen. Dies alles nun muß man zusammennehmen und vereinigen mit dem rein elementar erregenden Untergrunde einer orgiastischen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_289122/371>, abgerufen am 24.08.2024.