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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Drittes Vierteljahr.

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Lernen wir?

u den besten Tagen in dem politischen Leben Deutschlands, seit¬
dem dieses ein Reich ist und eine Volksvertretung besitzt, ge¬
hört unstreitig der des Zusammenschlusses der nationalen Par¬
teien gegen alles, was fremden Leitsternen folgt, mögen diese in
Rom oder Paris, in London oder Jerusalem funkeln. Da sah
man wieder einmal den deutschen Michel die schwerfälligen Glieder recken und
allerlei Gezücht von sich abschütteln, das nur allzulange mit dem trägen Riesen
hatte sein Spiel treiben dürfen. Eine wie gute That er gethan hatte, das mußte
ihm vor allem das Zedern und Geifern derer beweisen, die dabei unsanft auf
den Boden gesetzt worden waren, und die verblüffte Miene aller, die schon wieder
auf die unheilbare Uneinigkeit der Deutschen gerechnet hatten. Und frisch atmete
der Vaterlandsfreund auf nach Zeiten der bangen Sorge und der tiefen Be¬
schämung durch das Schauspiel, welches gegenüber der Haltung andrer Parla¬
mente das deutsche geboten hatte. Eine Folge schwerster Ereignisse hatte jenes
rasche Aufleuchten deutscher Gesinnung, das einen freudigen Schein auf die letzte
Lebenszeit des greisen Kaisers warf, fast aus unserm Gedächtnisse verwischt.
Soll es uns nun durch sein eben so rasches Erlöschen in Erinnerung gebracht
werden? Sind denn die Gefahren, welche damals zum Zusammenhalten mahnten,
für alle Zeit gebannt, daß wir uns ungestraft wieder unsrer nationalen Schwäche
überlassen dürften?

Die vor einem Jahre einander die Hände reichten, waren ja keine Kinder.
Sie wußten, daß jede Vereinigung zu gemeinsamem Handeln von jedem Teil¬
nehmer einen gewissen Verzicht fordert; das ist der Einsatz für den Anteil am
gemeinsamen Gewinne. Aber es scheint, daß jeder einen Löwenvertrag schließen
wollte, und erzürnt ist, weil der Verbündete nicht allein auf dem einen bedrohten
Punkte Hilfe leihen, sondern auch auf dem andern Hilfe haben will, die mög¬
licherweise ein Opfer kostet.

Der Fall von Siegen verstimmt die äußerste Rechte, und das ist begreiflich.
Hofprediger Stöcker ist in der Partei hoch angesehen, und sie will gerade den
dem Judentum und seiner freisinnigen Gefolgschaft am meisten verhaßten Mann
nicht missen. Auch wir würden solchen Triumph den Internationalen ungern
gönnen. Aber um wie viel größer ist der Triumph, wenn um Stöckers willen




Lernen wir?

u den besten Tagen in dem politischen Leben Deutschlands, seit¬
dem dieses ein Reich ist und eine Volksvertretung besitzt, ge¬
hört unstreitig der des Zusammenschlusses der nationalen Par¬
teien gegen alles, was fremden Leitsternen folgt, mögen diese in
Rom oder Paris, in London oder Jerusalem funkeln. Da sah
man wieder einmal den deutschen Michel die schwerfälligen Glieder recken und
allerlei Gezücht von sich abschütteln, das nur allzulange mit dem trägen Riesen
hatte sein Spiel treiben dürfen. Eine wie gute That er gethan hatte, das mußte
ihm vor allem das Zedern und Geifern derer beweisen, die dabei unsanft auf
den Boden gesetzt worden waren, und die verblüffte Miene aller, die schon wieder
auf die unheilbare Uneinigkeit der Deutschen gerechnet hatten. Und frisch atmete
der Vaterlandsfreund auf nach Zeiten der bangen Sorge und der tiefen Be¬
schämung durch das Schauspiel, welches gegenüber der Haltung andrer Parla¬
mente das deutsche geboten hatte. Eine Folge schwerster Ereignisse hatte jenes
rasche Aufleuchten deutscher Gesinnung, das einen freudigen Schein auf die letzte
Lebenszeit des greisen Kaisers warf, fast aus unserm Gedächtnisse verwischt.
Soll es uns nun durch sein eben so rasches Erlöschen in Erinnerung gebracht
werden? Sind denn die Gefahren, welche damals zum Zusammenhalten mahnten,
für alle Zeit gebannt, daß wir uns ungestraft wieder unsrer nationalen Schwäche
überlassen dürften?

Die vor einem Jahre einander die Hände reichten, waren ja keine Kinder.
Sie wußten, daß jede Vereinigung zu gemeinsamem Handeln von jedem Teil¬
nehmer einen gewissen Verzicht fordert; das ist der Einsatz für den Anteil am
gemeinsamen Gewinne. Aber es scheint, daß jeder einen Löwenvertrag schließen
wollte, und erzürnt ist, weil der Verbündete nicht allein auf dem einen bedrohten
Punkte Hilfe leihen, sondern auch auf dem andern Hilfe haben will, die mög¬
licherweise ein Opfer kostet.

Der Fall von Siegen verstimmt die äußerste Rechte, und das ist begreiflich.
Hofprediger Stöcker ist in der Partei hoch angesehen, und sie will gerade den
dem Judentum und seiner freisinnigen Gefolgschaft am meisten verhaßten Mann
nicht missen. Auch wir würden solchen Triumph den Internationalen ungern
gönnen. Aber um wie viel größer ist der Triumph, wenn um Stöckers willen


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[0331] [Abbildung] Lernen wir? u den besten Tagen in dem politischen Leben Deutschlands, seit¬ dem dieses ein Reich ist und eine Volksvertretung besitzt, ge¬ hört unstreitig der des Zusammenschlusses der nationalen Par¬ teien gegen alles, was fremden Leitsternen folgt, mögen diese in Rom oder Paris, in London oder Jerusalem funkeln. Da sah man wieder einmal den deutschen Michel die schwerfälligen Glieder recken und allerlei Gezücht von sich abschütteln, das nur allzulange mit dem trägen Riesen hatte sein Spiel treiben dürfen. Eine wie gute That er gethan hatte, das mußte ihm vor allem das Zedern und Geifern derer beweisen, die dabei unsanft auf den Boden gesetzt worden waren, und die verblüffte Miene aller, die schon wieder auf die unheilbare Uneinigkeit der Deutschen gerechnet hatten. Und frisch atmete der Vaterlandsfreund auf nach Zeiten der bangen Sorge und der tiefen Be¬ schämung durch das Schauspiel, welches gegenüber der Haltung andrer Parla¬ mente das deutsche geboten hatte. Eine Folge schwerster Ereignisse hatte jenes rasche Aufleuchten deutscher Gesinnung, das einen freudigen Schein auf die letzte Lebenszeit des greisen Kaisers warf, fast aus unserm Gedächtnisse verwischt. Soll es uns nun durch sein eben so rasches Erlöschen in Erinnerung gebracht werden? Sind denn die Gefahren, welche damals zum Zusammenhalten mahnten, für alle Zeit gebannt, daß wir uns ungestraft wieder unsrer nationalen Schwäche überlassen dürften? Die vor einem Jahre einander die Hände reichten, waren ja keine Kinder. Sie wußten, daß jede Vereinigung zu gemeinsamem Handeln von jedem Teil¬ nehmer einen gewissen Verzicht fordert; das ist der Einsatz für den Anteil am gemeinsamen Gewinne. Aber es scheint, daß jeder einen Löwenvertrag schließen wollte, und erzürnt ist, weil der Verbündete nicht allein auf dem einen bedrohten Punkte Hilfe leihen, sondern auch auf dem andern Hilfe haben will, die mög¬ licherweise ein Opfer kostet. Der Fall von Siegen verstimmt die äußerste Rechte, und das ist begreiflich. Hofprediger Stöcker ist in der Partei hoch angesehen, und sie will gerade den dem Judentum und seiner freisinnigen Gefolgschaft am meisten verhaßten Mann nicht missen. Auch wir würden solchen Triumph den Internationalen ungern gönnen. Aber um wie viel größer ist der Triumph, wenn um Stöckers willen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_289122/331>, abgerufen am 03.07.2024.