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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Drittes Vierteljahr.

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Aonrad Ferdinand Meyers Gedichte.

Jenatsch" erinnern. Reflexion wird man in diesen Naturbildern wenig finden,
und wenn sich ja eine findet, ist sie meistens nicht sonderlich gelungen. Die
reflektirende Dichtung widerstrebt eben dem ganzen Wesen Meyers. Prächtige
Naturbilder finden sich übrigens auch in der Abteilung "Stunde." Hier ein
kleines, überschrieben "Vor der Ernte."


[Beginn Spaltensatz] An wolkcnreinem Himmel geht
Die blanke Sichel schön,
Im Korne drunter wogt und weht
Und rauscht und wühlt der Föhn. [Spaltenumbruch] Sie wandert voller Melodie
Hochübcr durch das Land,
Früh morgen schwingt die Schnitt'rin sie
Mit sonnenbrauner Hand. [Ende Spaltensatz]

Ich habe schon die Originalität der Motive Meyers erwähnt. Hier will
ich noch einen damit zusammenhängenden Punkt kurz berühren. Der Dichter
macht es sich meistens zu einer besondern Aufgabe, seine Motive sorgfältig aus¬
zugestalten, sodaß sie oft nicht mehr rein lyrisch sind, sondern von einer berech¬
neten, völlig dramatischen Wirkung werden. Die Unmittelbarkeit des lyrischen
Motivs finden wir bei Meyer selten.

In den meisten Fällen ist er zu dieser Darstellung auf einer ganzen
Stufenleiter der Entwicklung seines Motivs gelangt. Dieses bewußte Aus¬
bilden ließe sich auch rein äußerlich an den einzelnen Auflagen seiner Gedichte
verfolgen. Eines der merkwürdigsten Beispiele dafür dürfte die schon erwähnte
Ballade "Michelangelo" sein, die in einer frühern Auflage eine ganz andre
Gestalt hatte.

Meyers Motive sind stets von einem gesunden Realismus durchdrungen,
ohne jede Überschwünglichkeit, aber zart in der Darstellung alles Menschlichen.
Nie kommt er zu einem verkehrten Naturalismus. Als Beispiel seines feinsinnig
durchgebildeten Realismus teile ich zum Schluß noch das herrliche Gedicht
"Am Himmelsthor" mit:


[Beginn Spaltensatz] Mir triiumt', ich komm' ans Himmelsthor
Und finde dich, die Süße!
Du saßest bei dem Quell davor
Und wuschest dir die Füße. [Spaltenumbruch] Du wuschest, wuschest ohne Rast
Den blendend weißen Schimmer,
Begannst mit wunderlicher Hast
Dein Werk von neuem immer. [Ende Spaltensatz]
Ich frug: Was habest du dich hier
Mit thränennassen Wangen?
Du sprachst: Weil ich im Staub mit dir,
So tief im Staub gegangen.



Aonrad Ferdinand Meyers Gedichte.

Jenatsch" erinnern. Reflexion wird man in diesen Naturbildern wenig finden,
und wenn sich ja eine findet, ist sie meistens nicht sonderlich gelungen. Die
reflektirende Dichtung widerstrebt eben dem ganzen Wesen Meyers. Prächtige
Naturbilder finden sich übrigens auch in der Abteilung „Stunde." Hier ein
kleines, überschrieben „Vor der Ernte."


[Beginn Spaltensatz] An wolkcnreinem Himmel geht
Die blanke Sichel schön,
Im Korne drunter wogt und weht
Und rauscht und wühlt der Föhn. [Spaltenumbruch] Sie wandert voller Melodie
Hochübcr durch das Land,
Früh morgen schwingt die Schnitt'rin sie
Mit sonnenbrauner Hand. [Ende Spaltensatz]

Ich habe schon die Originalität der Motive Meyers erwähnt. Hier will
ich noch einen damit zusammenhängenden Punkt kurz berühren. Der Dichter
macht es sich meistens zu einer besondern Aufgabe, seine Motive sorgfältig aus¬
zugestalten, sodaß sie oft nicht mehr rein lyrisch sind, sondern von einer berech¬
neten, völlig dramatischen Wirkung werden. Die Unmittelbarkeit des lyrischen
Motivs finden wir bei Meyer selten.

In den meisten Fällen ist er zu dieser Darstellung auf einer ganzen
Stufenleiter der Entwicklung seines Motivs gelangt. Dieses bewußte Aus¬
bilden ließe sich auch rein äußerlich an den einzelnen Auflagen seiner Gedichte
verfolgen. Eines der merkwürdigsten Beispiele dafür dürfte die schon erwähnte
Ballade „Michelangelo" sein, die in einer frühern Auflage eine ganz andre
Gestalt hatte.

Meyers Motive sind stets von einem gesunden Realismus durchdrungen,
ohne jede Überschwünglichkeit, aber zart in der Darstellung alles Menschlichen.
Nie kommt er zu einem verkehrten Naturalismus. Als Beispiel seines feinsinnig
durchgebildeten Realismus teile ich zum Schluß noch das herrliche Gedicht
„Am Himmelsthor" mit:


[Beginn Spaltensatz] Mir triiumt', ich komm' ans Himmelsthor
Und finde dich, die Süße!
Du saßest bei dem Quell davor
Und wuschest dir die Füße. [Spaltenumbruch] Du wuschest, wuschest ohne Rast
Den blendend weißen Schimmer,
Begannst mit wunderlicher Hast
Dein Werk von neuem immer. [Ende Spaltensatz]
Ich frug: Was habest du dich hier
Mit thränennassen Wangen?
Du sprachst: Weil ich im Staub mit dir,
So tief im Staub gegangen.



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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_289122/330>, abgerufen am 03.07.2024.