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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Drittes Vierteljahr.

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Ronrad Ferdinand Meyers Gedichte.

Eigentliche Liebeslieder finden sich bei Meyer wenig, dafür aber wunder¬
bar gedankenreiche Dichtungen, die das Wesen der Liebe tief in sich tragen.
Wenn daher Meyer vor die Abteilung seiner Gedichte, die er ,,Liebe" über¬
schreibt, die Zeilen setzt:


In diesen Liedern suche du
Nach keinem ernsten Ziel!
Ein wenig Schmerz, ein wenig Lust,
Und alles war ein Spiel --

so bin ich gar nicht damit einverstanden. Meyer ist nicht tändelnd leicht, nein,
im Gegenteil tief empfindend von der sonnenklarsten Reinheit glücklicher Liebe
bis zu der düstersten Tragik des Elends. Ich setze als Beispiel das herrliche
Gedicht ,.Einer Toten" vollständig hierher:


Wie fühl' ich heute deine Macht,
Als ob sich deine Wimper schatte
Vor mir auf diesem ampelhellen Blatte
Um Mitternacht!
Dein Auge sieht
Begierig mein entstehend Lied.
Dein Wesen neigt sich meinem zu,
Du dises! Doch deine Lippen schweigen,
Und liesest du ein Wort, das zart und eigen,
Bists wieder du,
Dein Herzensblut,
Indes dein Staub im Grabe ruht.
Mir ist, wenn mich dein Atem streift,
Der ich erstarkt an Kampf und Wunden,
Als seist in deinen stillen Grabesstunden
Auch du gereift
An Liebeskraft,
An Willen und an Leidenschaft.
Die Marmorurne setzten dir
Die Deinen -- um dich zu vergessen,
Sie erbten, bauten, freiem unterdessen,
Du lebst in mir!
Wozu beweint?
Du lebst und fühlst mit mir vereint!

Die ersten Strophen sehen sich an wie ein Gabriel Max. Aber ein gespensterischer
Schluß wäre dem ganzen Wesen Meyers zuwider. Die helle Lust des Lebens
spricht aus der letzten Strophe.

Echt volkstümliche Elemente enthält die Abteilung "In den Bergen,"
namentlich schöne Naturbilder aus der Schweiz, die in ihrer mehr epischen
Beschaffenheit vielfach an ähnliche Partien im ersten Teile von Meyers "Jörg


Grenzboten III. 1338. 41
Ronrad Ferdinand Meyers Gedichte.

Eigentliche Liebeslieder finden sich bei Meyer wenig, dafür aber wunder¬
bar gedankenreiche Dichtungen, die das Wesen der Liebe tief in sich tragen.
Wenn daher Meyer vor die Abteilung seiner Gedichte, die er ,,Liebe" über¬
schreibt, die Zeilen setzt:


In diesen Liedern suche du
Nach keinem ernsten Ziel!
Ein wenig Schmerz, ein wenig Lust,
Und alles war ein Spiel —

so bin ich gar nicht damit einverstanden. Meyer ist nicht tändelnd leicht, nein,
im Gegenteil tief empfindend von der sonnenklarsten Reinheit glücklicher Liebe
bis zu der düstersten Tragik des Elends. Ich setze als Beispiel das herrliche
Gedicht ,.Einer Toten" vollständig hierher:


Wie fühl' ich heute deine Macht,
Als ob sich deine Wimper schatte
Vor mir auf diesem ampelhellen Blatte
Um Mitternacht!
Dein Auge sieht
Begierig mein entstehend Lied.
Dein Wesen neigt sich meinem zu,
Du dises! Doch deine Lippen schweigen,
Und liesest du ein Wort, das zart und eigen,
Bists wieder du,
Dein Herzensblut,
Indes dein Staub im Grabe ruht.
Mir ist, wenn mich dein Atem streift,
Der ich erstarkt an Kampf und Wunden,
Als seist in deinen stillen Grabesstunden
Auch du gereift
An Liebeskraft,
An Willen und an Leidenschaft.
Die Marmorurne setzten dir
Die Deinen — um dich zu vergessen,
Sie erbten, bauten, freiem unterdessen,
Du lebst in mir!
Wozu beweint?
Du lebst und fühlst mit mir vereint!

Die ersten Strophen sehen sich an wie ein Gabriel Max. Aber ein gespensterischer
Schluß wäre dem ganzen Wesen Meyers zuwider. Die helle Lust des Lebens
spricht aus der letzten Strophe.

Echt volkstümliche Elemente enthält die Abteilung „In den Bergen,"
namentlich schöne Naturbilder aus der Schweiz, die in ihrer mehr epischen
Beschaffenheit vielfach an ähnliche Partien im ersten Teile von Meyers „Jörg


Grenzboten III. 1338. 41
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[0329] Ronrad Ferdinand Meyers Gedichte. Eigentliche Liebeslieder finden sich bei Meyer wenig, dafür aber wunder¬ bar gedankenreiche Dichtungen, die das Wesen der Liebe tief in sich tragen. Wenn daher Meyer vor die Abteilung seiner Gedichte, die er ,,Liebe" über¬ schreibt, die Zeilen setzt: In diesen Liedern suche du Nach keinem ernsten Ziel! Ein wenig Schmerz, ein wenig Lust, Und alles war ein Spiel — so bin ich gar nicht damit einverstanden. Meyer ist nicht tändelnd leicht, nein, im Gegenteil tief empfindend von der sonnenklarsten Reinheit glücklicher Liebe bis zu der düstersten Tragik des Elends. Ich setze als Beispiel das herrliche Gedicht ,.Einer Toten" vollständig hierher: Wie fühl' ich heute deine Macht, Als ob sich deine Wimper schatte Vor mir auf diesem ampelhellen Blatte Um Mitternacht! Dein Auge sieht Begierig mein entstehend Lied. Dein Wesen neigt sich meinem zu, Du dises! Doch deine Lippen schweigen, Und liesest du ein Wort, das zart und eigen, Bists wieder du, Dein Herzensblut, Indes dein Staub im Grabe ruht. Mir ist, wenn mich dein Atem streift, Der ich erstarkt an Kampf und Wunden, Als seist in deinen stillen Grabesstunden Auch du gereift An Liebeskraft, An Willen und an Leidenschaft. Die Marmorurne setzten dir Die Deinen — um dich zu vergessen, Sie erbten, bauten, freiem unterdessen, Du lebst in mir! Wozu beweint? Du lebst und fühlst mit mir vereint! Die ersten Strophen sehen sich an wie ein Gabriel Max. Aber ein gespensterischer Schluß wäre dem ganzen Wesen Meyers zuwider. Die helle Lust des Lebens spricht aus der letzten Strophe. Echt volkstümliche Elemente enthält die Abteilung „In den Bergen," namentlich schöne Naturbilder aus der Schweiz, die in ihrer mehr epischen Beschaffenheit vielfach an ähnliche Partien im ersten Teile von Meyers „Jörg Grenzboten III. 1338. 41

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_289122/329>, abgerufen am 22.07.2024.