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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Drittes Vierteljahr.

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Erinnerungen aus Alt-Jena.

holt. Es ist bekannt, wie infolge dessen die so lange Zeit zurückgedrängten
nationalen und freiheitlichen Wünsche mit unwiderstehlicher Gewalt erwachten
und sich fast überall in siegreiche Forderungen umsetzten. In dem kleinen Staate
Weimar erging es nicht anders; das altkonservative Ministerium Schweizer
wurde durch eine unblutige Revolution gestürzt, und der populäre Führer der
Opposition im Landtage, der Eisenacher Advokat von Wydenbruch, bildete mit
dem Herrn von Watzdorf, der vor mehreren Jahren von Dresden her in das
weimarische Ministerium gerufen worden war und sich beliebt gemacht hatte,
die neue Regierung. Auch eine Anzahl Jenaer Burschenschafter wirkten bei
diesem Vorgange mit. Der regierende Großherzog Karl Friedrich, Karl Augusts
Sohn und Nachfolger, hatte sich den an ihn gebrachten Zumutungen nicht
widersetzt und mit Anstand geschehen lassen, was er ohnedies nicht ändern konnte.
Er war kein hervorragend begabter Fürst, aber ein vollkommener Ehrenmann,
ein biederer Charakter, und aus diesem Grunde hatten auch die ärgsten Schreier
die UnPopularität des gestürzten Systems ihn persönlich niemals entgelten lassen.
Überhaupt stand die gesamte großherzogliche Familie in hoher Achtung; die Ge¬
mahlin des Großherzogs, die Großfürstin Maria Paulowna, die Schwester der
Zaren Alexander I. und Nikolaus I., eine geistig wirklich bedeutende Frau, er¬
freute sich verdientermaßen allgemeiner Verehrung; eine wahre Landesmutter,
stellte sie sich an die Spitze aller wohlthätigen Anstalten und war in ihrer
Großsinnigkeit überall schützend und hilfebringend zur Hand.

In Jena entwickelten sich, wie anderswo, die Wirkungen des eingetretenen
allgemeinen Umschwunges schnell, die alte Gesellschaft löste sich, je nach dem
ergriffenen Parteistandpunkte, in verschiedne Gruppen auf. Der demokratischen,
ja radikalen Anschauung fehlte es nicht an Vertretern, und der "Philister" ließ
sich, ohne sich etwas Schlimmes dabei zu denken, zum Teile weit genug mit fort¬
reißen. Die Saat der politischen Unreife, die durch das alte System grund¬
sätzlich groß gezogen worden war, ging nun wuchernd und hundertfältig auf.
Obenan unter den Führern der demokratischen Partei stand ein Mann, der seit
Jahren der Hochschule wie dem in Jena stationirten höchsten Gerichte der thü¬
ringischen Herzogtümer zugleich angehörte und allerdings mit seiner Denkungs-
weise schon vorher nicht zurückgehalten hatte: G. Chr. Schüler. Im Privatleben
durchaus ehrenhaft, schlug er jetzt sogleich einen extremen Ton an. Im Vor¬
parlament zu Frankfurt, wohin er geeilt war, stimmte er bereits für die un¬
verständigsten Anträge; in die Nationalversammlung gewählt, nahm er seinen
Platz auf der Linken, die seine Eigenschaft als Mitglied eines so angesehenen
Gerichtshofes wohl zu würdigen wußte; er hat dann unbekehrt bis zuletzt aus¬
gehalten. Nach der Niederlage des Rumpfparlaments in Stuttgart kehrte er
in die Heimat zurück und trat in den weimarischen Landtag ein, wo er seiner
radikalen Haltung treu blieb, bis endlich die Verweigerung des Urlaubs seinem
inhaltslosen, wenn auch gut gemeinten Thun ein Ziel setzte.


Erinnerungen aus Alt-Jena.

holt. Es ist bekannt, wie infolge dessen die so lange Zeit zurückgedrängten
nationalen und freiheitlichen Wünsche mit unwiderstehlicher Gewalt erwachten
und sich fast überall in siegreiche Forderungen umsetzten. In dem kleinen Staate
Weimar erging es nicht anders; das altkonservative Ministerium Schweizer
wurde durch eine unblutige Revolution gestürzt, und der populäre Führer der
Opposition im Landtage, der Eisenacher Advokat von Wydenbruch, bildete mit
dem Herrn von Watzdorf, der vor mehreren Jahren von Dresden her in das
weimarische Ministerium gerufen worden war und sich beliebt gemacht hatte,
die neue Regierung. Auch eine Anzahl Jenaer Burschenschafter wirkten bei
diesem Vorgange mit. Der regierende Großherzog Karl Friedrich, Karl Augusts
Sohn und Nachfolger, hatte sich den an ihn gebrachten Zumutungen nicht
widersetzt und mit Anstand geschehen lassen, was er ohnedies nicht ändern konnte.
Er war kein hervorragend begabter Fürst, aber ein vollkommener Ehrenmann,
ein biederer Charakter, und aus diesem Grunde hatten auch die ärgsten Schreier
die UnPopularität des gestürzten Systems ihn persönlich niemals entgelten lassen.
Überhaupt stand die gesamte großherzogliche Familie in hoher Achtung; die Ge¬
mahlin des Großherzogs, die Großfürstin Maria Paulowna, die Schwester der
Zaren Alexander I. und Nikolaus I., eine geistig wirklich bedeutende Frau, er¬
freute sich verdientermaßen allgemeiner Verehrung; eine wahre Landesmutter,
stellte sie sich an die Spitze aller wohlthätigen Anstalten und war in ihrer
Großsinnigkeit überall schützend und hilfebringend zur Hand.

In Jena entwickelten sich, wie anderswo, die Wirkungen des eingetretenen
allgemeinen Umschwunges schnell, die alte Gesellschaft löste sich, je nach dem
ergriffenen Parteistandpunkte, in verschiedne Gruppen auf. Der demokratischen,
ja radikalen Anschauung fehlte es nicht an Vertretern, und der „Philister" ließ
sich, ohne sich etwas Schlimmes dabei zu denken, zum Teile weit genug mit fort¬
reißen. Die Saat der politischen Unreife, die durch das alte System grund¬
sätzlich groß gezogen worden war, ging nun wuchernd und hundertfältig auf.
Obenan unter den Führern der demokratischen Partei stand ein Mann, der seit
Jahren der Hochschule wie dem in Jena stationirten höchsten Gerichte der thü¬
ringischen Herzogtümer zugleich angehörte und allerdings mit seiner Denkungs-
weise schon vorher nicht zurückgehalten hatte: G. Chr. Schüler. Im Privatleben
durchaus ehrenhaft, schlug er jetzt sogleich einen extremen Ton an. Im Vor¬
parlament zu Frankfurt, wohin er geeilt war, stimmte er bereits für die un¬
verständigsten Anträge; in die Nationalversammlung gewählt, nahm er seinen
Platz auf der Linken, die seine Eigenschaft als Mitglied eines so angesehenen
Gerichtshofes wohl zu würdigen wußte; er hat dann unbekehrt bis zuletzt aus¬
gehalten. Nach der Niederlage des Rumpfparlaments in Stuttgart kehrte er
in die Heimat zurück und trat in den weimarischen Landtag ein, wo er seiner
radikalen Haltung treu blieb, bis endlich die Verweigerung des Urlaubs seinem
inhaltslosen, wenn auch gut gemeinten Thun ein Ziel setzte.


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[0322] Erinnerungen aus Alt-Jena. holt. Es ist bekannt, wie infolge dessen die so lange Zeit zurückgedrängten nationalen und freiheitlichen Wünsche mit unwiderstehlicher Gewalt erwachten und sich fast überall in siegreiche Forderungen umsetzten. In dem kleinen Staate Weimar erging es nicht anders; das altkonservative Ministerium Schweizer wurde durch eine unblutige Revolution gestürzt, und der populäre Führer der Opposition im Landtage, der Eisenacher Advokat von Wydenbruch, bildete mit dem Herrn von Watzdorf, der vor mehreren Jahren von Dresden her in das weimarische Ministerium gerufen worden war und sich beliebt gemacht hatte, die neue Regierung. Auch eine Anzahl Jenaer Burschenschafter wirkten bei diesem Vorgange mit. Der regierende Großherzog Karl Friedrich, Karl Augusts Sohn und Nachfolger, hatte sich den an ihn gebrachten Zumutungen nicht widersetzt und mit Anstand geschehen lassen, was er ohnedies nicht ändern konnte. Er war kein hervorragend begabter Fürst, aber ein vollkommener Ehrenmann, ein biederer Charakter, und aus diesem Grunde hatten auch die ärgsten Schreier die UnPopularität des gestürzten Systems ihn persönlich niemals entgelten lassen. Überhaupt stand die gesamte großherzogliche Familie in hoher Achtung; die Ge¬ mahlin des Großherzogs, die Großfürstin Maria Paulowna, die Schwester der Zaren Alexander I. und Nikolaus I., eine geistig wirklich bedeutende Frau, er¬ freute sich verdientermaßen allgemeiner Verehrung; eine wahre Landesmutter, stellte sie sich an die Spitze aller wohlthätigen Anstalten und war in ihrer Großsinnigkeit überall schützend und hilfebringend zur Hand. In Jena entwickelten sich, wie anderswo, die Wirkungen des eingetretenen allgemeinen Umschwunges schnell, die alte Gesellschaft löste sich, je nach dem ergriffenen Parteistandpunkte, in verschiedne Gruppen auf. Der demokratischen, ja radikalen Anschauung fehlte es nicht an Vertretern, und der „Philister" ließ sich, ohne sich etwas Schlimmes dabei zu denken, zum Teile weit genug mit fort¬ reißen. Die Saat der politischen Unreife, die durch das alte System grund¬ sätzlich groß gezogen worden war, ging nun wuchernd und hundertfältig auf. Obenan unter den Führern der demokratischen Partei stand ein Mann, der seit Jahren der Hochschule wie dem in Jena stationirten höchsten Gerichte der thü¬ ringischen Herzogtümer zugleich angehörte und allerdings mit seiner Denkungs- weise schon vorher nicht zurückgehalten hatte: G. Chr. Schüler. Im Privatleben durchaus ehrenhaft, schlug er jetzt sogleich einen extremen Ton an. Im Vor¬ parlament zu Frankfurt, wohin er geeilt war, stimmte er bereits für die un¬ verständigsten Anträge; in die Nationalversammlung gewählt, nahm er seinen Platz auf der Linken, die seine Eigenschaft als Mitglied eines so angesehenen Gerichtshofes wohl zu würdigen wußte; er hat dann unbekehrt bis zuletzt aus¬ gehalten. Nach der Niederlage des Rumpfparlaments in Stuttgart kehrte er in die Heimat zurück und trat in den weimarischen Landtag ein, wo er seiner radikalen Haltung treu blieb, bis endlich die Verweigerung des Urlaubs seinem inhaltslosen, wenn auch gut gemeinten Thun ein Ziel setzte.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_289122/322>, abgerufen am 24.08.2024.